2 Das Leben mit Alk
Jetzt kennen wir den Menschen in jedem Aggregatzustand: angetrunken, betrunken und ertrunken. Bis auf den letzten Zustand begegnen wir allen Schattierungen von Schwips bis Rausch fast täglich und überall: In Büros wird angestoßen, in Fußgängerzonen an Feinkost-Stehtischen lungern nippende Menschen, auf Feiern aller Art wird eingeschenkt, und jedes Wochenende übergeben sich Milliarden Menschen in Blumentröge und Rabatten und verlieren Führerschein oder Gesicht. Es wird also Zeit, mit der Gretchenfrage ins Haus zu fallen: Wer ist – gar kein/ansatzweise/noch nicht/bereits reinrassiger – Alkoholiker? Und: Wie bezeichnet man ihn politisch korrekt? Aber vor das Urteil hat der Bundesgerichtshof die Beweisaufnahme gesetzt und der Mediziner die Anamnese. Deshalb werden wir jetzt erst mal gemeinsam den offiziellen Begriffskatalog durcharbeiten. Ab jetzt wird es kniffelig. Das Kniffelige sind die Kategorien, die so kategorisch nun auch nicht genommen werden können, weil ihre Grenzen nach oben und nach unten verschwimmen und zum Teil untereinander auch ein reger Austausch von Symptomen stattfindet.
So sind z. B. Mengenangaben zur Feststellung einer Abhängigkeit nicht unbedingt erheblich; es gibt Menschen, die sich in kleinen Schlucken durch den Tag trinken, nie einen Vollrausch hatten, nie auffällig wurden und trotzdem bis zur Halskrause in der Sucht-Bredouille stecken (man nennt sie Spiegeltrinker, weil sie dauerhaft ihren Alkohol-Spiegel auf Höhe halten). Dann wieder kann einer jahrzehntelang jeden Abend 50 Gramm zu sich nehmen, ohne alkoholkrank zu sein (Gewohnheitstrinker).
Natürlich soll es auch Menschen geben, die ihren Konsum phasenweise hochgepeitscht haben und sich später (z. B. nach Überwindung einer Krise) wieder in die Reihe der Normaltrinkenden einreihten (Problemtrinker). Und last but not least finden sich ja immer wieder Leute, die einen Onkel/Opa hatten, der sich angeblich »jeden Tag 1 Stange Rothändle und 6 Liter Jägermeister in die Rüstung gepfiffen« hat und damit »90« geworden ist (Legenden-Trinker). Dann wieder gibt es Werktätige, die an jedem freien Tage einige Alkoholiker-Kriterien erfüllen. Nebenbei wollen noch solche Fragen beantwortet werden wie: »Was ist Sucht?«, »Warum mag der Mensch Drogen?« und natürlich: »Welcher Säufertyp bin ich?« Und dann will ja auch noch der ganze psychologisch-psychiatrische Verhau von wegen Suchtstruktur, Kindheit, Komorbidität etc. berücksichtigt werden! Und der genetische Bimbam erst!
Beim Alkoholismus gibt es einige Gesetzmäßigkeiten; diese aber sind von Trinker zu Trinker verschieden.
Wie gesagt: kniffelig. Aber wer alles über Alk wissen will, muss da durch! Und vielleicht können auch Sie nach der Lektüre endlich Ihre Frage beantworten: »Bin ich schon abhängig, oder sehe ich bloß so aus?«
Schlagen wir uns also mutig Schritt für Schritt durch den diagnostischen Breitband-Dschungel. Und: Ich habe Ihnen nie einen Rosengarten versprochen!
Wer ist Alkoholiker?
Alkoholiker ist, wer den ganzen Tag schlecht frisiert auf einer Parkbank liegt, ins Gebüsch pinkelt und grundsätzlich stinkt wie ein alter Turnbeutel.
DAS hätten sie gerne, unsere sauberen süchtigen Freunde aus dem gutbürgerlichen Milieu! Frei nach Sartre: Die Alkoholiker, das sind immer die anderen! Ha! Und daheim hocken sie jeden Abend in ihren renovierten Altbauwohnungen vor den hohen Bücherregalen im orthopädischen Ohrensessel und brennen sich einen, als gäb’s kein Morgen! Während die HB-Filterzigarette nicht mehr ausgeht! Diese situierten Penner! Ich habe mal auf der Geschlossenen eine adrett zurechtgezimmerte Hausfrau kennengelernt, die unter Angst und Realitätsverlust litt. Sie hatte sich jahrelang bis unter die Haarspitzen mit Piccolo und Valium zugeknattert. Und ihrem Besuch jaulte sie unter Tränen vor, dass auf der Station sogar Drogenabhängige wären!
Ich hätte ihr am liebsten auf die silbernen Schühchen gespuckt, wenn ich nicht gerade mit meinem eigenen Entzug beschäftigt gewesen wäre. Kerlenaa! Leute gibt’s! Aber das Klischee des Alkoholikers als obdachloser Penner zieht sich durch alle Schichten. Damit sind nämlich alle fein raus, die sich regelmäßig die Kante geben, denn – Alkoholiker ist ja nur, wer mit 30-Tage-Bart auf dem Bahnhofsvorplatz bettelt und auf der Parkbank schläft. Und in seinem Turnbeutel weiße Mäuse hält.
Ca. 40,8 Mio. Bundesbürger über 18 pflegen einen »risikoarmen Konsum«. Ein »riskanter Konsum« liegt bei 4,8 Mio. Bundesbürgern vor, 2,7 Mio. betreiben einen »gefährlichen Konsum« und 1,7 Mio. gelten als alkoholkrank. (Andere Quellen sprechen von 2,5 Mio. Kranker.) Macht wohlwollend gerundete 10 Millionen, die ernsthaft in Sachen Alkohol unterwegs sind. Das wären eine Menge Parkbänke. Und die Angehörigen wie Ehepartner, Kinder etc. sind noch nicht mal mitgezählt.
Alle diese Angaben gibt die Hauptstelle für Suchtfragen mit der Einschränkung heraus, dass es sich letztlich nur um niedrige Schätzwerte handeln kann, da »ein hoher Alkoholkonsum nicht immer korrekt angegeben werden dürfte … Hinzu kommt, dass gerade besonders stark Konsumierende nur eingeschränkt erreichbar sein dürften.« Mit anderen Worten: Vieltrinker schummeln ihre real existierende Schlagzahl bei Umfragen gerne runter, und der Großteil der Hochkonsumenten sagt gar nicht erst aus, weil er gerade im Koma liegt.
Diagnosen offiziell
Einigen wir uns für heute auf 10 Mio. mit ständigem Alkoholkontakt.
Da die Parkbank alleine also offenbar kein eindeutiges Indiz für Alkoholismus ist, gibt es andere Kriterien, und einige der offiziell benutzten Krankheits-Kataloge sollten Sie kennen.
Beginnen wir – damit wir’s schneller hinter uns haben – mit dem Oldie, Evergreen und Peinsack Jellinek. Der amerikanische Forscher Elvin Morton Jellinek und seine 60 Jahre alte Typologie ist für jeden aus der suchtverarbeitenden Industrie ein Begriff. Den Jellinek kennt jeder. Selbst dem versoffensten Hund, der sich nicht mehr an die Namen seiner unehelichen Kinder erinnern kann, wird bei »Jellinek« ein wissender Glanz in die glasigen Augen treten. Und so sieht JELLINEK die Trinker-Welt:
Alpha-Trinker = nur psychisch abhängig (trinkt bei Konflikten/Problemtrinker/Erleichterungstrinker)
Beta-Trinker = hoher Konsum ohne psychische und physische Abhängigkeit, aber bereits mit körperlichen Schäden im Gepäck, z. B. Fettleber, Gastritis (Gelegenheitstrinker/Gewohnheitstrinker)
Gamma-Trinker = mehr physisch als psychisch abhängig, säuft progredient (vulgo: sich steigernd) und schließlich wie ein Fass ohne Boden. Kann noch immer Abstinenzphasen einlegen, ist aber mit allem ausgerüstet, was körperliche Abhängigkeit ausmacht: hohe Toleranz, Kontrollverlust. Stoppt erst, wenn nix mehr reingeht. Nach Jellinek der Prototyp des echten, puren »süchtigen Trinkers«.
Delta-Trinker = Säuft dauerhaft, ist abstinenz-unfähig, kann aber noch die Mengenzufuhr kontrollieren. D. h.: Er hält beständig seinen individuellen Alkohol-Spiegel im Blut, ohne dabei Ausfallerscheinungen zu zeigen. Der Volksmund nennt das: »steht unter Dauerstrom«. (Spiegeltrinker)
Epsilon-Trinker = säuft periodisch exzessiv. Lebt monatelang abstinent, haut sich dann aber in regelmäßigen Abständen mit einer quasi suizidalen Entschlossenheit die Kutte zu. Ist eher psychisch als physisch abhängig. (Quartalssäufer, meine Wenigkeit)
Ich persönlich mag Jellinek nicht. Er nervt mich. Während meines ersten Besuches bei einer Suchtberaterin wurde mir der Jellinek vorgelegt und die obligatorische Frage gestellt: »Wo würden Sie sich einordnen?« Meine Antwort lautete: »Ja, nirgends! Bzw. überall ein bisschen! Diese Unschärfe! Z. B. der Quartalssäufer (meine Wenigkeit): Nach Jellinek bin ich Epsilon-Trinker. Episodischer Trinker. Okay. Aber ich bin auch Problemtrinker. Und manchmal süchtiger Trinker. Und bisweilen auch Gelegenheitstrinker ohne Kontrollverlust und/oder Entzugserscheinungen. Ja, was denn nun, Herr Jellinek? Alpha, beta, pi mal Daumen? Bin ich überhaupt Alkoholiker? Oder nicht vielleicht doch eher Missbraucher bzw. schädlich Gebraucher?«
Diese differenzierten Überlegungen kamen nicht gut an. Die Suchtberaterin verzog wissend das Beamtengesicht und bescheinigte mir kurz und bündig »mangelnde Krankheitseinsicht«. Ich hätte ihr gerne auf die silbernen Schühchen gekotzt, aber ich war ja nicht auf Entzug. Sie sollten aber unbedingt wissen, worum es sich bei Jellinek handelt, denn landauf, landab wird noch immer mit seinem sechzig Jahre alten groben Hobel laboriert, jede Suchtberatung verschleudert ihn stapelweise unter die Kundschaft. Sollte man Sie also eines schlimmen Tages dazu zwingen, sich in den Jellinek einzupassen, dann kontern Sie bitte mit dem Wissenschaftlichen Kuratorium der deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, wonach Jellineks Typologie »zumindest in der Wissenschaft nicht mehr verwendet wird«. Und was dem Wissenschaftler recht ist, sollte dem Schluckspecht billig sein! Das ist bei den schlichteren Suchtberatern, Sozialarbeitern und Gesundheitsämtlern nur noch nicht angekommen.
Aber diese Spezies knöpfen wir uns später noch gesondert vor.
Jellinek … (über den übrigens lustige Gerüchte kursieren, was seinen Doktortitel angeht: Manche sagen, er sei ordentlicher Doktor gewesen, andere sprechen von einer reinen Ehrendoktorwürde, und ganz böse Zungen behaupten, er habe ihn im Lotto gewonnen, aber das tut hier ja nix zur Sache. Der Mann war ein Pionier. Und soll 14 Sprachen gesprochen haben.) …...