Einleitung:
Warum hinter Kürzeln manchmal Krimis stecken
Mit dem Welthandel ist es wie mit einer Waschmaschine. Solange sie läuft, will niemand wissen, wie sie funktioniert. Das Leben ist einfach zu kurz für solche Fragen. Die Lage ändert sich, wenn die Maschine komische Geräusche macht und die Hosen nicht mehr sauber werden. Die Störgeräusche, die mein Interesse wecken, rühren von Buchstabenkombinationen her, von Abkürzungen wie ISDS, CETA, TTIP und TISA. Sie alle stehen für Handelsabkommen, die die EU abschließen will – langweiliger, komplizierter Kram, wie ich anfangs dachte. Doch bei der Recherche entwickelte sich vor meinen Augen ein Krimi: Was die Handelspolitiker in den kommenden Jahren durchsetzen wollen, versteckt hinter diesen Kürzeln, wird unser Leben, unsere Umwelt und unsere Gesellschaft massiv beeinflussen. Offiziell geht es um Freihandel. Doch in Wahrheit sollen neue Zäune um das Eigentum von Konzernen gezogen werden. Und es soll privatisiert werden, was bislang noch allen gehört.
Keine Sorge, dieses Buch wird Sie nicht mit Verschwörungstheorien belästigen. Ich neige nicht zu Übertreibungen. Ich bin auch nicht gegen Handel, im Gegenteil. In der Vergangenheit habe ich viele Handelsabkommen begrüßt, mich gefreut, wenn T-Shirts, Bananen und Computer billiger wurden, weil die Zölle fielen. Ich habe es beklagt, wenn Bürokratien den Unternehmern das globale Geschäft schwer machten und die großen europäischen Agrarkonzerne auf Kosten der kleinen Bauern in Afrika subventioniert wurden. Ich war immer für freien und fairen Handel, wobei die Betonung auf frei und fair liegt. Bei meiner Recherche zu den vielen Vier-Buchstaben-Abkommen bin ich jedoch auf bizarre Geschichten, Absurditäten und verblüffenden Etikettenschwindel gestoßen. Da geht es offiziell um Freihandel, in Wahrheit aber um ganz anderes. Ich werde Ihnen berichten, warum sich Regierungen nicht mehr trauen, sinnvolle Gesetze zu verabschieden, ich werde von gefährdeten Küsten, Walen und Milliardenklagen um Patente erzählen und erklären, warum die Stadt Hamburg der Firma Vattenfall erlauben musste, das Wasser der Elbe zu erwärmen. Jedenfalls fürs Erste.
«Die wirklich wichtigen Entscheidungen werden in Gremien gefällt, die keiner kennt», soll der ehemalige FDP-Politiker, Außenminister und Bundespräsident Walter Scheel einmal gesagt haben. Für den Freihandel gilt das erschreckend oft. So manches, was ich lernen musste, hätte ich nicht für möglich gehalten. Beispielsweise, wie große Konzerne heimlich die Verhandlungen der Regierungen dazu nutzen, unmittelbar oder mittelbar ihre Gewinne um Hunderte von Millionen Euro oder Dollar zu steigern. Der Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs nennt das, was wir gerade erleben, eine Globalisierung, die «von einem Prozent der Weltbevölkerung für ein Prozent betrieben wird».
Doch das eigentliche Problem sind nicht irgendwelche «bösen» Konzerne. Natürlich gehören zu den Gewinnern des Welthandels große Teile der internationalen Wirtschaftselite: weil sie billiger produzieren, das Spiel besser beherrschen als andere, weil sie sich mehr (und teurere) Anwälte leisten können und ihre Lobbyisten die Hintertüren der Regierungen kennen oder gleich die Handynummern der Minister. Viel problematischer aber ist etwas anderes: dass die politischen Eliten es stillschweigend billigen, weil Freihandel – oder das, was die Konzerne darunter verstehen – für sie zum Mantra geworden ist und sie deshalb nicht mehr so genau hinschauen, was sich inzwischen dahinter verbirgt und wem es wirklich nützt. Weil sie den Etikettenschwindel nicht erkennen oder nicht erkennen wollen.
Es gibt Sätze, die man zu Recht nicht in Frage stellt. «Sport ist gesund», ist so einer. Selbst wenn die Regel für den Einzelnen nicht immer stimmt, hat sie sich doch oft genug als richtig erwiesen. Leute, die sich bewegen, sind gesünder als Faulpelze. Meistens jedenfalls. Doch was ist mit der Behauptung, Handel mache reich und noch mehr davon noch reicher? Die wiederholen Politiker, Ökonomen und Unternehmer gern in immer neuen Varianten und verweisen dann auf das Erfahrungswissen: Der Warenaustausch mit anderen Ländern habe die Innovationskraft der Unternehmer angeregt, offene Länder seien interessanter, verrückter, wohlhabender. Ist nicht Deutschland an sich ein schlagendes Beispiel dafür? Wenn wir unsere Maschinen nicht in die ganze Welt verkaufen könnten, ginge es uns schlechter. Das zeigt, wie gut es wäre, auch künftig Hindernisse aus dem Weg zu räumen.
Was ist an dieser Behauptung richtig und was falsch? Ich habe nach den heimlichen Strategien der Gewinner der Globalisierung gesucht und bin der Frage nachgegangen, was daraus folgt. Denn selbst, wenn wir in der Vergangenheit durch eine bestimmte Strategie reich geworden sind, muss das ja nicht automatisch für die Zukunft gelten. Vor allem, wenn neue, ganz andere Regeln gesetzt werden sollen. Außerdem: Wer ist eigentlich dieses «Wir»? Wer gewinnt durch Handel, wer trägt die Kosten: die Deutschen, die Unternehmer, die Arbeitnehmer, die Verbraucher, die Kinder?
Zum ersten Mal stellen sich in diesem Land sehr viele Menschen diese Fragen. Niemals zuvor gab es in Deutschland so viel Unsicherheit, so viel Protest wegen eines geplanten Freihandelsabkommens wie heute. Seit die Europäische Union (EU) das TTIP-Abkommen mit den USA verhandelt, versiegt bei vielen Bürgern der naive Glaube, dass, was in der Vergangenheit richtig war, auch für die Zukunft noch gilt. Da protestieren nicht nur die üblichen Verdächtigen. Da sorgen sich Orchestermusiker um ihre Zukunft, Landräte und mittelständische Unternehmer.
Mit Recht. Denn die Medizin, die in den vergangenen Jahrzehnten gut gewirkt hat, wird in zu hoher Konzentration gefährlich. Ärzte kennen die Wirkung der Überdosierung gut. Ganz ähnliche Phänomene haben die Banker erlebt. Pumpt die Zentralbank Geld in die Wirtschaft, kann sie die ankurbeln. Übertreibt sie es, verpufft der Effekt und schlägt sogar ins Gegenteil um. Er schadet. Auf diesen Punkt bewegt sich Handelspolitik zu. Durch die Abkommen, die die EU will: TTIP mit den USA, CETA mit Kanada und TISA, das gleich mit 23 anderen Staaten abgeschlossen werden soll.
All diese Abkommen werden den Schutz der Umwelt erschweren, den Spielraum der Kommunen verringern, die soziale Sicherheit gefährden. Sie werden das auf den folgenden Seiten anhand vieler, sehr konkreter Beispiele dokumentiert finden. Sie werden Geschichten von Fröschen, Cowboys oder Spermien lesen – und was sie mit der Handelspolitik, mit TTIP und TISA zu tun haben. Der Einwand, dass man, weil es diese besonders umstrittenen Verträge ja noch gar nicht gebe, auch gar nichts über ihre Folgen sagen könne, stimmt nicht. Es existieren ja bereits Vorschläge der EU und auch ältere Verträge, auf die aufgebaut wird. Denn das, was derzeit verhandelt wird, ist ja nur die Spitze des Eisberges. Sie werden deswegen in diesem Buch auch die Vorgänger und ihre sehr konkreten Folgen beschrieben finden.
Tatsächlich können uns nämlich auch Abkommen, die längst in Kraft sind und von denen die meisten noch nie etwas gehört haben, schon bald Schadensersatz in Milliardenhöhe kosten: beispielsweise die Europäische Energiecharta. Möglich wird das durch ISDS. Diese vier Buchstaben stehen für «investor-state dispute settlement» und damit für eines der irrsten Projekte der modernen Zeit: Es ist der Versuch von Anwaltskanzleien und großen Konzernen, rund um die Welt ein rechtliches Netzwerk zu spannen, durch das sie Staaten vor Schiedsstellen auf milliardenschweren Schadensersatz verklagen können. Das passiert schon jetzt immer häufiger, und die Summen, um die es geht, werden immer höher. Noch ist Deutschland davon weitgehend verschont geblieben. Deswegen werden Sie lesen können, was heute schon in anderen Ländern passiert, die uns einen Schritt voraus sind – auf dem Weg in die schöne neue Welt des vermeintlichen Freihandels.
Kanada wurde im Frühjahr 2015 zu 300 Millionen Dollar Schadensersatz verurteilt, weil seine Bürger in der Fundy-Bucht in Neuschottland keinen Steinbruch wollten. Die Grundlage dafür bietet das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA. Die Neuseeländer dürfen von ihren lokalen Radios nicht mehr verlangen, dass diese auch lokale Nachrichten senden müssen; das liegt am GATS-Vertrag. Und Uruguay braucht Finanzhilfen von Bill Gates, um sich die Anwälte leisten zu können, die es in Washington beschäftigen muss: Das Land wurde dort von der Zigarettenindustrie verklagt, weil es Warnhinweise auf Packungen hatte drucken lassen. Die juristische Rechtfertigung all dieser Fälle war jeweils ein Freihandelsvertrag. Es gibt noch viele solcher Fälle; manche sind derart absurd, dass man bei der Lektüre zugleich lachen und weinen möchte.
Doch die wirklich große und bislang völlig unterschätzte Gefahr der modernen Handelspolitik liegt woanders: Es ist die Einbahnstraße, in die sie Gesellschaften zwingt. Denn es gibt für Handelspolitiker und deren Abkommen immer nur eine Richtung: mehr Markt. Es öffnen sich durch TTIP und Co nicht nur «die Märkte» für die Unternehmer, wie Angela Merkel, Sigmar Gabriel und die EU-Kommissare so gern behaupten. Da werden in Wahrheit neue Regeln gemacht, die sich nicht mehr ändern lassen. Die schützen aber nicht die Bürger. Sie schützen das private Eigentum und die Rechte der...