„Die Philosophie kann aber eben nicht anders als das Denken zu denken,
das Denken als Denken des Denkens zu identifizieren.“
(KH, S.30)[8]
Auffallendes Merkmal von Badious Denken ist die immer wiederkehrende Rückwendung auf Platon. Badiou kritisiert den in der Moderne vorherrschenden Antiplatonismus; in den meisten seiner Schriften wird Platon als Ausgangspunkt für die unterschiedlichsten Themen herangezogen; er fordert einen modernen Platonismus, spricht von einem „Platonismus des Mannigfaltigen“ (MP, S.113) und bezieht sich auf den seiner Ansicht nach einzigen „unverhohlenen“ modernen Platonismus, nämlich auf den Mathematiker Albert Lautmann (MP, S.109). Nun handelt es sich bei Badious Rückwendung auf Platon nicht einfach um die Renaissance des Platonismus oder um eine Restitution der Ideenlehre, sondern um das, was Badiou „platonische Geste“ oder „platonische Initiative“ (MP, S.109) nennt. Die platonische Geste ist gleichbedeutend mit der philosophischen Geste und steht mit den Möglichkeitsbedingungen von Philosophie überhaupt in Zusammenhang.
Die Entstehung der Philosophie ist kontingent. Sie unterliegt bestimmten Bedingungen, durch die sie ermöglicht wird. Für Badiou liegt die Geburt der Philosophie wie allgemein angenommen in Griechenland, bestimmt aber Platon als den ersten Philosophen. Badiou greift in seiner Begründung für diese Bestimmung Heideggers Unterscheidung zwischen Denken und Philosophie auf. Dieser hatte die Philosophie seit Platon der Seinsvergessenheit bezichtigt und dagegen die Vorsokratiker als Denker des Seins bestimmt, die noch ein ursprüngliches Verhältnis zum Sein und das heißt zur Wahrheit hatten. Diesen Einschnitt in der Geschichte der Philosophie übernimmt Badiou, wendet ihn aber in eine ganz andere Richtung. Für Badiou ist die
Philosophie nicht in Griechenland entstanden, „weil es [das griechischen Denken] das Heilige in der mythischen Quelle der Dichtung bewahrte oder weil ihm die Verborgenheit von Präsenz als esoterische Rede über das Sein vertraut war“ (MP, 18). Sondern für Badiou – und hier wendet er sich gegen Heideggers Position - besteht der Ursprung der Philosophie in Griechenland gerade in der Abkehr von der Dichtung und deren Verbindung zum Mythos. Diese Abkehr wird von der Mathematik mitinitiiert. Die Entstehung der entmythisierenden Wissenschaft ist somit eine wesentliche Bedingung für die Entstehung der Philosophie, aber nicht deren einzige Bedingung, wie Badiou in seiner Beschreibung der kontingenten Gründe Griechenlands für die Geburt der Philosophie zusammenfaßt:
„Die Besonderheit Griechenlands besteht vielmehr darin, die Erzählung von den Ursprüngen mit der laizisierten und abstrakten Rede unterbrochen, das Ansehen der Dichtung durch die Wissenschaft erschüttert, die Stadt als eine offene, umstrittene, unbesetzte Macht begriffen und die Gewitter der Leidenschaft auf den Schauplatz der Öffentlichkeit gebracht zu haben.“ (MP, S. 18)
Wenn Badiou in diesem Zitat die Gründe für die Entstehung der Philosophie in Griechenland anführt, so verweisen diese vier genannten Besonderheiten gleichzeitig auf das Schema der „Bedingungen“, das er anhand des Werkes von Platon für die Philosophie entwickelt. Für Badiou ist die Bedingtheit der Philosophie weder abstrakt noch diffus – im Sinne einer allgemeinen gesellschaftlichen Bedingtheit -, sondern sie ist sehr konkret und von daher bestimmbar: Dichtung, Wissenschaft, Politik und Liebe sind die vier Bedingungen der Philosophie und ermöglichen in ihrer Kompossibilität die Philosophie. Sie bilden das platonische bzw. philosophische Schema mit ihren vier Polen. Dieses Schema nimmt Badiou als Grundlage für die Philosophie, als Grundlage seiner Darstellung von Philosophie. Diese Übertragung der Bedingungen von Platon auf die ganze Philosophie begründet Badiou dadurch, daß sich Wissenschaft, Politik, Kunst und Liebe als Bedingungen der Philosophie in der Geschichte der Philosophie relativ konstant durchgehalten haben (MP, S.17)[9].
Von Bedingungen zu sprechen, heißt nun mehr als nur die Gründe für die Entstehung der Philosophie anzuführen: es handelt sich für Badiou nicht einfach um externe Bedingungen, sondern um interne, d.h. die Philosophie muß diese Bedingungen in ihrer Gesamtheit anerkennen und sie zu den Bezugspunkten ihres Denkens machen. Und darüber hinaus: Bei den vier Bedingungen der Philosophie handelt es sich um vier unabhängige Denkformen. So gibt es z.B. für Badiou einen Wesensunterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft. Zwar steht, wie wir gesehen haben, die Entstehung der Philosophie in enger Beziehung zur Entstehung der Wissenschaften, aber diese ist nur eine, wenn auch die wichtigste Bedingung für die Entstehung der Philosophie. Die Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern sie hat die Aufgabe, das Mathem – Badiou spricht statt von Wissenschaft immer vom Mathem[10] - zu denken und zwar im Zusammenhang mit den drei anderen Bedingungen. Die Philosophie ist demnach eine Art Metadenken, ein Denken, das die anderen Formen des Denkens denkt. Und jeder dieser vier Denkformen ist ihre Wahrheit immanent. Es gibt für Badiou also nicht nur eine Wahrheit, sondern vier Wahrheiten. Liebe, Politik, Mathem und Kunst sind unabhängige und heterogene Wahrheitsprozesse, oder wie Badiou sie auch nennt: generische[11] Prozesse. Diese Denkformen sind also sowohl Bedingungen und Bezugspunkte der Philosophie als auch der durch ihre Konstellation gegebene Grund, auf dem sich die Philosophie konstituiert. Die Aufgabe der Philosophie besteht dann darin, diese vier Bedingungen oder generischen Prozesse in einem kompossiblen Denkraum zu versammeln und ihnen in ihrer Wahrheit und Heterogenität durch einen begrifflichen Rahmen Ausdruck zu verleihen. Und dadurch konstituiert die Philosophie sich ja auch selbst als Philosophie. Nur wenn die Philosophie diese Aufgabe erfüllt, dann handelt es sich wirklich um Philosophie. Fehlt einer dieser Bedingungen als Bezugspunkt, dann kann von Philosophie im strengen Sinne nicht mehr gesprochen werden: die Philosophie ist dann nicht mehr in Übereinstimmung mit ihrer Bestimmung (MP, S.13).
Wenn in diesem Zusammenhang von Ausdruck gesprochen wird, dann soll darauf hingewiesen werden, daß es sich in dem Verhältnis der Philosophie zu den vier Polen des Denkens nicht um „Summationen oder Totalisierungen“ (MP, S.22) handelt, wie Badiou ausdrücklich betont, sondern sie können auch implizit vorhanden sein.
„Es ist selbst nicht immer notwendig, daß die Philosophie die Aussagen oder lokalen Gegebenheiten der generischen Prozesse erwähnt. Die philosophischen Begriffe rastern einen allgemeinen Raum, in dem das Denken zur Zeit, zu seiner Zeit kommt, insofern die Wahrheitsprozesse dort ihren Schutz ihrer Kompossibilität finden.“ (MP, S.23)
Diese Aufgabe, seine Zeit, das antike Denken in ihrer Kompossibilität zum Ausdruck zu bringen, hat Platon nach Badiou als erster erfüllt, deshalb ist er auch der erste Philosoph (MP, S.19) und „der Begründer der Philosophie“ (KH, S.7). Offensichtlich ist, daß Platon sich auf die vier Pole der Philosophie bezogen hat. So hatte ja Platon am Eingang der Akademie die Inschrift „Niemand soll hier eintreten, der nicht Geometrie studiert hat“ anbringen lassen[12]. So hatte Platon in seiner Politea die Dichtung aus dem Staat entfernen lassen, doch war es laut Badiou ein „schmerzliches Verabschieden“ (MP, S.19). So hat sich Platon mit der Liebe im Symposium und im Phaidon beschäftigt und ihr „in unübertrefflichen Texten die Verbindung zur Wahrheit“ (MP, S.19) gegeben. Und daß für Platon die Politik ein zentrales Anliegen und auch Motivationsgrund seiner Philosophie war, ist ja allgemein bekannt.
Anhand der Bedingung Politik kann hier kurz angedeutet werden, was „Denken der Bedingungen“ bei Badiou heißt und daß es eine Notwendigkeit des Denkens der Bedingungen für die Philosophie gibt. Dabei zeigt sich auch, wie sich die Interpretation eines philosophischen Textes wie Platons Politea verschieben kann.
„Der politische Entwurf schließlich wird als Textur des Denkens selbst verhandelt, denn am Ende des neunten Buches der Politea weist Platon ausdrücklich darauf hin, daß seine ideale Stadt weder ein Programm noch eine Wirklichkeit ist und die Frage, ob es sie gebe oder geben könnte, gleichgültig sei, daß es sich hier nicht einfach um Politik handelt, sondern um Politik als Bedingung des Denkens, um die innerphilosophische Ausformulierung der Gründe, weshalb es keine Philosophie gibt, ohne daß die Politik den realen Status eines möglichen Entwurfs hat.“ (MP, S.19)
Diese vier Bedingungen der Philosophie, der platonischen wie auch der Philosophie im Allgemeinen, lassen sich nun als die vier Pole der Philosophie schematisieren:
So tauchen die vier Wahrheitsprozesse also bei Platon als Bedingungen der Philosophie auf. Doch konstituieren diese Bedingungen ja auch die Philosophie von Platon: wie Badiou betont, gibt es immer Hauptbezugspunkte in der Konstellation der Bedingungen, die zur „Entfaltung der...