Die Digitalisierung übt mit zunehmender Komplexität durch den technologischen und algorithmischen Fortschritt einen starken Veränderungsdruck auf die Businesswelt aus (Genaueres in Kapitel 3). Gerade etablierte und große Unternehmen tun sich damit schwer.
Auch in der Natur gibt es einen Wechsel von dynamischen, sich stark verändernden und eher stabilen Phasen. Das ist die Abfolge von schneller und langsamer Evolution - vergleichbar mit einem Dauerlauf und einem Sprint.
Derzeit befinden sich viele Unternehmen durch die digitale Transformation in der Sprintphase. Lassen Sie uns schauen, wie die Natur in stabilen Phasen agiert und wie sie sich auf Veränderungsdruck (VUKA) einstellt.
2.1.1 In quasi stabilen Phasen: Vielfalt im Dauermodus schaffen
Die Natur setzt auf Vielfalt und Selektion. Sie generiert im Dauermodus verschwenderisch Vielfalt in Form von neuen, leicht abgewandelten Genvariationen. Die Selektion greift in der Gegenwart: Was sich bewährt, bleibt. Individuen, die mit ihren einzigartigen Merkmalen an die vorhandene Umwelt am besten angepasst sind, überleben und pflanzen sich fort. So häufen sich im Genpool fitte, also an die Umwelt angepasste Individuen. Unbrauchbares verschwindet von der Bühne.
Wichtig dabei: Erst nachdem Vielfalt entstanden ist, greift die Selektion. Es braucht Vielfalt, also Handlungsoptionen, um bei Veränderungen eine passende Variante parat zu haben. Unternehmen setzen primär auf Selektion statt auf Vielfalt. Doch was wollen sie ohne Auswahl selektieren? Da fehlen die Optionen für ein sich veränderndes Umfeld. Für Unternehmen ist es daher entscheidend, genug Optionen zu schaffen, bevor sie ans Selektieren gehen. Anregungen dazu gibt es später unter „Vielfalt statt Einfalt“.
Stabile Phasen - Vielfalt im Dauermodus
Im stabilen Umfeld, also beim Marathon, wirkt in der Natur die stabilisierende Selektion. Das trifft zu, wenn über Generationen hinweg relativ konstante Umweltbedingungen herrschen, sich also wenig verändert. So passen sich Individuen im Wechselspiel mit anderen optimal an die Umwelt an. Dabei häufen sich in einer Population Merkmalsausprägungen (blau in der Grafik) für eine bestimmte Umweltsituation. Der Selektionsdruck (rote Pfeile) wirkt im stabilen Umfeld von beiden Seiten in Richtung „am besten angepasst“: Individuen, die optimal angepasst sind, werden bevorzugt und Abweichendes (Flieger im grauen Bereich) wird im stabilen Umfeld benachteiligt.
Nehmen wir als Beispiel die Flügelgröße von Vögeln: Sind die Flügel eines Vogels zu klein, gibt es wenig Fläche für den Auftrieb (es fliegt sich schlecht), und sind die Flügel zu groß und schwer, wird der Vogel zu träge und verbraucht zu viel Energie. Je näher ein Vogel an der optimalen Flügelgröße für seine Art ist (blauer Bereich), desto höher ist die individuelle Fitness. Die Fitness ist das Maß für die Anpassung an Umwelteinflüsse wie Klima, Nahrungsangebot oder Feinde. Im stabilen Umfeld führt dies zu einer reduzierten Variabilität im Genpool.
Parallel dazu setzt die Natur trotzdem verschwenderisch auf Vielfalt (Flieger im grauen Bereich). So ist sie allseits bereit, falls sich etwas ändert.
Unternehmen setzen auf Monokultur in rosigen Zeiten
Viele Unternehmen haben in den letzten Jahrzehnten bei stetigem Wachstum von rosigen, gleichbleibenden Zeiten profitiert. Große, global agierende Unternehmen haben sich entwickelt, sie haben sich optimal an ein gleichmäßig stabiles Wachstum angepasst und alles Abweichende wegrationalisiert. Also keine Vielfalt - Flieger im grauen Bereich. Es wird geschaut, was „überflüssig“ ist: Das kostet ja nur, also weg damit. Alles, was keine Kernkompetenz war, wurde nach außen verlagert oder verkauft. Dies hat zu einer sehr starken Fokussierung auf die Lösung nahe dem Optimum geführt. Das Wiederholen des Gleichen spart natürlich kostbare Zeit und Ressourcen. Automatisierte Prozesse beschleunigen die Produktion. Viele dieser Unternehmen haben in rosigen Zeiten die Vielfalt stark reduziert. Solange das Umfeld durch tatsächliches oder künstlich erzeugtes Wachstum stabil ist, ist für die Unternehmen alles im grünen Bereich. Sie haben sich weltweit erfolgreich etabliert.
Aber Achtung: Bewährt sich dieses Vorgehen auch? Bedenken Sie, dass parallel zum Bewährten immer auch Vielfalt bestehen muss, damit Sie eine Chance haben, fit zu bleiben, falls sich Ihr Umfeld ändert. Wird Vielfalt einfach wegrationalisiert, sind die Handlungsvariablen für eine VUKA-Welt auf einmal zu klein, um agil zu sein und zu handeln.
So etwas wäre der Natur zu riskant. Auch in quasi stabilen Phasen generiert sie nonstop Vielfalt: Damit bleibt sie gegen kleine und abrupte, unvorhersehbare Veränderungen gewappnet. Sie hat immer genug neue Alternativen parat, falls sich im Umfeld mal was ändert. Bei Nichtgebrauch wirft sie die neuen Alternativen einfach weg. Auf den ersten Blick bringt die Vielfalt hier keinen Vorteil - nur Kosten. Doch diesen Luxus leistet sich die Natur seit Millionen von Jahren - aus gutem Grund.
2.1.2 In dynamisch instabilen Phasen: Vielfalt drastisch erhöhen
In der Phase des Sprints verändert sich die Umwelt stark, die Artenvielfalt explodiert. Gleichzeitig verschwinden viele Arten von der Bühne.
Instabile Phasen zeichnen sich durch sich ständig verändernde Umweltbedingungen aus. Die wichtigste Fähigkeit ist es, sich anpassen zu können. Kein Mensch weiß, was kommt, niemand weiß genau, wie die Bedingungen sind. Anstatt abzuwarten, produziert die Natur noch mehr Vielfalt als ohnehin schon.
Es gibt circa 2,3 Millionen bekannte und Millionen von unbekannten Arten auf der Erde.9 Zusätzlich gibt es viele Variationen innerhalb einer Art. Wie gesagt: Was die Natur als Vielfalt in den Raum wirft, entsteht durch Zufall. Dafür gibt es keine Regeln oder Anweisungen. Auch was rauskommen soll, gibt die Natur nicht vor - es ist nicht vorhersehbar. Doch gerade dieses ständige Abtasten vieler Möglichkeiten ist das Prinzip der Natur, sich an kleine und drastische Veränderungen anzupassen. Dabei greift sie auf zwei einfache Prinzipien zurück: Sie fördert den Zufall durch Mutationen und bringt Sex ins Spiel. Dabei sorgen zufällige Mutationen und Sex für Artenvielfalt und noch mehr Variabilität innerhalb einer Population. Die Individuen einer Art unterscheiden sich leicht voneinander, und die Eigenschaften, die in der jeweiligen Umwelt von Vorteil sind, setzen sich nach Generationen durch. So ist die Natur „allzeit bereit“.
Für Unternehmen gilt dasselbe: In einem Umfeld mit hohem Veränderungsdruck, wie in der VUKA-Welt, brauchen sie Vielfalt. Hier sind auf einmal Individuen gefragt, die abseits der Norm liegen und für die neuen Herausforderungen rein zufällig besser geeignet sind. Vielfalt im...