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TRAININGS-GRUNDLAGEN
Mit Grundlagen sind hier verschiedene Aspekte des akrobatischen Trainings gemeint, mit denen man sich in der Praxis immer wieder beschäftigen wird.
• Das Aufwärmen:
Nicht nur körperlich, sondern auch gedanklich und gefühlsmäßig sollte man sich auf die Anforderungen des Trainings vorbereiten. Was ist unter einem sachgerechten Aufwärmen zu verstehen und was gilt es dabei zu beachten?
• Das Techniklernen:
Das Erlernen der akrobatischen Techniken ist sicherlich die wichtigste Voraussetzung für die Kunst der Equilibristik und dementsprechend der inhaltliche Schwerpunkt des Trainings. Die wesentlichen Merkmale, Gesetzmäßigkeiten und typischen Prozesse, die beim Technik- bzw. Bewegungslernen auftreten, sollen dargestellt werden.
• Die Belastungen der Gelenke:
Während des Trainings treten teilweise sehr hohe Gelenkbelastungen auf. Besonders betroffen sind die Wirbelsäule, als axiale Stütze des Körpers, und die Handgelenke durch ihren grazilen Aufbau. Wie groß sind die Belastungen und wie lassen sich Überbelastungen durch die richtige Technik des Hebens und Tragens vermeiden?
• Das Helfen und Sichern:
Eine sichere Hilfestellung ermöglicht ein besseres und angstfreieres Erlernen der akrobatischen Techniken. Helfen und Sichern sind für die einzelnen Figuren, Pyramiden und Menschenbilder einfach unentbehrlich.
Aufwärmen
Mit dem Aufwärmen soll ein Zustand des Aufgewärmtseins erreicht werden, bei dem der Körper auf die spezifischen Bewegungsanforderungen und Belastungen vorbereitet wird und bei dem auch eine emotionale und mentale Vorbereitung auf die Trainingsanforderungen erfolgt. Ich möchte diesen Vorgang als physische und psychische Einstimmung auf das Training bezeichnen.
Beim akrobatischen Training existiert zusätzlich die besondere Situation der körperlichen Nähe, des Körperkontakts. Viele Menschen sind nicht sofort in der Lage oder dazu bereit, sich auf eine enge, intensive Körpernähe einzulassen. Viele akrobatische Figuren erfordern aber Berührungen an oft sehr intim empfundenen Körperstellen und können leicht als Einbruch in die eigene Intimsphäre gewertet werden. Das Aufwärmen bietet nun die Möglichkeit, sich langsam auf die anderen Menschen und deren körperliche Nähe einzustellen. Letztendlich kann durch das Aufwärmen die im akrobatischen Training erforderliche kooperative, vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre geschaffen werden.
Ein Aufwärmen im akrobatischen Training ist meines Erachtens dann funktionell, wenn beide Faktoren, der physische wie der psychische, gleichermaßen beachtet werden und denselben Stellenwert genießen.
Zum Aufbau eines Aufwärmprogramms
Beim Aufbau eines akrobatikspezifischen Aufwärmprogramms ist es sinnvoll, die Aufwärmphase in ein allgemeines und in ein spezielles Aufwärmen zu unterteilen. Das allgemeine Aufwärmen erfolgt durch aktive Bewegungen großer Muskelgruppen, die den sportartspezifischen Bewegungshandlungen nicht unbedingt entsprechen müssen (Maehl & Höhnke, 1988, S. 138). Eine peppige allgemeine Aufwärmphase motiviert und aktiviert. Durch eine gezielte Auswahl von Kleinen Spielen können Berührungsängste abgebaut und ein erster Körperkontakt durch die spielerische Form erleichtert werden.
Folgende Möglichkeiten zur Gestaltung bieten sich an:
Kleine Spiele, insbesondere Laufspiele, wie Kettenfangen o. Ä.
Aufwärmen in der Fortbewegung, Laufgymnastik, Laufexperimente.
Ganzkörpergymnastik, Rock ’n’ Roll, afrikanischer Tanz.
Das spezielle Aufwärmen umfasst zwei Bereiche, die von ihrer Struktur her doch sehr unterschiedlich sind: Funktionsgymnastik (Dehn- und Kräftigungsübungen) und eine sportartspezifische koordinative Einstimmung. Die Dehn- und Kräftigungsgymnastik in dieser speziellen Aufwärmphase sollte mit Anfängern gemeinsam durchgeführt werden, um zu gewährleisten, dass wichtige Muskelgruppen (siehe S. 24ff.) gedehnt, gekräftigt und aktiviert werden. Gerade der Einsatz von Partnerübungen ist aus oben genannten Gründen sehr sinnvoll. Wenn die Teilnehmer über gewisse Vorerfahrungen verfügen, kann diese Phase auch individuell durchgeführt werden.
Es gibt nicht nur unterschiedliche individuelle Stärken und Defizite bei Kraft und Beweglichkeit, sondern jeder Einzelne besitzt auch eine eigene Bewegungsdynamik. Viele haben mit bestimmten Dehn- und Kräftigungsübungen ihre eigenen Erfahrungen gesammelt und sich Übungen ausgewählt, die sie persönlich als geeignet empfinden. Bei einer individuell ausgerichteten Dehn- und Kräftigungsgymnastik kann die Konzentration besser auf den eigenen Körper und dessen Reaktion auf bestimmte Übungen gerichtet werden.
Es ist empfehlenswert, mit Dehnübungen zu beginnen. Sie gewährleisten eine optimale Gelenkbeweglichkeit und dienen der Vorbereitung auf die körperlichen Belastungen. Dehnübungen beanspruchen einen breiten zeitlichen Rahmen, da viele akrobatische Übungen exponierte Gelenkstellungen erfordern. Durch das Dehnen wird ein Dehnungsrückstand in der Muskulatur erzeugt, welcher das Bewegungsausmaß eines Gelenks vergrößert. Extreme Gelenkbewegungen lassen sich leichter ausführen, was die Gefahr von Muskelverletzungen vermindert. Verstärkt sollte auf die Beweglichkeit im Schulter- und Hüftgelenk sowie auf die Mobilisierung der Wirbelsäule geachtet werden.
Nach dem Dehnen ist es ratsam, die gedehnte Muskulatur zu kräftigen, um den Tonus der entsprechenden Muskulatur wieder zu erhöhen. Eine zu stark entspannte Muskulatur ist gerade bei schnellkräftigen Übungen nicht voll leistungsfähig. Kräftigungsgymnastik dient in der Aufwärmarbeit der Tonisierung der Haltemuskulatur, erhöht die Belastbarkeit der Wirbelsäule und aktiviert die später benötigten Muskelgruppen (vgl. Maehl & Höhnke, 1988, S. 52). Da die Gelenke im akrobatischen Training hohen Beanspruchungen und Belastungen ausgesetzt sind, ist es zusätzlich wichtig, alle Gelenke „durchzubewegen”.
Mit einer akrobatikspezifischen Einstimmung sollte die Aufwärmphase abgeschlossen werden. Darunter sind Übungen zu verstehen, die beispielsweise Gleichgewichtsfähigkeit, Körperspannung und Körpergefühl im Umgang mit anderen Körpern schulen. In dieser letzten Phase sind kurze, intensive Belastungen möglich und sinnvoll.
Zur praktischen Gestaltung eignen sich
individuelle Körperübungen aus dem turnerischen Bereich (siehe Kap. „Solotechniken”, S. 64ff.),
Partnerübungen zur Balance und Körperspannung (siehe S. 68ff.) und
Basistechniken der Akrobatik (siehe S. 71ff.).
Techniktraining
Im Mittelpunkt des akrobatischen Trainings steht das Üben der spezifischen variationsreichen Techniken der Equilibristik und die Suche nach der optimalen Form einer Bewegungsausführung.
Ein idealtypischer Bewegungsablauf benötigt eine Reihe objektiver, bewegungsanalytischer Informationen, die über die einzelnen Merkmale und Gesetzmäßigkeiten einer sportlichen Technik verallgemeinernd Auskunft geben. Derartige objektive Informationen und Analysen von akrobatischen Techniken gibt es (noch) nicht. Deshalb kann auch nicht von allgemeingültigen Idealmodellen in der Equilibristik ausgegangen werden. Da diese Objektivität nicht gewährleistet ist, können nur stilistische Ausprägungen möglichst exakter Bewegungsabläufe von Könnern herangezogen, kopiert und als die Technik angesehen werden. In diesem Zusammenhang wird Technik beschrieben als ein Ergebnis aus Erfahrungen, Überlegungen, Verbesserungen, Beobachtungen und des Experimentierens, das zu einer Reflexion über Gütekriterien wie Gesetzmäßigkeit, Zweckmäßigkeit und Ökonomie führt (Martin, 1979, S. 178).
Sämtliche akrobatische Techniken, die im Kapitel „Techniken und Figuren der Akrobatik” (siehe S. 63ff.) dargestellt werden, sind auf diese Weise erarbeitet worden. Bevor jedoch ein idealtypischer Bewegungsablauf gefunden wird, liegt diesem der langwierige Prozess des Techniklernens zugrunde.
Techniklernen
Sagst du’s mir, so vergesse ich es. Zeigst du’s mir, so merke ich es mir vielleicht. Lässt du mich teilnehmen, so verstehe ich es.
(chinesisches Sprichwort)
Das Techniklernen, die Aneignung und Vervollkommnung von Bewegungsfertigkeiten, ist zwar ein langwieriger, aber spannender Prozess. Gerade in der Vielfalt und in den Variationsmöglichkeiten der einzelnen akrobatischen Techniken liegt ein besonderer Reiz. Man besitzt immer das Gefühl, in technischer Hinsicht nicht alles ausgeschöpft zu haben, nie „ausgelernt” zu haben. Als grundlegende Voraussetzung zum Erlernen...