Vorwort
Acht Jahre nach seinem Inkrafttreten ist es ruhiger geworden um das AGG. Zumindest in größeren Unternehmen ist es heute selbstverständlicher Bestandteil der Unternehmenskultur. Ob es die Praxis – außer bei der Diskriminierung wegen des Alters – wesentlich verändert hat, ist zweifelhaft. Auch vor Inkrafttreten des AGG waren Diskriminierungen wegen personenbezogener Merkmale nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Sicher ist, dass das AGG das Bewusstsein für mögliche Diskriminierungen geschärft hat. Sicher ist, dass es den Beschäftigten neue Möglichkeiten eröffnet hat, gegen tatsächliche Diskriminierungen vorzugehen. Beides ist positiv. Sicher ist aber auch, dass es unehrlichen Beschäftigten die Möglichkeit des Missbrauchs eröffnet, den es auch in Zukunft zu unterbinden gilt. Wer Antidiskriminierungsrecht zur persönlichen Bereicherung nutzen will, pervertiert das legitime Anliegen des Gesetzes.
Leider eröffnet das AGG zahlreiche Missbrauchsmöglichkeiten: Beliebt ist vor allem die anonyme oder auch namentliche Anzeige von Vorgesetzten oder missliebigen Kollegen, denen man eine Beförderung nicht gönnt oder gar selbst im Wettstreit mit Kollegen diese erreichen möchte oder sich für welches auch immer Erlittene oder vermeintlich Erlittene rächen möchte. Sowohl die Anzahl der anonymen Falschanzeigen, als auch von Anzeigen, die objektiv keine Benachteiligung im Sinne des AGG darstellen, jedoch je nach Perspektive und Auslegung des Sachverhalts zunächst Anlass zur Anzeige gegeben haben mögen, die der Anzeigende im Nachhinein besser unterlassen hätte, nimmt nach den Erfahrungen der Praxis dramatisch zu.
Solche Anzeigen stellen Unternehmen vor große Herausforderungen: Auf der einen Seite sind sie gezwungen, Anzeigen und Informationen, die auf schwerwiegende Diskriminierung, insbesondere Belästigungen, sexuelle Belästigungen und Mobbing hindeuten, genau nachzugehen. Auf der anderen Seite kann eine mit allen Mitteln betriebene Aufklärung leicht dazu führen, dass eine fälschlich bezichtigte Person oder eine Person, die auch hier Teil solcher Ermittlungen wird, ihrerseits erheblich diskreditiert wird. Das ist insbesondere dann schlimm, wenn sie zu Unrecht Teil der internen Ermittlungen war. Praktiker wissen, dass nur eine schnelle, möglichst umfassende und weitreichende Aufklärung dem ermittelnden Unternehmen bzw. dessen Beratern einen guten Überblick über das wirkliche Geschehen gibt. Hierzu sind dem an einer wirklichen Aufklärung Interessierten alle legalen Mittel recht. Ein zu vorsichtiges oder halbherziges Ermitteln birgt die Gefahr, dass gerade in Situationen, in denen sich die Zeugen oder Betroffenen nicht trauen oder gar beschämt fühlen, über die Situation zu sprechen, keine wirkliche Aufklärung betrieben werden kann. Dann bleibt es für den Ermittelnden bei einer Mauer des Schweigens oder der Nichtauskünfte, ohne dass er beurteilen kann, ob der Sachverhalt sich tatsächlich so ereignet hat. Mit dieser Situation umzugehen, ist eine der größten Herausforderungen für interne Ermittler in Unternehmen, Compliance-Abteilungen, Obleute, Personalabteilungen, Rechtsabteilungen und alle anderen Betroffenen.
Um bereits im Vorfeld aufzuklären, ob eine falsche Anzeige oder eine bewusst schädigende Anzeige vorliegt, kann eine intensive Kommunikation mit dem Anzeigenden hilfreich sein: In so einem Gespräch muss der Anzeigende seine Anzeige ausführlich und unter Angaben von Zeugen und Beweismitteln plausibilisieren. Je intensiver die Gespräche den Anzeigenden fordern, umso eher werden falsche Aussagen entlarvt und unnötige interne Ermittlungen verhindert. Andererseits baut ein detaillierterer Frage- und Antwortprozess gegenüber dem Anzeigenden für manche Unternehmen ungewollte Barrieren auf. Um Anzeigen diskriminierenden Verhaltens zu fördern bzw. nicht jede Anzeige zuerst als schwierig oder gar negativ im Raum stehen lassen, sollte kommuniziert werden, dass Compliance-, Ethik- und Verhaltensrichtlinien ernst genommen werden.
Aus gesetzgeberischer Sicht ist zu überlegen, ob das AGG nicht um einen Paragraphen ergänzt wird, der für den Missbrauch des AGG eine Regelung enthält. Zwar bestehen Zweifel, ob sich der Rechtsmissbrauch tatbestandlich umreißen lässt, doch könnten zumindest schärfere Sanktionen eine allzu leichtfertige Beschuldigung Dritter verhindern: Denkbar wäre zum Beispiel eine Bestimmung, die eine bewusst falsche Anzeige nach dem AGG, die mit dem Ziel abgegeben wird, dem Betroffenen einen persönlichen Nachteil zuzufügen, als Ordnungswidrigkeit ahndet oder gar unter Strafe stellt. Sie würde die allgemeinen Vorschriften der §§ 185 ff. StGB in einem Bereich ergänzen, der von diesen Vorschriften bislang nicht hinreichend erfasst wird. Außerdem wäre es im Sinne einer ausgewogenen Gestaltung des AGG sinnvoll, Betroffenen, gegen die zu Unrecht ermittelt wurde und die dadurch Nachteile erleiden, einen Entschädigungsanspruch für erlittene immaterielle Schäden gegen den bewusst zu Unrecht Ermittelnden und gegen denjenigen zu gewähren, der eine vorsätzlich falsche Anzeige ausbringt.
Auch wenn einerseits die Zahl falscher Anzeigen zunimmt, haben sich andererseits die Warnrufe derjenigen zum Glück nicht bewahrheitet, die US-amerikanische Verhältnisse in Deutschland heraufziehen sahen: Die hierzulande wegen einer Diskriminierung ausgeurteilten Entschädigungssummen bleiben weit hinter den punitive damages US-amerikanischen Rechts zurück. Gleichzeitig herrscht aber noch große Unsicherheit darüber, welche Entschädigungen angemessen sind. Noch liegen zu wenige Entscheidungen vor, um umfangreiche Entschädigungstabellen bilden zu können, wie sie im allgemeinen Haftungsrecht seit Jahrzehnten vorliegen. Unser Anliegen ist es, zumindest einen ersten Schritt in diese Richtung zu wagen: Im Anhang zu § 15 haben wir die bislang ausgeurteilten Entschädigungssummen zusammengetragen und systematisiert. Nach unserer Kenntnis ist dies in Deutschland in diesem Umfang die erste und einzige Auswertung dieser Art überhaupt.
Jenseits dieser ganz praktischen Fragen bleibt auch die Rechtsordnung selbst in Bewegung. Impulse zur Weiterentwicklung des Antidiskriminierungsrechts gehen heute aber weniger vom Gesetzgeber aus (man beachte aber die Richtlinie 2010/41/EU), sondern vor allem von der Rechtsprechung des EuGH und des BAG. Entscheidungen zu den personenbezogenen Merkmalen „Geschlecht“ und „Alter“ haben erhebliche Auswirkungen, weil sie die Wirksamkeit von Tarifverträgen oder gar Gesetzen in Frage stellen und damit eine Breitenwirkung entfalten. In der Versicherungswirtschaft hat das Urteil des EuGH in der Rs. Test-Achats zu Unisex-Tarifen geführt. Auch die Entscheidung des EuGH in der Rs. Kücükdeveci belegt die Macht der Gerichte eindrucksvoll: § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB mag zwar noch immer im Gesetz stehen, ist aber nicht mehr anzuwenden. Die Gerichte werden das Antidiskriminierungsrecht auch in Zukunft prägen: Voraussichtlich noch in diesem Jahr wird sich der EuGH dazu erklären, ob Adipositas eine Behinderung i.S.d. Antidiskriminierungsrechts sein kann. Die Folgen wären gravierend, denn in allen Industrienationen ist Übergewicht ein verbreitetes Phänomen. Die vorliegende Auflage bringt nicht nur die Rechtsprechungsnachweise auf den neusten Stand, sondern versucht, künftige Schwerpunkte der Rechtsprechung zu antizipieren und dazu Lösungsvorschläge zu unterbreiten.
Das Antidiskriminierungsrecht hat seine größte Bedeutung nach wie vor im Arbeitsrecht. Deshalb umfassen die Ausführungen zum Arbeitsrecht auch weiterhin den größeren Teil des Bandes. Ein besonderes Anliegen dieses Kommentars ist es jedoch, wie schon in der Vorauflage, auch die zivilrechtliche Seite des AGG umfassend zu würdigen. Das AGG erlangt hier hauptsächlich in der Versicherungs- und Wohnungswirtschaft große Bedeutung, was sich in der Kommentierung widerspiegelt. Andere Bereiche, wie z.B. die Energiewirtschaft, die Telekommunikations- und Energieversorgungsbranche etc. sind in den letzten Jahren nicht so sehr durch das Antidiskriminierungsrecht beeinflusst worden. Dies ist vermutlich dem harten Wettbewerb und vor allem aber der Regelungen in diesen Branchen geschuldet, die für Diskriminierungen wenig Spielraum lassen.
Was bringt die Zukunft? Ein besonderes Anliegen des europäischen wie des deutschen Gesetzgebers sind Quoten. Wir sehen diese kritisch. Ob Geschlechter- oder andere Quoten, ob in Aufsichtsräten, Führungsgremien, bei der Einstellung oder anderen Bereichen: Wenn die Politik es für nötig hält, dass in bestimmten Bereichen die unterrepräsentierte Personengruppe (warum sich die politische Diskussion auf Frauen beschränkt, ist für uns unverständlich) stärker vertreten ist, hilft eine Quote allein nicht weiter, weil sie nur die Symptome bekämpft, ohne die Ursachen für eine Unterrepräsentation zu beseitigen. Statt beispielsweise eine Frauenquote einzuführen, müsste der Gesetzgeber die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für alle Eltern verbessern. Verordnet er stattdessen eine Quote, führt dies zu wirtschaftlichen Nachteilen, vor allem dann, wenn von der unterrepräsentierten Personengruppe nicht besetzte Sitze oder Arbeitsplätze frei bleiben müssen. Eine Quote kann nur dann helfen, wenn es für bestimmte Aufgaben grundsätzlich gleich viele und gleich gute Bewerber bzw. Interessenten aller denkbaren Personengruppen gibt, aber aus diskriminierenden Gründen nur eine Personengruppe berücksichtigt bzw. eine Personengruppe nicht berücksichtigt wird. Nur in diesem letzten Fall würde...