Von ver(w)irrten Ärzten
Die meisten Mitarbeiter auf der allgemeinpsychiatrischen Aufnahmestation tragen Zivil. Offiziell soll es die Krankenhausatmosphäre abmildern und ein angenehmes Klima schaffen. Inoffiziell spart die Klinik dadurch Dienstbekleidung und Wäschereikosten.
Wenn man Glück hat, tragen die Mitarbeiter wenigstens irgendwo am Körper ein Namensschildchen, aber wenn man Pech hat, weiß man nicht, ob man einen Arzt oder einen Patienten vor sich hat. Manchmal hat man auch beides in einer Person.
Wie im Fall des Internisten Doktor Wagner, der aufgrund einer rasant fortschreitenden Demenz zu uns kam. Doktor Wagner war weit über siebzig, aber seine Praxis existierte noch. Als die ersten Symptome der Alzheimer-Erkrankung bei ihm auftraten, versuchte er mit allen Mitteln, dagegen anzukämpfen – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Als Arzt hatte er keine Schwierigkeiten, sich sämtliche Medikamente zu besorgen, die der Markt hergab – sogar solche, die noch gar nicht zugelassen waren.
Genützt hat es ihm leider gar nichts. Nachdem er sich zu Hause nicht mehr zurechtfand und mehrfach hilflos von der Polizei auf der Straße aufgegriffen worden war, sah seine Ehefrau keine andere Möglichkeit mehr, als ihn in die Klinik zu bringen. Hier begegnete ich Doktor Wagner zum ersten Mal. Er war ein charmanter, freundlicher Mann, aber sein Kurzzeitgedächtnis war ausgelöscht. Er erzählte mir gern Geschichten aus seiner Jugend, und es war bemerkenswert, wie er seine verbliebenen Gedächtnisinseln nutzte, um die Demenz so weit wie möglich zu überspielen. Wenn er nicht mehr weiterwusste, sagte er einfach: «Wenn Sie erlebt hätten, was ich alles erlebt habe. Ach ja, das Leben …» Dazu lächelte er so gewinnend, dass die meisten Menschen mitlächelten und keine weiteren Fragen mehr stellten.
Da Doktor Wagner zudem dazu neigte, plötzliche Spaziergänge zu unternehmen und sich dabei hoffnungslos zu verlaufen, war die Unterbringung auf der geschlossenen Station unumgänglich. Am liebsten hätten wir ihn sofort auf die geschlossene Station der Gerontopsychiatrie, der Alterspsychiatrie, verlegt, doch dort war kein Bett frei.
Doktor Wagner störte das nicht. Er fügte sich wie die meisten Patienten sehr schnell auf der Aufnahmestation ein. Die Hilfsbereitschaft unter den Patienten ist trotz der unterschiedlichen Diagnosen sehr groß. Während es für junge Ärzte und Pflegekräfte schwierig ist, an die eigenen Grenzen geführt zu werden, da logische Argumente einen nicht weiterbringen, ist dies für die Patienten das geringste Problem. Ich vermute, es liegt daran, dass die Patienten viel weniger Angst davor haben, etwas falsch zu machen. Wenn sie etwas am Verhalten ihrer Mitpatienten nicht verstehen, dann fragen sie einfach. Junge Ärzte und Pfleger sind oft viel zu befangen.
Darf ich den Patienten wirklich fragen, warum er sich den Kopf mit Butter einschmiert und danach mit Alufolie umwickelt? Oder soll ich lieber so tun, als sei das ganz normal, um ihn nicht zu verärgern?
Am Schluss steht der junge Berufsanfänger mit großen Augen vor dem Patienten und sagt gar nichts mehr.
Natürlich darf man fragen! Wie soll man sonst jemals die Vorstellungswelt der Patienten und ihre Bedürfnisse verstehen?
Dann erfährt man auch, dass Butter und Alufolie den Kopf vor gefährlichen Strahlen schützen. Wenn man Glück hat, bietet der Patient seine Hilfe an, damit man sich selbst so einen Strahlenschutz basteln könnte. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, sich zu bedanken und dem Patienten zu erklären, dass es jetzt etwas Besseres gegen Strahlen im Kopf gibt: Tabletten!
Doktor Wagners Bedürfnisse waren dagegen leicht zu verstehen. Jeder konnte nachvollziehen, dass er mit seiner Frau telefonieren wollte.
In den Zeiten vor dem Siegeszug des Handys gab es auf allen psychiatrischen Stationen spezielle Telefonzellen. Die Patienten teilten dem Pflegepersonal die Nummer mit, die sie anrufen wollten, dann wurde das Gespräch durchgestellt. Natürlich gebührenpflichtig. Die Telefoneinheiten wurden von der Verwaltung ganz genau mitgezählt und den Patienten bei Entlassung auf die Rechnung gesetzt. Diese Telefone gibt es bis heute, denn noch immer weigern sich einige Menschen standhaft, ein Handy zu besitzen. (Allerdings stirbt die Spezies der Handylosen langsam aus – auch dank der Kliniktelefone, denn wenn diese Menschen ihre erste Klinik-Telefonrechnung in der Hand halten und feststellen, dass ein Ortsgespräch vom Krankenhaus aus so teuer ist, als würde man nach Timbuktu telefonieren, haben sie bei ihrem nächsten Aufenthalt garantiert ein Handy dabei.)
Doktor Wagner, der in den neunziger Jahren bei uns war, hatte noch kein Handy. Er erschien morgens nach dem Frühstück pünktlich vor dem Stationszimmer und bat, mit seiner Frau verbunden zu werden. Kein Problem. Nach ungefähr einer halben Stunde intensiven Telefonats legte er auf. Dann blieb er nachdenklich vor dem Telefon stehen. Ich saß gerade im Stationszimmer und ging die Akten durch, als ich hörte, wie er den Stationsleiter Erwin fragte: «Kann ich jetzt bitte mit meiner Frau telefonieren?»
Erwin starrte Doktor Wagner verblüfft an. «Aber Sie haben doch gerade erst mit ihr telefoniert.»
Doktor Wagner zog ein pikiertes Gesicht, das einem englischen Gentleman alle Ehre gemacht hätte. «Was erzählen Sie denn da? Ich habe seit zwei Tagen nicht mehr mit meiner Frau gesprochen.»
«Stellen Sie ihn durch», raunte ich Erwin zu, ehe es zu einer endlosen Diskussion kam. «Seine Frau wird ihm schon sagen, dass er sie gerade erst angerufen hat.»
Mein Plan ging leider nur halb auf. Zwar erklärte Frau Wagner ihrem Mann, dass sie vor wenigen Minuten bereits einmal gesprochen hätten, aber kaum hatte er aufgelegt, hatte er das schon wieder vergessen.
«Könnte ich jetzt bitte mit meiner Frau telefonieren?», fragte er freundlich.
«Das Telefon ist doch noch warm von Ihrem letzten Anruf», murrte Erwin.
«Das kann nicht sein, ich habe seit zwei Tagen nicht mehr mit meiner Frau gesprochen.»
Nach einem Dutzend solcher Anrufe war nicht nur Erwins Geduld erschöpft, sondern auch die der Gattin. Sie untersagte uns strikt, mehr als drei Telefonate pro Tag durchzustellen. Doktor Wagner wurde ärgerlich, beklagte sich lautstark darüber, dass wir ihn nie mit seiner Frau telefonieren ließen, und schimpfte über das unfreundliche Personal.
Es gibt nur wenig, das frustrierender ist, als jemandem ohne Kurzzeitgedächtnis erklären zu wollen, was gerade eben passiert ist. Plötzlich steht man als Lügner da, und je verzweifelter man versucht, sein Gegenüber zu überzeugen, umso wütender wird der. Bei jemandem mit einer schweren Demenz kommt man ganz schnell an seine Grenzen.
Deshalb ein Tipp an alle Leser, die befürchten, irgendwann selbst an einer Demenz zu erkranken: Trainieren Sie am besten mit Ihren nahen Angehörigen Schlüsselwörter. Wenn Sie damit früh genug anfangen, haben Sie das vielleicht in zwanzig Jahren in Ihrem Langzeitgedächtnis neben Ihren Kindheitserinnerungen verinnerlicht. Und dann wissen Sie vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht, dass das Wort «Marmeladentopf» bedeutet, dass man Ihnen alles schon mal erklärt hat, aber Sie inzwischen dement geworden sind und es deshalb wieder vergessen haben.
Sollten Sie hingegen Angehöriger eines Dementen sein, der einfach nicht glauben will, was Sie ihm erzählen, versuchen Sie, sich in seine Lage hineinzuversetzen. Was würden Sie denken, wenn Ihnen jemand etwas einreden will, an das Sie sich nicht erinnern können? Wieso erzählt der mir solchen Mist? Ich weiß doch, dass das nicht stimmt! Will mich der junge Spund verarschen?
Na, merken Sie, wie der Aggressionspegel bei dieser Vorstellung steigt? Das ist der Grund, warum Menschen mit einer Demenz aggressiv werden, auch wenn sie früher friedliche Zeitgenossen waren. Es ist einfach frustrierend, wenn alle Welt behauptet, man hätte gerade mit seiner Frau telefoniert, aber man selbst doch am besten weiß, dass das gar nicht stimmt!
Das Einzige, was hilft, ist Ablenkung. Lenken Sie Ihren dementen Angehörigen mit irgendetwas ab. Sei es ein Spaziergang oder ein Marmeladenbrötchen.
Auch Doktor Wagner lenkte sich schließlich erfolgreich ab. Am zweiten Tag seines Aufenthaltes fragte er, warum das Arztschild von seiner Zimmertür entfernt worden sei, denn er war davon überzeugt, dass dies seine Praxis sei. Nachdem wir eine Weile vergeblich versucht hatten, ihm zu erklären, wo er war, nahm einer der Pfleger einen weißen DIN-A4-Bogen und schrieb mit schwarzem Filzstift «Dr. med. Wagner» darauf. Dann klebte er das Schild mit Tesafilm an der Tür fest. Doktor Wagner war zufrieden. Manchmal kann es ganz einfach sein.
Dachten wir …
In der Übergabe hieß es, Doktor Wagner wolle nicht mehr ständig mit seiner Frau telefonieren und sei sehr ruhig geworden.
«Vermutlich ein Zeichen der Besserung», stellte unser Oberarzt Doktor Krumm erleichtert fest. «Er fängt an, sich einzugewöhnen.»
Da hatte Doktor Krumm vollkommen recht. Doktor Wagner hatte sich eingelebt. Er praktizierte sogar wieder …
Kurz nach der Übergabe bestürmten drei Patienten den Oberarzt.
«Doktor Krumm, ich muss mit Ihnen sprechen!», forderte der erste. «Der Doktor Wagner hat gesagt, ich soll diese Tabletten nicht länger nehmen!»
«Genau, die haben schädliche Nebenwirkungen», pflichtete ihm der zweite bei.
«Und außerdem nützen die sowieso nichts», beharrte Nummer drei.
Doktor Krumm wich irritiert zurück.
«Wie kommen Sie dazu, mit Doktor Wagner über Ihre Tabletten zu...