EINLEITUNG
Handwerker, Wundärzte und Chirurgen
Kriegsverwundungen nach Ambroise Paré. Abbildung aus seinem Buch Opera chirurgica (1594).
In einer Nacht im Jahre 1537, nach einem langen Kriegstag in der Schlacht um Turin, wurde der junge französische Militärchirurg Ambroise Paré von ernsthaften Sorgen geplagt. Das Schlachtfeld war mit Opfern von Hakenbüchsen- und Gewehrschüssen übersät gewesen, Ambroise aber hatte noch nie zuvor eine Schusswunde behandelt. In einem Buch hatte er gelesen, man solle wegen des giftigen Schießpulvers kochendes Öl in die Wunde gießen. Daher hatte er das brodelnde Fett mit einer Kelle in die blutigen Fleischwunden geschöpft, wo es wie in einer Frittierpfanne aufspritzte. Die Zahl der Verwundeten war jedoch so groß, dass ihm das Öl schon auf halbem Wege über das Schlachtfeld ausgegangen war. Nun trieb ihn die Sorge um das Los der restlichen Soldaten um, deren Wunden er nur notdürftig mit einer Salbe aus Rosenöl und Eigelb bestrichen hatte. Die ganze Nacht hindurch musste Ambroise die Schreie der Männer, die auf dem Schlachtfeld mit dem Tode rangen, mit anhören und hielt das für seine eigene verdammte Schuld. Bei Tagesanbruch fuhr ihm der Schrecken in die Glieder, als er erkannte, dass er in der Nacht die Schreie jener Soldaten vernommen hatte, die er mit kochendem Öl behandelt hatte, nicht die Schreie der anderen Verwundeten. Ambroise Paré sollte zur Wundversorgung nie wieder heißes Öl verwenden, er wurde ein großer Chirurg. Der erste Schritt zur modernen Chirurgie war getan.
Die Chirurgie muss irgendwann wie etwas ganz Selbstverständliches entstanden sein. Seit es den Menschen gibt, hatte er Leiden, die »mit der Hand« geheilt werden mussten. Dafür brauchte man einen Chirurgen, wörtlich: einen »Handwerker«. Kämpfen, jagen, umherziehen, nach Wurzeln graben, vom Baum fallen, gejagt werden: Das harte Leben unserer Vorfahren barg viele Risiken. Die Versorgung einer Wunde ist daher nicht nur die elementarste chirurgische Handlung, sondern wohl auch die erste. Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass eine schmutzige Wunde mit Wasser ausgespült, eine blutige Wunde abgedrückt und eine offene Wunde abgedeckt werden muss. Stellt man anschließend fest, dass die Wunde verheilt, wird man es beim nächsten Mal wieder genauso machen. Im Mittelalter wurde dieser gesunde Menschenverstand jedoch durch überlieferte Weisheiten getrübt. Man sah nicht auf das Ergebnis, sondern darauf, was ein bedeutender Vorfahr in einem alten Buch dazu geschrieben hatte. Das führte dazu, dass Wunden nicht gesäubert, sondern mit Brenneisen oder kochendem Öl versengt und mit schmutzigen Lappen verbunden wurden. Niemand fragte sich, ob denn gebratenes Fleisch überhaupt noch zu heilen vermochte. Erst nach dieser dunklen Zeit gewann in dieser schlaflosen Nacht von Turin der gesunde Menschenverstand wieder die Oberhand, und es entstand eine Form der auf Erfahrung basierenden Chirurgie.
Zurück zum Anfang. Wann wird dem Menschen wohl die Eingebung gekommen sein, eine Infektion, bei der sich Eiter gebildet hat, eine eitrige Wunde etwa, eine Pustel, ein Geschwür oder einen Abszess aufzuschneiden? Das ist das zweite Basisverfahren in der Chirurgie: das Abfließenlassen von Eiter. Dieser Vorgang wird drainieren genannt. Man braucht dazu nur etwas Scharfes, zum Beispiel einen Akaziendorn, die Spitze eines Feuersteins, einen bronzenen Dolch oder ein Skalpell aus Stahl. So kam das Messer in die Chirurgie. Und deshalb hängt bei uns Chirurgen die alte lateinische Weisheit Ubi pus, ibi evacua (Wo Eiter ist, muss drainiert werden) noch immer über dem Bett.
Die Versorgung von Knochenbrüchen ist das dritte Basisverfahren der Chirurgen. Vor Wölfen flüchten, ein Mammut jagen, stolpern, auf Raubzug gehen, von einer Keule niedergestreckt werden: Das prähistorische Leben bot wahrlich genügend Möglichkeiten, um sich die Knochen zu brechen. Ob wohl damals schon jemand so klug gewesen ist, einen gebrochenen Knochen zu richten, wie schmerzhaft das auch gewesen sein mag? Es war sicherlich nicht jedermanns Sache, denn man musste sich das erst einmal trauen, und – viel wichtiger – der Patient musste es auch zulassen. Nur wer Mut und Autorität mitbrachte und zudem noch über genügend Wissen und Erfahrung verfügte, konnte dieses Vertrauen gewinnen. Außerdem musste man geschickt sein, bestenfalls der Geschickteste in der Gruppe. Dann wurde man zu diesem Handwerk ausersehen, konnte zu einem cheirourgos (griechisch von cheiros für Hand und ergon für Werk, Arbeit) werden, zu einem Chirurgen.
Die Versorgung von Notfallpatienten ist ein Teil der Chirurgie geblieben. Der Umgang mit erheblichen Blutverlusten, Verletzungen und Wunden, das Sicherstellen der Atmung und die Stabilisierung eines Patienten in akuter Lebensgefahr gehören noch immer vornehmlich zu den Aufgaben eines Chirurgen in der Notaufnahme eines Krankenhauses.
Die Grundlagen der Chirurgie sind also so übersichtlich wie handfest. Wer Wunden, Abszesse und Brüche behandelt und Menschen in Not versorgt, kann mit der Dankbarkeit seiner Patienten rechnen oder, falls etwas schiefgeht, zumindest mit dem Verständnis der Angehörigen. Der nächste Schritt, der Schritt zu einer echten Operation, ist da schon ein ganz anderes Wagnis. Man versorgt keine Wunde, man führt sie herbei. Als kluger Chirurg (und als kluger Patient) wägt man das Risiko dabei ab. Bin ich dazu in der Lage? Geht es meistens gut aus oder eher schlecht? Gibt es Alternativen? Was wird aus dem Patienten, wenn ich nichts unternehme? Was wird aus mir, wenn es schiefgeht? Es geht immer darum, eine Balance zwischen den beiden Zielen zu finden: sein Bestes zu geben und Schaden zu vermeiden. Leichter gesagt als getan … Der römische Konsul Marius ließ sich von einem Chirurgen die Krampfadern entfernen. Der Patient überlebte und regierte noch jahrelang. Der Chirurg Ranby hielt es für vernünftig, mit seinem Messer in den Nabelbruch der englischen Königin Caroline zu stechen, was zur Folge hatte, dass seine Patientin einen elenden Tod starb. Trotzdem wurde der römische Kollege vom Konsul getadelt (und durfte dessen zweites Bein nicht operieren) und John Ranby für seine dem Hof erwiesenen Dienste geadelt. Die Chirurgie ist ein launisches Fach.
Wunden, Knochenbrüche, Eiterinfektionen und Operationen hinterlassen Narben, während Krankheiten wie Erkältungen, Durchfall und Migräne vorübergehen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Für diese unterschiedlichen Möglichkeiten, alles wieder »in Ordnung zu bringen«, gibt es im Niederländischen zwei verschiedene Ausdrücke: Von »helen« (heilen) spricht man bei Operationen und der Behandlung von Wunden, Schwellungen und Brüchen, von »genezen« (kurieren) bei der Behandlung von Krankheiten. Ein Chirurg heilt, und ein Doktor kuriert. Daher kommt die niederländische Bezeichnung »heelmeester« für Chirurg, im Gegensatz zum »geneesheer«, dem Arzt, der sich um die Genesung des Patienten bemüht. Chirurgen sind übrigens schon lange beides, kundige Ärzte und handwerklich arbeitende Chirurgen. Sie beschränken sich allerdings auf die Behandlung typischer chirurgischer Erkrankungen, die nur eine Minderheit aller Erkrankungen darstellen. Für die Behandlung der meisten Krankheiten, die einen Menschen heimsuchen können, sind nämlich weder Chirurgen noch Operationen erforderlich. Die Dienste, die ein Wundarzt im 16. Jahrhundert in Amsterdam zu bieten hatte, waren sogar so simpel und beschränkt, dass er seine Arbeit als einfacher Gewerbetreibender in einem Ladengeschäft verrichten konnte. Außerdem war die lokale Berufsgruppe der Amsterdamer Handwerkschirurgen noch so unbedeutend, dass sie mit drei anderen belanglosen Handwerken in einer Gilde zusammengefasst wurde: den Schlittschuhmachern, den Holzschuhmachern und den Haarschneidern.
Bis ins 18. Jahrhundert hinein machten Wunden, Eiter und Brüche in der kurzen Reihe der chirurgischen Erkrankungen, die Chirurgen behandelten, den größten Teil aus. Diese knappe Liste ließe sich noch durch das Herausschneiden und Versengen ungeklärter Wucherungen und Geschwüre und natürlich den Aderlass ergänzen, die populärste aller chirurgischen Handlungen, die allerdings mehr mit Aberglauben als mit der eigentlichen Krankheit zu tun hatte. Stellt man das alles in Rechnung, war Chirurgie eigentlich nicht mehr als ein langweiliges und simples Fach. Wäre ich damals Chirurg gewesen, hätte es mir ganz sicher weniger Spaß gemacht als heute.
Mit dem Fortschreiten der technischen Entwicklung und der Erfahrung in der Chirurgie nahm auch die Anzahl der Erkrankungen zu, die sich chirurgisch behandeln ließen. Ein bedeutsamer Grund für viele typische chirurgische Erkrankungen liegt in der einfachen Tatsache, dass der Mensch aufrecht geht. Dieser erste Schritt im aufrechten Gang vor circa vier Millionen Jahren brachte gleich eine Reihe von Problemen mit sich, die bis heute für einen Großteil des chirurgischen Behandlungsspektrums verantwortlich sind: Krampfadern, Leistenbrüche, Hämorrhoidenleiden, die Schaufensterkrankheit, Verschleiß der Hüfte, Hernien, Sodbrennen, Meniskusrisse – sie alle haben damit zu tun, dass wir auf zwei Beinen gehen.
Zwei chirurgische Erkrankungen, die heute einen bedeutsamen Teil der Chirurgie ausmachen, plagen den Menschen in diesem Maße jedoch noch nicht allzu lange: die relativen Newcomer Krebs und Arterienverkalkung. Sie haben sich in den letzten Jahrhunderten unter dem Einfluss eines neuen, von einem Übermaß an Kalorienzufuhr und Tabakgenuss geprägten Lebensstils eingeschlichen. Außerdem treten diese beiden Krankheiten meistens erst in...