Das Symbol
Auf dem Bauplatz im Urwald ähnelt er dem alten Faust, der am Meeresufer Land kultiviert. Aber seine Worte sind nicht klassisch, sondern selbstverspottend, anekdotensicher zugespitzt. Hat einer der Schwarzen bei mir im Spital gearbeitet, gilt er als «ausgebildet». Er wird leicht Arbeit finden, denn die Leute sagen: «Ja, wenn er’s bei dem ausgehalten hat …»[1]
Das ist nicht fishing for compliments. Albert Schweitzer treibt nicht Image-Pflege, um dem Bilderbuch-Porträt vom Humanisten mit dem goldenen Herzen zu entsprechen. Der Härtetest der Nächstenliebe ist auf andere Weise bestanden worden: durch die Aufgabe einer gesicherten Doppelkarriere in Musik und Theologie vor 50 Jahren; und er wird täglich erneuert durch einen siebzehnstündigen Arbeitstag – noch jetzt, im 90. Lebensjahr. Weil dieser Dauerbeweis der Zuwendung zutage liegt, darf der Umgangston nüchtern sein. Wenn der Patriarch stundenlang die Erdarbeiten zum Bau einer neuen case für Schwarz oder Weiß überwacht, den Wegebau beaufsichtigt, das Ausladen einer Schiffsfracht dirigiert, dann sind die Anweisungen oft herrisch, die Rüffel herbe, die Scheltworte laut.
Denn nichts geht nach den Vorstellungen seiner europäisch anerzogenen Arbeitsmoral. Das liegt an der Mentalität des Naturkindes, mit der er es seit dem ersten Betreten dieser urweltlichen Region in Zentralafrika zu tun hat. Bei geringer Arbeit liefert die Natur dem Eingeborenen so ziemlich alles, was er zu seinem Unterhalt im Dorfe braucht, schrieb er 1920 im Rückblick. Der Neger ist nicht faul, sondern er ist ein Freier. Darum ist er immer nur ein Gelegenheitsarbeiter, mit dem kein geregelter Betrieb möglich ist … Letzthin hatte ich einen Tagelöhner, um eine neue Hütte beim Spital zu bauen. Kam ich am Abend, so war nichts geschafft. Als ich mich am dritten oder vierten Tag erzürnte, sagte mir einer der Schwarzen: «Doktor, schrei nicht so mit uns. Du bist ja selber schuld daran. Bleib bei uns, dann schaffen wir. Aber wenn du im Spital bei den Kranken bist, sind wir allein und tun nichts.»[2]
Die Lektion hat der docteur gelernt. Sie ist, wie jede menschliche Erfahrung bei ihm, zum dauernden Besitz geworden. Gerechterweise ist zu sagen, dass die Urwaldzone Äquatorialafrikas sich in dem knappen halben Jahrhundert seines weiteren Wirkens nicht so durchgreifend geändert hat, um außer Kraft zu setzen, was in den Lehrjahren galt. Das vielzitierte Wort aus den Anfangszeiten: Ich bin dein Bruder; aber dein älterer Bruder[3], wurde zwar formal suspendiert, als er 1951 im französischen Vorwort zum Buch Zwischen Wasser und Urwald schrieb: Jetzt müssen wir uns darein finden … dass der jüngere Bruder als mündig und genauso urteilsfähig wie der ältere Bruder betrachtet wird. Aber das war nur skeptisches Referieren einer Lehrmeinung, welcher der eigene Augenschein sich widersetzte und von der das persönliche Handeln unberührt blieb.
Und so hört man denn auch an diesem Tag missmutige Äußerungen des Alten, verpackt in Ungeduld. Stoß ihm in die Rippen[4], ermuntert er einen weißen Helfer, weil der Schwarze nicht tut, was er soll. Selbstbestimmung an diesem Punkt Afrikas sieht so aus, dass Schweitzer selbst bestimmt. Die progressiven Afrikaner in anderen Regionen des Erdteils erbittert solch autoritäres Gebaren. Sie wissen nicht oder wollen nicht sehen, dass unter dem kolonialistischen Symbol des Tropenhelms die genaue Antithese zum Kolonialismus wohnt: ein in Jahrzehnten gefestigtes Glücksgefühl, Helfer dieser Hilflosen zu sein. Zu Gelegenheiten wird es ohne Umschweife in Worte gefasst, so etwa, als der Achtundachtzigjährige im April 1963 bei der Feier zum Goldenen Afrika-Jubiläum seinen Schwarzen versicherte, dass ich zu euch gehöre bis zu meinem letzten Atemzug[5].
Im tropischen Regenwald des Gabon ist jeder davon überzeugt. Die Patienten sowohl wie ihre gesunden Angehörigen, auch wenn die mit leidender Miene zum Bauplatz trotten, um die für die Ärmeren kostenlose Heilbehandlung ein wenig abzuverdienen, entbieten bei allen Gelegenheiten ein offenes «Bon jour, docteur». Nicht minder häufig hört man den gleichen Gruß im heimischen Idiom: «m’bolo». Er gilt unterschiedlos auch jedem weißen Helfer am Ort.
Und wenn der Wind einmal umschlüge in der friedlichen Urwaldregion? Wenn ein radikaler rassistischer Kurs die Verehrung für den ältesten Weißen Schwarzafrikas wegspülte wie der Ogowe die Abwässer des Spitals? Der berühmteste Entwicklungshelfer der Welt ist unerreichbar für Befürchtungen solcher Art. Nicht, weil dergleichen unausdenkbar wäre, sondern weil sein Haus längst bestellt ist:
Ich bin ganz erschüttert, dass mir ein so herrlicher Beruf bestimmt ist; das macht, dass ich innerlich unangefochten meinen Weg gehe. Eine große ruhige Musik umtönt mich innerlich. Ich darf erleben, dass die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ihren Weg in der Welt zu machen beginnt. Das hebt mich über alles hinaus, was man mir vorwerfen oder antun kann.[6]
Der Elsässer mit der verschmitzten Weltnähe des dortigen Menschenschlages und dessen angeborenem Hang zum Übertreiben gewinnt dem ernsten Problem noch eine humorvolle Seite ab. Für den Fall, dass die Nachfahren gabunesischer Kannibalen ihn verspeisen könnten, hatte er eine Grabinschrift bestimmt: Wir haben ihn gegessen, den Doktor Albert Schweitzer. Er war gut bis zu seinem Ende.[7]
Auf dem Bauplatz überprüft der Besucher aus Deutschland seine Erinnerungen vom vorigen, zweieinhalb Jahre zurückliegenden Aufenthalt an der Erscheinung von jetzt. Hat der «Vorarbeiter» mit der ausgebeulten Hose, der schwarzen Fliege auf dem kurzärmeligen Hemd und dem wirren Haarschopf gelblich-weißer Strähnen sich sichtbar verändert? Vielleicht ist sein Aufstehen schwerer geworden, stärker vom Willen, es zu zwingen, bestimmt. Vielleicht hört er etwas schlechter. Mag sein, dass die Pausen in sich gekehrter Zurückgezogenheit länger sind. Der Gang mag gebeugter sein. Aber das bernsteinfarbene Auge ist hell und gegenwärtig, die Schlagfertigkeit unverbraucht, die Vitalität unter der senkrechten Sonne nach wie vor enorm. Wenn er zwanzigmal am Tag aus dem Jeep klettert, mit dem ihn die amerikanische Fotografin österreichischer Herkunft, Erica Anderson, durchs weitläufige Gelände chauffiert, weist er jeden stützenden Arm zurück. Hilf nie einem alten Mann, du demütigst ihn damit.[8]
Der Jeep befördert nicht nur den Amateur-Architekten, der den französischen Missionaren die sonnenabwehrende Ost-West-Richtung seiner Bauten abgeschaut hat und der die Maxime vertritt, wenn am Äquator ein Zimmer heiß ist, gehört der Architekt ins Loch[9]; der Vielzweckwagen transportiert auch Steine und Sand. Vergnügt nimmt der Bauherr ein Stück versteinertes Holz aus dem Wagen und hält es ins Licht. Ein idealer Baustoff. Wir hatten großes Glück, dieses Material zu finden. Ich sage natürlich nicht, wo. Wer einen Steinbruch gefunden hat, behält es für sich. Da hört die Nächstenliebe auf … Edel sei der Mensch, hilfreich und schlau …[10]
Den Ausbau des Krankendorfes begleitet sisyphushafte Frustration. Der vorausplanende Optimismus, einmal auf Vorrat zu bauen, ist bei Fertigstellung jeder neuen Unterkunft schon wieder vom Bedarf eingeholt. Der Zulauf der Kranken sowohl wie die Anwesenheit weißer Besucher hat ständig zugenommen. Daher ist es unrealistisch, wenn der rüstige Greis sich der Hoffnung hingibt: Hoffentlich bin ich in einem Jahr nicht mehr so ein armer Teufel, der immer bauen muß, der immer zu wenig Schlaf bekommt.[11]
Der zweite Teil des Satzes weist auf die andere Bürde hin, die nicht minder kraft- und zeitraubend ist: die Korrespondenz. Er zeigt auf ein verschnürtes Bündel unter dem Arm: Weißt du, wieviele Briefe ich heute geschrieben habe? Elf![12] Und das alles mit der armen Schreibkrampfhand[13], dem Erbstück der Mutter. So könnte altgriechische Phantasie eine Tantalusqual ersonnen haben: Ein Mann wird für seinen Ruhm verurteilt, mit einem Krampf im Arm bis in die Nächte Dankesbriefe zu schreiben. Die abgründige Vorstellung missachtet natürlich einen wesentlichen Unterschied. Bei den Griechen wird derlei auferlegt für Selbstüberhebung, für menschliche Schuld. Schweitzer hat den Ruhm nicht gesucht, eher gefürchtet. Der Ruhm kam über Urwaldpfade und nahm Besitz von ihm. Dem beugt er sich lediglich in der Demut, die sein ursprünglicher Seinsgrund ist. So gesehen ist das Briefeschreiben auch keine Qual, höchstens Mühsal. Er weiß: was er in Menschenaltern von sich abgegeben hat, kehrt heute in Fluten von verehrungsvollen Grüßen und materiellen Hilfeleistungen zu ihm zurück. Dem will und muss er sich abermals stellen. Und so hat denn die winzige, geduckte, erdfeste Handschrift heute wieder viel Dank bezeugt, denn die Kälte in der Welt rührt daher, dass wir … Dankbarkeit … nicht genugsam kundgeben[14].
Wenn der Tag wirklich einmal ganz «normal» zu laufen scheint, nur mit Handwerk (das ist praktische Theologie[15]) und Korrespondenz (jetzt bin ich ja ein armes Roß, das immer Briefe schreiben muß[16]) – dann spült der Ogowe Touristengruppen an Land, Amerikaner, Schweden, Deutsche, Menschen aus aller Welt. In der nächsten Stunde taucht nur hin und wieder ein weißer Helm, ein...