Der Tag ist kaum angebrochen an diesem Sommermorgen des Jahres 1952. Thomas Huber, ein Bauernjunge aus dem Chiemgau, radelt wie ein Verrückter nach Süden, Richtung Berge. Er ist 13 Jahre alt und hat den Kopf voller Träume. Vom Hügel nahe seines Heimatdorfs Palling aus hat er schon oft die Chiemgauer Alpen betrachtet – die erste Gebirgsgruppe, die sich am Horizont abzeichnet. Es sind vierzig Kilometer bis dorthin, aber das ist ihm herzlich egal. Vor ein paar Wochen hat ein Cousin ihn zu einer Hüttenübernachtung mitsamt einer ersten einfachen Gipfelbesteigung mitgenommen. Seitdem hat Thomas Feuer gefangen, er sehnt sich nach den Bergen. Die Leute aus dem Dorf halten ihn für verrückt: Jeden Abend übt er in den maroden Felsen des alten Pallinger Steinbruchs das Klettern, immer mit dem Risiko, sich dabei den Hals zu brechen. Seine Eltern, strenge und traditionsgebundene Bauern, schimpfen mit ihm.
An diesem Morgen lässt er den elterlichen Hof, der jetzt schon schwer auf den Schultern des Heranwachsenden lastet, einfach mal hinter sich. Er hat nur eine Schwester, und so fällt ihm die Aufgabe zu, den Betrieb weiterzuführen. Er weiß schon, dass er keine höhere Schule besuchen kann und erst recht nicht, wie er es sich eigentlich erträumt hätte, Musik studieren wird – er, der so gern singt und voller Eifer mehrere Stunden am Tag Geige spielt. An diesem Morgen macht er sich einfach davon. Er tritt in die Pedale, als sei der Leibhaftige hinter ihm her, nur ist er magnetisch angezogen von der Hörndlwand, einem der schönsten Kletterberge in den Chiemgauer Alpen. Thomas hat kein Topo zur Planung und Orientierung, er hat keine Ausrüstung und keinerlei technisches Know-how – er hat nur die verrückte Zuversicht, dass er klettern kann, schließlich ist er ja die Wände im Steinbruch hochgekommen. Ihn treibt ein unbändiges Verlangen.
Bald ist er am Fuß des Berges angelangt und begutachtet ihn. Oberhalb des Sockels verspricht ein etwa 200 Meter hoher vertikaler Kamin einen leichten Aufstieg zum Gipfel. Er überwindet also den Wandfuß und begibt sich kurz darauf in den Kamin. Ohne jede Angst, weder vor dem Abgrund, der sich nach und nach unter ihm auftut, noch vor den technisch anspruchsvollen Passagen, die ihn erwarten, klettert er free solo, ohne Seil und ohne Erfahrung. Ohne es zu wissen, ist er in den Redwitz-Kamin eingestiegen, eine klassische Klettertour im vierten Grad, 1912 durch den Münchener Alpinisten Willi von Redwitz eröffnet. Nach etwa einem Drittel des Kamins stößt Thomas auf einen Überhang. Unmöglich, hier weiterzukommen: Die ausgesetzte Passage ist zu anspruchsvoll für ihn. Doch die letzten Meter, die er bis zum Erreichen des Felsblocks geklettert ist, kommt er nicht wieder zurück, dafür reicht sein spärliches technisches Repertoire nicht aus. Ihn erfasst Panik. Wenn er hier stürzt, ist er tot. Wie in Trance, unter Adrenalin, gelingt ihm dann doch der Weg zurück, und er steht mit wild klopfendem Herzen am Fuß des Berges. »Ich weiß nicht, wie ich da runtergekommen bin«, erzählt Thomas Huber heute mit einem Lächeln.
Der wie durch ein Wunder glimpflich überstandene Misserfolg dämpft nicht etwa seine aufkeimende Leidenschaft, er bestärkt ihn in seinem Willen: Ich werde Bergsteiger. Auf der langen Fahrradfahrt zurück nach Hause beschließt er: »So geht das nicht. Ich muss das Klettern lernen, und zwar richtig.« Von seinen Eltern kann er keinerlei Unterstützung erwarten, sie wollen von dieser Marotte ihres Sohnes nichts hören. Erst drei Jahre später, mit 16, nachdem er die Schule verlassen musste, um auf dem Hof zu arbeiten, zahlt ihm seine Tante Katarina, die so gern reist und so neugierig und offen durch die Welt geht, die Mitgliedschaft bei der Alpenvereinssektion Traunstein. Ab da verbringt Thomas seine gesamte Freizeit in den Bergen und gehört bald zu den aktivsten Bergsteigern seiner Generation.
Dabei hat er niemals die Abenteuerlust, den Ehrgeiz und die Begeisterung verloren, die ihn mit 13 Jahren in den Redwitz-Kamin einsteigen ließen. Mehr noch, er hat sie seinen beiden Söhnen Thomas und Alexander unvermindert weitergegeben. Man kann den Weg der beiden Jungen an die Spitze der Bergsteigerkunst nicht nachvollziehen, wenn man die Leidenschaft ihres Vaters nicht kennt. Es gibt nicht zwei Hubers, sondern drei.
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Anfang der Siebzigerjahre ist der unermüdliche Thomas Huber ein glücklicher und aktiver Mensch. Er betreibt den kleinen Hof in Palling inzwischen nach seinen eigenen Vorstellungen, zusammen mit seiner Frau Maria. Er hat die tatkräftige, fröhliche kleine Frau mit den braunen Haaren zu Beginn der Sechzigerjahre im Dorf kennengelernt. Maria ist das dritte von sieben Kindern. Ihre Eltern, Landwirte in einem Weiler der Gemeinde Palling, waren »sehr streng«, erzählt sie. Mit 14 musste sie die Schule verlassen, um für die Arbeit auf dem Hof zur Verfügung zu stehen. Mit dem Tausendsassa Thomas kann die Zwanzigjährige schließlich ihren Horizont erweitern. »Er hat mir das Skifahren, das Schwimmen, die Berge gezeigt. Ich hatte eine schöne Jugend«, berichtet sie mit einem breiten Lächeln. Und sie beweist Mut: Von ihrem Mann gesichert, meistert sie schöne Aufstiege, so etwa 1964 die imposante Nordwand am Großglockner, und unzählige Touren auf Skiern oder zu Fuß. Sie liebt die Berge und das Bergsteigen.
Ihr Mann ist in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder in den Alpen unterwegs gewesen, er nutzt dazu jede kleine Pause, die ihm sein harter Beruf gönnt. Zum Leidwesen seiner alten Eltern und der Nachbarn schwänzt er die sonntägliche Messe und lässt Maria – mit deren Zustimmung und absolutem Vertrauen er immer rechnen kann – häufig mit den 120 Mastrindern allein, um sich auf Bergabenteuer zu begeben. Mit seinem Motorrad, einer 250er-Horex, und seinen Seilkameraden durchkämmt er die Nordalpen, vom überragenden Watzmann, dem König der Berchtesgadener Alpen, bis zum deutsch-österreichischen Wetterstein, und unternimmt Abstecher in die österreichischen Ostalpen, zum imposanten Wilden Kaiser, dem Liebling der Wiener und Münchener Schule Anfang des 20. Jahrhunderts. Regelmäßig schafft er es auch in das Mont-Blanc-Gebiet, dort ist er einer der Ersten, der die Nordwand von Les Droites an einem Tag durchklettert, ohne Biwak. Außerdem bezwingt er viele der bekannten Nordwände der Alpen wie die Grandes Jorasses über den Walkerpfeiler. Natürlich durchstreift er auch die Dolomiten, wo er unter anderem die berühmten Nordwände der Drei Zinnen klettert. Im Wallis gelingt ihm die klassische Nordwand am Matterhorn. Thomas Huber ist ein engagierter, erfahrener und belesener Bergsteiger. Seine Helden sind die großen Wegbereiter: Dülfer, Preuß, Cassin, Buhl, Bonatti, Rébuffat …
Maria und er haben drei Kinder: Der 1966 geborene Thomas erbt traditionsgemäß den Vornamen seines Vaters, Alexander wird 1968 geboren und die Tochter Karina 1974. Die drei verbringen ihre Kindheit draußen, im Freien: Wenn sie nicht in der Schule sitzen, sind sie meist auf dem Feld, im Stall oder im Wald und helfen ihren Eltern. Die sind jedoch bemüht, ihren Kindern nicht das Joch aufzubürden, das sie selbst tragen mussten. Die Huber-Kinder sind im Skiklub, sie haben Musikunterricht, Alexander spielt Handball, und keiner von ihnen soll die Schule vernachlässigen: Studieren ist Pflicht!
Vater Thomas hegt über Jahre den Traum, Bergführer zu werden, doch er wagt den Schritt nicht, obwohl Maria ihn dazu ermuntert. Mitte der Siebzigerjahre ist er jedoch gezwungen, sich eine neue Tätigkeit zu suchen, denn der Hof ist zu klein und die wirtschaftliche Not zu groß. In Abendkursen bildet sich Thomas über drei Jahre weiter, steht morgens und abends im Stall – und bekommt anschließend eine Stelle bei der Traunsteiner Sparkasse, die er letztendlich leiten wird! Eine schöne Wiedergutmachung für den erzwungenen Schulabgang mit 15, aber erkauft mit einem enormen Arbeitsaufwand: Maria und er sind in diesen Jahren kaum zur Ruhe gekommen. Als Thomas die Stelle bei der Sparkasse antritt, können sie die Rinderaufzucht aufgeben, sie verkaufen die Herde und reduzieren den Betrieb auf die Getreideproduktion und Forstwirtschaft. Ihre Tatkraft und ihren Erfolgswillen aber geben sie an ihre Kinder weiter.
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Die Huber-Kinder stehen an jedem Winterwochenende auf den Brettern und nehmen an zahllosen Skirennen in den Chiemgauer Alpen teil. Thomas ist neun, Alexander sieben, als ihr Vater die beiden auf die ersten Skitouren mitnimmt. Diese Ausflüge werden mit jedem Winter länger und führen immer höher. In den bayerischen Voralpen und Alpen gibt es praktisch keine Gletscher oder auffälligen prominenten Berge, daher führen die Unternehmungen die Hubers bald weiter von zu Hause weg, werden höher und steiler.
Im Sommer umwandert Maria mit den drei Kindern den Gipfel, den der Vater derweil mit seinen Seilkameraden besteigt. Die Aura dieses Bergsteigervaters wirkt sehr stark auf die beiden Jungen. Er nährt ihre Begeisterung mit eigenen Geschichten, aber auch mit den Erzählungen von großen Kletterern. Die Bibliothek der Familie umfasst alle großen Klassiker der Bergliteratur. Die Brüder verschlingen diese Bücher. Die Skirennen und Handballspiele erscheinen ihnen bald langweilig. »Das Bergsteigen hatte viel mehr als nur Wettkämpfe zu bieten: Es hatte für mich etwas Wildes an sich, etwas, das Freiheit und Abenteuer versprach«, schreibt Alexander viele Jahre später.
Mit elf Jahren muss Thomas nicht drängeln, damit sein Vater ihn auf die erste richtige Tour mitnimmt: Es geht zur Untersberg-Südwand, einer der schönen Wände in den Berchtesgadener Alpen. Der Junge ist begeistert. Im folgenden Jahr führt der Vater seinen Ältesten zur unvermeidlichen Hörndlwand in den...