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ESSGEWOHNHEITEN
Viele Menschen in unserer heutigen Mediengesellschaft haben solide Kenntnisse über gesunde Ernährung. Dennoch weicht das tatsächliche Essverhalten hiervon oft signifikant ab. Das fängt schon bei der Frage an, ob und wie viel wir essen.
„Regel Nr. 1 für achtsame Ernährung: Essen Sie nur, wenn Sie hungrig sind, und hören Sie auf, wenn Sie satt sind.“
Diese Regel klingt plausibel und einfach, dennoch halten sich die wenigsten daran. Woran liegt das? Das Hungergefühl ist ein natürliches Startsignal, das zeigt, dass der Körper die vorherige Mahlzeit vollständig verdaut hat und bereit ist, wieder Nahrung aufzunehmen und zu verarbeiten. Das Gehirn interpretiert »Ich bin satt«, wenn der Magen signalisiert »Ich bin voll«. Das tut er, wenn die Magenwand ausreichend gedehnt ist, was in der Regel 15 bis 20 Minuten dauert. Dann werden im Gehirn Botenstoffe aktiviert, die die Nahrungsaufnahme hemmen.
Unser Körper sendet uns also alle Informationen, die wir brauchen, um zu wissen, ob wir Hunger haben oder satt sind. Dennoch beachten wir diese Signale oft nicht und essen, obwohl wir gar keinen Hunger haben, oder essen weiter, obwohl wir schon satt sind. Das liegt unter anderem daran, dass unser Essverhalten von Faktoren beeinflusst wird, die uns gar nicht bewusst sind. Denn die Nahrungsaufnahme ist in den meisten Fällen keine wirklich bewusste Entscheidung.
Die Entwicklung unseres Essverhaltens
Als Säuglinge machen wir noch alles richtig, denn da regieren uns ausschließlich die inneren Reize, die wir auch vollständig spüren. Wir haben Hunger oder Durst und können das sehr deutlich zum Ausdruck bringen. Wir hören in diesem Lebensalter auch noch instinktiv auf zu essen, wenn wir satt sind. Im Kindesalter sind dann vor allem die Essgewohnheiten der Eltern entscheidend, die das Kind meist später im eigenen Haushalt beibehält. Das heißt, wenn der Vater morgens auf die Schnelle eine Tasse Kaffee heruntergießt, während er quasi schon aus der Tür ist, wird das Frühstück auch für die Kinder meist keinen großen Stellenwert haben.
Kürzlich hat mein siebenjähriger Sohn seinen Freunden Biomandarinen als Snack angeboten. Der eine sagte: »Aber nicht zu viele. Meine Mutter sagt, von Mandarinen bekommt man Nasenbluten.« Der andere Freund war ebenfalls vorsichtig: »Meine Mutter hält nichts von bio.« Es war interessant zu beobachten, was die kleinen Kerle unmittelbar mit dem Produkt assoziiert haben. Gegessen haben sie dann trotzdem ein ganzes Kilo.
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Eine Sache der Gefühle
Tatsächlich ist unsere Nahrungsaufnahme immer von Gefühlen begleitet. Das kann zum Beispiel Freude vor einem bestimmten Essen sein, mit dem wir etwas Angenehmes verbinden. Es gibt Speisen, die wir gern essen, weil sie zu unserem Kulturkreis gehören und Heimatgefühle in uns auslösen. Mir fällt dazu ein Handkäs mit Musik (siehe hier) an einem warmen Sommerabend in einer urigen Apfelweinkneipe ein. Ähnlich verhält es sich mit dem Lieblingsgericht während unserer Kindheit, das nur von Mama zubereitet besonders lecker war. Ich habe mich während meiner Schulzeit immer riesig gefreut, wenn es mittags Königsberger Klopse (siehe hier) gab, und ich verbinde heute damit immer noch (wenn auch in vegetarischer Form) ein ganz wohliges Gefühl. Dazu kommen Rituale und Vorlieben, die uns von der Familie, den Freunden, der Werbung oder von Menschen vorgelebt werden, die wir bewundern oder die uns auf andere Weise beeinflussen.
Mit fortschreitendem Lebensalter werden Reize außerhalb der Familie wichtiger. Für Jugendliche sind auf Neudeutsch die Peers entscheidend, deren Verhalten gern kopiert wird. Im Erwachsenenalter wird die Nahrungsaufnahme zunehmend von rationalen Erwägungen beeinflusst, wenn man beispielsweise aus Tierliebe auf Fleisch verzichtet.
Daneben gibt es Situationen, mit denen wir automatisch Essen oder Trinken verbinden: ein Glas Wein bei Sonnenuntergang am Meer, ein Glas Pimm’s (siehe hier) an einem lauen Sommerabend im Tennisclub oder Kaffee und ein Stückchen Hessische Apfelweintorte (siehe hier) am Sonntagnachmittag bei Oma. Schon die wohlige Erinnerung an die schönen Augenblicke beim letzten Mal kann dazu führen, dass wir die gleichen Speisen in der gleichen Situation wieder konsumieren wollen, unabhängig davon, ob wir tatsächlich Hunger haben.
„Wenn du merkst, du hast gegessen, hast du schon zu viel gegessen.“
Sebastian Kneipp (1821–1897)
Essen kann ein Ventil sein
Essen kann auch andere Funktionen haben, die mit Sättigung zunächst nichts zu tun haben. So können durch den Konsum hochpreisiger Lebensmittel in der Öffentlichkeit Signale gesendet werden, mit denen man einen hohen Lebensstandard betonen möchte. Ein Familienpicknick in der Natur oder ein gemeinsames Grillen im Sommer kann der Freizeitgestaltung dienen. Oder wir versuchen durch Essen nicht unseren Hunger zu stillen, sondern Gefühle wie beispielsweise Langeweile, Traurigkeit, mangelnde Zuneigung, fehlende Liebe oder auch Einsamkeit zu kompensieren. Wenn Kinder regelmäßig zum Trost oder zur Belohnung Gummibärchen oder Schokolade bekommen, dann ist es wahrscheinlich, dass Süßigkeiten auch weiterhin diese Trost- oder Belohnungsfunktion übernehmen.
Ein weiterer Faktor, warum wir zu Essen greifen, kann allein das aktuelle Angebot sein. Stehen während einer geschäftlichen Besprechung Kekse auf dem Tisch, greifen wir zu, ohne eigentlich hungrig zu sein; einfach nur, weil sie halt dastehen. Gleiches gilt, wenn ein Gastgeber nach einem reichhaltigen Essen im Laufe des Abends Chips oder Nüsse auf den Tisch stellt. Die gehen immer weg, egal wie satt alle sind. Werden uns größere Portionen angeboten, essen wir auch automatisch mehr. Das wird in Fast-Food-Restaurants dadurch gefördert, dass das größere Menü auch wirtschaftlich attraktiver ist.
Weil wir’s immer so machen
Schließlich spielt die eigene Gewohnheit eine wichtige Rolle. Der Kaffee, den viele von uns glauben zu brauchen, um morgens in Gang zu kommen, ist ein Beispiel dafür. Die Gewohnheit führt sogar dazu, dass wir trotz anfänglicher Abneigung einen Wohlgeschmack für dieses Lebensmittel entwickeln können, wenn wir es über einen längeren Zeitraum verzehren. Ich selbst dachte, meine vorzugsweise vegane Ernährung würde am Kuhmilchersatz für meinen morgendlichen Kaffee scheitern. Ich habe jahrelang täglich Kaffee mit viel Milch getrunken. Als ich darauf verzichten wollte, habe ich alles Mögliche an Ersatzprodukten probiert (Sojamilch, Mandeldrink, Haferdrink, Reisdrink, gar keine Milch). Nichts hat geschmeckt. Weil ich die Umstellung unbedingt schaffen wollte, habe ich dann trotzdem die Sorte Sojamilch, die mir am wenigsten schlecht geschmeckt hat, jeden Tag weiter verwendet. Nach etwa acht Wochen fand ich sie dann erstaunlicherweise richtig lecker – bis heute. Kuhmilch dagegen kann ich gar nicht mehr trinken.
Wir sehen an all diesen Beispielen, dass es jede Menge Faktoren gibt, die uns zum Essen verführen, am wenigsten ist es unsere bewusste Entscheidung.
„Solange wir unserem physischen Körper gegenüber unbewusst und unsensibel sind, kann dieser Körper keine Harmonie mit unseren anderen Körpern herstellen.“
Osho (1931–1990)
Übernehmen Sie das Kommando
Der erste Schritt in Richtung achtsame Ernährung ist, sich die Faktoren, die uns persönlich antreiben, bewusst zu machen und der bewussten Entscheidung, ob, was und wie viel wir essen, wieder mehr Raum zu geben. Dazu müssen wir die Signale unseres Körpers wahrnehmen und den Automatismus, der uns bei der Nahrungsaufnahme oft begleitet, durchbrechen. Das kostet vielleicht etwas Überwindung, denn wir sind es in puncto Gesundheit gewohnt, externe Berater hinzuzuziehen und deren Meinung mehr zu vertrauen als unserer eigenen. Dabei ist Ihr Körper der Einzige, der den derzeitigen Zustand und Ihre individuellen Nahrungsbedürfnisse genau kennt. Da kommt kein Diagnostiker der Welt mit. Vertrauen Sie Ihrem Körper, hören Sie ihm zu und lernen Sie von ihm. Die folgende kleine Achtsamkeitsübung gibt dazu einen Einstieg. Lassen Sie sich Zeit damit, aber bleiben Sie beharrlich. Ihr Essverhalten hatte bis jetzt ein bestimmtes Muster, das man nicht von heute auf morgen auflösen kann. Jeder, der schon mal eine Diät gemacht hat, weiß, wie schwierig es ist, alte Essgewohnheiten zu ändern. Und wenn wir mal beschlossen haben, ein Stück Schokolade zu essen – egal warum –, dann wollen wir es auch haben. Seien Sie geduldig. Es braucht ein bisschen Zeit und vor allem regelmäßige Übung, bis Sie die Signale Ihres Körpers wieder bewusst wahrnehmen und vor allem dann auch danach handeln.
ACHTSAMKEITSÜBUNG N°1
>>Auf die Signale des Körpers hören <<
Mit dieser ersten Achtsamkeitsübung versuchen wir, die Signale unseres Körpers wieder bewusst wahrzunehmen. Dazu müssen wir mit uns selbst in Kontakt treten und uns mit unserem Körper verbinden. Das mag absurd klingen, doch viele Menschen spüren ihren Körper nur noch, wenn er schmerzt. Klienten, denen ich diese Übung...