Hochsensibilität ist ein Phänomen, das die Gesellschaft vor viele Fragen stellt. Fast wirkt sie wie eine Modekrankheit. Sie wird belächelt, gefeiert, beschimpft, nicht ernst genommen, und oft wird versucht, sie totzureden. Nur wenige Ärzte und Wissenschaftler setzen sich derzeit ernsthaft mit dem Phänomen Hochsensibilität auseinander.
In den letzten Jahren konnte man jedoch beobachten, dass die Hochsensibilität immer weniger suspekt wahrgenommen wird, was nicht zuletzt an den vielen wissenschaftlich fundierten Studien über das Phänomen liegt. Für Eltern hochsensibler Kinder ist das Durcheinander nicht gerade hilfreich. Schnell landet man bei der Suche im Internet in esoterischen Foren oder auf Seiten, die behaupten, Hochsensibilität existiere gar nicht und sei nur eine netter klingende Diagnose für verhaltensauffällige Kinder. Es erfordert daher viel Geduld, wirklich hilfreiche Informationen zu finden und vor allem ein starkes Selbstbewusstsein, denn nicht selten werden die Eltern als eine mögliche „Ursache für Hochsensibilität“ dargestellt.
Um euch die Hochsensibilität verständlich zu erklären und bewährte Tipps für den Alltag zu geben, schreiben wir dieses Buch. Wir möchten euch als Eltern stärken und euch die Angst davor nehmen, dass mit eurem Kind „etwas nicht stimmt“. Mit diesem Buch werdet ihr lernen, euer Kind zu verstehen und merken, dass ihr nicht alleine mit euren Fragen seid.
Wir schlüsseln typische Alltagssituationen auf und geben euch Einblicke, was im Kopf eures Kindes passiert. Und zum Schluss bekommt ihr Handwerkszeug an die Hand, mit dem ihr das Leben eures Kindes sowie euer eigenes wesentlich entstressen könnt.
UNSER TIPP: HOCHSENSIBILITÄT IST EINE CHANCE
Lernt, die Hochsensibilität als Chance für eure Familie zu sehen. Familien mit hochsensiblen Kindern sind „aufgefordert“, viel Verständnis füreinander sowie für die „eigene“ Andersartigkeit zu entwickeln.
Um nachvollziehen zu können, wie sich das Kind in vielen Situationen fühlt, versetzt euch einmal in folgende Lage:
Du stehst in deiner Stadt mitten auf dem Marktplatz. Um dich herum findet ein Wochenmarkt statt. Die Marktschreier bewerben lautstark ihre Produkte. Das könnten sie sich eigentlich sparen, da die Lebensmittel so intensiv duften, dass du das Gefühl hast, du würdest deine Nase abwechselnd in die verschiedensten Körbe tauchen.
Die Sorge einiger Standbesitzer, nicht genügend Geld einzunehmen, überträgt sich auf deine Gefühlswelt. Während dein Geruchssinn noch am Erdbeerstand hängenbleibt, rempelt dich versehentlich eine Frau mit ihrem Rollator an. Zu den Rufen der Marktschreier kommen nun auch noch die weinerlichen Entschuldigungen der alten Frau. Du spürst, dass sie sich an diesem Ort völlig überfordert fühlt, die Enge macht auch ihr zu schaffen. Ihre Angst, noch mehr Menschen über die Füße zu fahren, krabbelt langsam deinen Hals hinauf. Übrigens nimmt der blaue Fleck an deinem Oberschenkel, der vom Rollator stammt, einen gewaltigen Teil deiner Wahrnehmung ein. Du spürst, wie das Blut sich sammelt, es kribbelt und schmerzt an der Stelle.
So langsam spürst du, wie dir alle Eindrücke zu viel werden. Du beschließt, ohne deine Einkäufe erledigt zu haben, in deine Wohnung zu flüchten, um dem Lärm, den Gerüchen und den Emotionen der anderen Menschen zu entkommen.
Viele Eltern, die erstmals mit der Hochsensibilität ihres Kindes konfrontiert sind, beginnen ihre Suche zunächst im Internet. Dort wird man schnell fündig und trifft auf Foren, Facebook-Gruppen und Blogs. Es gibt darunter sehr empfehlenswerte Blogs, auf die wir im Anhang hinweisen. Das Schöne an Blogs ist, dass man dort Erfahrungsberichte anderer Eltern mit hochsensiblen Kindern findet. Diese vermitteln zum einen das angenehme Gefühl, nicht alleine zu sein mit den Problemen und Andersartigkeiten eines hochsensiblen Kindes, zum anderen bekommt man gerade durch Eltern, die ihre Erfahrungen teilen, wundervolle, praxiserprobte Tipps für den Alltag.
Was Foren und Facebook-Gruppen angeht, möchten wir euch jedoch gerne folgenden Ratschlag an die Hand geben, um eigene Verunsicherungen zu vermeiden:
Esoterikforen können einem helfen, indem sie plausibel klingende Erklärungen dafür geben, warum euer Kind hochsensibel ist. Oftmals trifft man dort auf Begriffe wie „Kristallkinder“.
Wir behaupten nicht, dass dies alles Quatsch ist. Aber wirklich helfen wird es euch im Umgang mit der Hochsensibilität eures Kindes nicht. Manche Aussagen und Erklärungen in den Foren können gegebenenfalls sogar schädlich sein – wir werden später noch etwas genauer darauf eingehen.
Facebook-Gruppen haben den Nachteil, dass sie selten von Experten moderiert werden. So manch eine Mutter wurde in solchen Gruppen regelrecht von anderen Müttern emotional zerpflückt, die eine Erziehungsmethode für nicht tragbar oder für eine Zumutung halten. Einerseits sind Tipps anderer Eltern hochsensibler Kinder oft sehr hilfreich, andererseits muss man sich selbst davor schützen, Beleidigungen zu nahe an sich heranzulassen.
Bis vor Kurzem war das Thema Hochsensibilität ein viel diskutiertes, aber wenig erforschtes Gebiet der Psychologie. Es gab sehr viele Menschen, die der Hochsensibilität die Existenz absprachen. Hinzu kam, dass die Hochsensibilität durch ihre Symptome oft mit Eigenschaften wie zum Beispiel der Hysterie gleichgestellt wurde. Es gab viele Diskussionen um die Fragen, was Hochsensibilität überhaupt ist und wie sie entsteht.
Inzwischen können wir auf viele Forschungsarbeiten zugreifen, die sowohl tatsächlich die physischen Merkmale der Hochsensibilität aufzeigen als auch die Streitereien um die Existenz minimieren.
Wir möchten euch jetzt nicht zu viel Theorie auftischen, deswegen haben wir hier erst einmal die wichtigsten Fakten zusammengestellt, kurz und knapp.
FAKTEN ÜBER HOCHSENSIBILITÄT
1. Hochsensibilität ist weder eine Krankheit noch eine „ Ausrede“ für seltsames Verhalten.
2. Sie kann inzwischen wissenschaftlich erklärt werden.
3. Sie ist nicht der Esoterik zuzuordnen.
4. Die Hochsensibilität ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das nicht erst in der Kindheit entsteht, sondern angeboren wird.
5. Offensichtlich haben Hochsensible einen sehr stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, einen guten Blick für Details und eine überdurchschnittliche analytische Fähigkeit.
6. Hochsensibilität ist nicht mit Hysterie oder ADHS/ADS zu verwechseln.
Viele Eltern sowie hochsensible Menschen selbst fragen sich, wozu es überhaupt Hochsensibilität gibt. Dazu wird viel geforscht, und es gibt Vermutungen, die sich sehr plausibel anhören. Diese gehen davon aus, dass die Menschen ganz am Anfang der Evolution in Stämmen zusammenlebten. Um das Überleben der Mitglieder in solchen Gruppen zu sichern, haben die Menschen verschiedene Talente entwickelt, wie zum Beispiel besonders schnelle Beine, starke Arme, gute Augen zum Jagen und ein gutes Gehör, um nahende Gefahren frühzeitig wahrzunehmen.
Die Hochsensibilität diente der Sicherheit der Menschen. Hochsensible Menschen können beispielsweise erspüren, wenn Tiere in der Umgebung vor heftigen Wetterveränderungen oder Naturkatastrophen in Panik geraten.
HOCHSENSIBLE MENSCHEN SPÜREN MEHR
Kurz vor dem Tsunami 2004 in Thailand spürten einige Menschen die heftigen Fluchtinstinkte der Tiere und sprachen diese auch an. Leider wurden sie nicht direkt ernst genommen, da in der heutigen Zeit Intuition oft als „esoterischer Quatsch“, Spinnerei oder als Zufall abgetan wird.
Wir haben eine wunderschöne, einleuchtende Erklärung gefunden, die es wirklich leicht verständlich macht, warum manche Menschen so unfassbar viele Reize ungefiltert aufnehmen. Es handelt sich dabei darum, dass eine sehr niedrige sensorische Wahrnehmungsschwelle vorliegt. Man kann sich das so vorstellen:
Wenn zwei Synapsen miteinander Reize austauschen, so muss ein Reiz eine wesentlich niedrigere Energie besitzen, um überzuspringen. Es reicht also schon eine kleine Stimulation, um Informationen an das Gehirn als „wichtigen Impuls“ weiterzuleiten, der nach Dringlichkeit beurteilt und eingeordnet werden muss. Das alles passiert gleichzeitig mit vielen verschiedenen anderen Reizen. Der Arbeitsspeicher im Kopf wird also extrem gefordert, er muss viel mehr Informationen verarbeiten, als er eigentlich kann. Und wenn der Arbeitsspeicher überlastet ist – das wissen wir alle aus langjähriger Erfahrung am Computer –, dann geht einfach nichts mehr.
Nun ist so ein menschliches Gehirn natürlich viel komplexer als ein Computer. Zudem hat jeder Mensch...