Eine kurze Einführung für die Leser der deutschen Übersetzung
Gefühle fühlen
» Ein Gefühl zu erleben bedeutet, es tatsächlich auch zu fühlen. Dies mag selbstverständlich klingen. Es ist aber wichtig in dieser Hinsicht keinerlei Missverständnisse aufkommen zu lassen. Denn wenn in der Psychotherapie auf Gefühle eingegangen wird, dann bedeutet dies sehr häufig nur, dass über Gefühle gesprochen wird, anstatt dass diese Affekte tatsächlich auch erlebt werden. Leider führt dies dann häufig dazu, dass der Therapeut gemeinsame Sache mit dem Intellektualisieren im Dienste der Abwehr macht und diese Abwehr dadurch stillschweigend verstärkt, anstatt den Patienten zu ermutigen, diese Abwehr aufzugeben. … Das tiefe Erleben eines Affekts umfasst nicht nur die Fähigkeit, einen Gefühlszustand in Worte zu fassen, sondern diesen auch körperlich zu empfinden und sich der damit verbundenen Handlungsimpulse bewusst zu werden (z. B. zu weinen, jmd. zu herzen, jmd. zu schlagen).« (Kuhn, 2014, S. 96-97)
Dieses Zitat von Nat Kuhn, einem der Autoren dieses Manuals, bringt das ganz Besondere der affektfokussierten psychodynamischen Psychotherapie (oder kurz Affekt-Phobie-Therapie, APT) auf den Punkt: Die Bedeutung des tatsächlichen Erlebens der Gefühle – hinsichtlich der Dimensionen der Vorstellung, des Handlungsimpulses und der körperlichen Empfindungen – für den therapeutischen Prozess im Gegensatz zum bloßen Darübersprechen (Intellektualisieren). Es stellt einen enormen Unterschied dar, ob ein Patient sagt, er sei wütend, oder ob er in der Lage ist, diese Wut innerlich voll zu erleben. Diese Schwerpunktsetzung auf das affektive Erleben findet sich so ausgearbeitet in kaum einem der auf Deutsch verfügbaren Psychotherapielehrbücher. Eine – allerdings kaum rezipierte – Ausnahme wird weiter unten noch erwähnt.
Kurz nach Erscheinen dieses Manuals im Jahr 2004 empfahl mir mein Freund und damaliger Kollege, Thomas Heidenreich, dieses Psychotherapielehrbuch als Antwort auf die typischen Schwierigkeiten in der Behandlung von Patienten mit einer Depersonalisations-Derealisationsstörung. Diese Patienten sind von dem, worüber sie sprechen, emotional weitestgehend abgetrennt. Diese emotionale Abgetrenntheit stellt ein umfassendes Vermeidungsverhalten dar, das jeden Behandlungsfortschritt blockiert. »Thinking without Feeling« war bezeichnenderweise der Titel einer Übersichtsarbeit zu den neurobiologischen Mechanismen dieser Störung (Phillips et al., 2001). Das nun auf Deutsch vorliegende Manual hatte mich damals sofort angesprochen, öffnete mir einen Zugang zu diesen und vielen anderen Patienten und eine neue Welt in der Psychotherapie. Bisher kannte ich derartige psychodynamische Ansätze nicht. Ich war vertraut mit der Methode des »Zentralen Beziehungskonfliktthemas« (ZBKT) von Lester Luborsky (Kächele, Grünzig, & Luborsky, 2013) oder dem Zyklisch Maladaptiven Beziehungszirkel von Strupp und Binder (Tress et al., 1996). Diese Ansätze waren hilfreich, die kognitive Seite der maladaptiven Mechanismen zu beschreiben, blendeten aber die Seite des emotionalen Erlebens weitestgehend aus.
Leigh McCullough zeigte mir hier eine völlig neue Perspektive: Das Konfliktdreieck, die Bedeutung der Affekte, die Unterscheidung adaptiver und maladaptiver Affekte, die systematische Bearbeitung der Abwehr, der kooperativ-partnerschaftliche Behandlungsstil, all das hatte ich nirgendwo sonst so stringent ausgearbeitet gesehen. Dieses Behandlungsmodell war nicht nur gut nachvollzieh- und vermittelbar, es hatte auch seine Wirksamkeit bewiesen. Im American Journal of Psychiatry wurde 2004 eine randomisierte kontrollierte Studie zur psychotherapeutischen Behandlung von Patienten mit »Cluster C Persönlichkeitsstörungen« veröffentlicht (Svartberg, Stiles, & Seltzer, 2004). Leigh McCulloughs Behandlungsmodell erwies sich als hochwirksam. Zwei Jahre nach dem Ende der 40-stündigen Behandlung wiesen 54 % im psychodynamischen und 42 % im verhaltenstherapeutischen Arm eine Remission der Persönlichkeitsstörung auf (Svartberg et al., 2004). In Metaanalysen zur Effektivität psychodynamischer Langzeittherapie trägt diese Studie einen substantiellen Anteil (Leichsenring & Rabung, 2008). Prozessstudien konnten mittlerweile auch zeigen, dass das emotionale Erleben und eine entsprechende Fokussierung wichtig für den Erfolg einer Behandlung sind (Coughlin, 2016; Diener, Hilsenroth, & Weinberger, 2007; Johansson, Town, & Abbass, 2014; Subic-Wrana et al., 2016).
Leigh McCullough bei der Arbeit zusehen
Einen sehr guten Eindruck von der Umsetzung dieses Manuals gibt ein Video, das Leigh McCullough bei der Arbeit zeigt. Dieses Video der AMERICAN PSYCHOLOGICAL ASSOCIATION wurde in der Reihe »Systems of Psychotherapy Video Series« unter dem Titel »Affect-Focused Dynamic Psychotherapy by Leigh McCullough« veröffentlicht (http://www.apa.org/pubs/videos). Es ist äußerst beeindruckend zu sehen, wie intensiv und überaus feinfühlig Leigh McCullough die Patientin mit ihren abgewehrten Gefühlen in Kontakt bringt, so dass sich sehr schnell die zentrale Problematik der Patientin herauskristallisiert. Im Kreis der Kollegen rief dieses Video allerdings polarisierende Reaktionen hervor. Die eine Hälfte war begeistert, die andere Hälfte erschrocken. Letztere fühlten sich von dem Vorgehen abgestoßen, weil der Patientin »so wenig Raum gegeben wurde« oder »man sich der Therapeutin gegenüber so nackt vorkam«. Diese Reaktionen der Kollegen kamen durch die hohe Aktivität der Psychotherapeutin zustande, die gezielt und beharrlich die Abwehr beziehungsweise das Vermeidungsverhalten der Patientin bearbeitete und es der Patientin dadurch ermöglichte, sich ihrer abgewehrten Gefühle bewusst zu werden. Interessanterweise kommentierte eine erfahrene verhaltenstherapeutische Kollegin das Video als eine »sehr gute verhaltenstherapeutische Sitzung«, was für mich nachdrücklich und nachhaltig den integrativen Charakter dieses Behandlungsmodells unterstrichen hat: ein durch und durch psychodynamisches Behandlungsmodell, das zentrale Wirkprinzipien der Verhaltenstherapie verkörpert und eine gemeinsame Sprache für beide Therapieschulen anbietet.
Short-Term Dynamic Psychotherapy (STDP)
Die affektfokussierte psychodynamische Psychotherapie (APT) steht in der Tradition der sogenannten Short-Term Dynamic Psychotherapy (STDP). Short-Term Dynamic Psychotherapy lässt sich nur sehr unzutreffend mit Kurzzeitpsychotherapie übersetzen. STDP Behandlungen können 100 und mehr Sitzungen umfassen. Short-Term bezieht sich auf die angestrebte Effizienz der Behandlung, die vor allem durch die beherztere Bearbeitung der Abwehr erreicht werden soll, als dies in den üblichen psychoanalytischen Behandlungen geschieht. Frühe Entwicklungen der STDP gehen auf Sandor Ferenczi (1873 – 1933), Otto Rank (1884 -1939) und Wilhelm Reich (1997-1957) zurück, die die Passivität des Psychoanalytikers als schädlich für die Wirksamkeit der Behandlungsmethode erachteten. Andere Pioniere der STDP waren Franz Alexander, Thomas M. French (Alexander & French, 1946) und Peter Sifneos (Sifneos, 2013), die uns heute noch über die Konzepte der »korrigierenden emotionalen Erfahrung« oder der »Alexithymie« bekannt sind. Michael Balint (1886-1970) gründete schließlich an der Tavistock Klinik (London) einen »Brief Psychotherapy Workshop«, der Mitte der 1960iger Jahre von David H. Malan übernommen wurde. Malan selbst befand sich noch bei Michael Balint und Donald Winnicott (1896-1971) in Lehranalyse (Eppel, 2018; Labije & Neborsky, 2012; Osimo, 2018; Coughlin, 2018). Auf David H. Malan geht die systematische Ausarbeitung des Konfliktdreiecks und des Dreiecks der Personen zurück (Malan 1963, 1979 orig., zit. nach Malan, 2013), die in allen STDP Behandlungen eine zentrale Rolle für das Verständnis der Störung und die Strukturierung der Interventionen spielen ( Abb. 2.1). Heute sind diese Therapieschulen unter dem Dach der International Experiential Dynamic Therapy Association vereinigt (https://iedta.net).
Vertrautes
Viele der hier beschriebenen Konzepte und Interventionen werden dem Leser aus anderen Lehrbüchern bekannt vorkommen. Grundsätzlich weiß der Psychotherapeut, dass die »Arbeit am emotionalen Erleben und an den Affekten im Zentrum der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie steht« (Wöller & Kruse, 2018). Das Konzept des »Beelterns«, das Rudolf in
Abb. 2.1: Die zwei Dreiecke stellen nach David Malan das »universelle Prinzip der psychodynamischen Psychotherapie« dar (Malan 1979). Abwehrmechanismen (D, defense) und Ängste (A, anxiety/inhibition) können Wahrnehmung und Ausdruck authentischer Gefühle (F, feeling) blockieren. Diese Muster entwickelten sich in der Beziehung zu...