Jonny will, dass alles bleibt, wie es ist – aber dann hat er eine richtig gute Idee
»Alle Macht den Kindern« – in der S-Bahn, die mich von meinem Büro zurück nach Hause bringt, kann ich gar nicht mehr aufhören zu grinsen. Es ist wie früher, wenn ich auf dem Weg zum Bolzplatz war: Ich habe so große Lust zu spielen. Die einzige Frage lautet: Wird sich jemand finden, der mitmachen will? Wie werden die anderen reagieren, wenn ich mit der Idee nach Hause komme?
Sie werden bestimmt begeistert sein. Ich denke sofort an Lara. Zu ihr passt das Experiment vermutlich am besten. Sie ist dreizehn und mitten in der Pubertät. Sie wird den Versuch mögen: die Freiheit, die damit verbunden ist, auch die Verantwortung, die sie dabei wird übernehmen müssen. Ja, Lara ist so groß geworden. Sie würde zur Not auch ohne uns klarkommen. Was für ein Gedanke! Ich merke, dass er mich stolz macht. Aber er tut auch weh: Mein Baby braucht mich nicht mehr.
Ich seufze so laut, dass meine Nebensitzerin mich überrascht anblickt. Ich murmle eine Entschuldigung und denke mir: Lara ist wie ein Flugzeug. Die Turbinen laufen schon. Sie steht abflugbereit auf der Startbahn namens Unabhängigkeit. Wir sollten mit dem Experiment deshalb möglichst bald beginnen. Denn wer weiß, ob sie in einem Jahr noch Lust auf so viel Familie hat.
Was ist mit Jonny? Hm. Er wird auch begeistert sein. Mehr Freiheit, weniger Genörgel – welchem zehnjährigen Jungen würde das nicht gefallen? Nur wenn ich an Helga denke, beschleichen mich Zweifel. Helga hasst es, von anderen herumkommandiert zu werden. Am besten, ich spreche zuerst mit Lara. Der Rest wird sich schon ergeben.
»Lara, hast du eine Minute Zeit für deinen alten Vater?«, frage ich, als ich wenig später in ihrer Zimmertür stehe.
»Klar, Papa!«, meint Lara und lächelt mich an.
»Im Büro hatte ich eine Idee. Wir machen ein Experiment, wir alle, die ganze Familie. Wir lassen für ein paar Wochen euch Kinder bestimmen, was bei uns passiert. Ihr seid die Chefs. Helga und ich müssen tun, was ihr sagt. Das Motto lautet: ›Alle Macht den Kindern‹.« Ich mache eine Kunstpause, um die Worte ein wenig wirken zu lassen. »Was hältst du davon?«
Lara strahlt mich an: »Wann geht’s los?«
Was für eine Tochter! In diesem Moment weiß ich, dass die Sache ein gutes Ende nehmen wird. Lara wird uns gut und fürsorglich behandeln. Mir fällt ein Referat ein, das sie kürzlich in ihrer Klasse gehalten hat. Sie sollte darin eines ihrer Hobbys vorstellen. Lara hat über ihre Nachmittage als Hundesitterin berichtet. Von Zeit zu Zeit kümmert sie sich nämlich um ein paar Hunde in der Nachbarschaft, ein kleines Rudel sozusagen. Sie schreibt in ihrem Text: »Ich stehe mit den Hunden nicht auf einer Stufe. Ich bin der Kapitän, sie sind die Mannschaft. Trotzdem hoffe ich, dass die Crew gerne unter meinem Kommando segelt.« Ja, ich kann mich auf meine Tochter verlassen. Sie wird auch für uns Eltern ein guter Kapitän sein und uns sicher durch schwere See bringen.
Helga und Jonny sitzen derweil im Garten. Laras Begeisterung hat mich ein wenig übermütig gemacht. Ich rechne mit nichts anderem als purem Enthusiasmus – und werde bald eines Besseren belehrt. Helga runzelt die Stirn, als ich ihr meine Pläne eröffne. »Hältst du das wirklich für eine gute Idee?« Niemand kann so energisch die Stirn runzeln wie Helga. »Das mache ich höchstens für eine Woche mit.« Eigentlich hätte ich mir das denken können. Helga ist nur selten begeistert, wenn ich mit einem neuen Gedanken nach Hause komme. Sie ist ein bisschen wie Joschka Fischer: »I am not convinced« – so könnte auch ihr Lebensmotto lauten. Vermutlich werde ich noch ein paar Tage brauchen, um sie von der Güte meiner Idee zu überzeugen.
Am meisten überrascht mich jedoch die Reaktion von Jonny. Er leistet vehementen Widerstand. »Das kannst du gleich vergessen, Papa! Ich mach da nicht mit. Und versuch bloß nicht, mich zu bequatschen!«, sagt er und lässt mich stehen, ohne meine Erwiderung abzuwarten. Ich verstehe die Welt nicht mehr. »Pippi Langstrumpf«, »Kevin allein zu Haus«, sogar die »Chroniken von Narnia« waren Welterfolge, weil dort die Kinder die Bestimmer sind. Weil die realen Machtverhältnisse sich in diesen Geschichten umgedreht haben. Sie bedienen eine Fantasie, die wohl in jedem Kind schlummert: Die Sehnsucht danach, nicht mehr klein und abhängig zu sein, sondern mit Respekt, ja fast schon mit Ehrfurcht behandelt zu werden. Sollte diese Fantasie ausgerechnet meinem Sohn fremd sein? Unvorstellbar!
»Aber Jonny, was ist so schrecklich an der Vorstellung, mal für eine Zeit der Boss zu sein?«, frage ich, während ich ihm ins Haus folge.
»Ich hab keinen Bock, morgens allein aufzustehen. Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist.« Jonny ist wirklich aufgebracht. Er klingt, als hätte ich ihm befohlen, einen Monat lang allein den Abwasch zu übernehmen.
Ich brauche ein paar Augenblicke, um zu verstehen. Im Grunde weiß ich schon lange, wie konservativ Kinder sein können. Besser als Jonny kann man das gar nicht formulieren: Alles soll genau so bleiben, wie es ist. Daran hatte ich in meinem Überschwang überhaupt nicht gedacht.
»Okay, Jonny, entspann dich«, sage ich. »Ich schlage vor, wir reden in den nächsten Tagen in aller Ruhe darüber, ja? Ich glaube, das Experiment kann ganz toll für jeden von uns werden, und ich möchte, dass du der Sache wenigstens eine Chance gibst.«
Grummelnd verzieht sich Jonny in sein Zimmer. Helga sieht mich zweifelnd an.
In den kommenden Tagen reden wir immer wieder darüber: »Alle Macht den Kindern«. Ich weiß, dass der Slogan auch für Jonny verlockend klingt. Er hat sich schon wiederholt über die ungleiche Machtverteilung in unserem Hause beschwert. Etwa über unser Recht, ihn ins Bett zu schicken und danach noch bis in die Puppen vor der Glotze abzuhängen. Aber noch scheinen bei ihm die Zweifel zu überwiegen.
»Ich weiß schon, wie das läuft«, meint er irgendwann. »Wir haben auf einmal die ganze Arbeit. Wie sollen wir das machen? Wir können doch nicht von der Schule nach Hause kommen und dann noch das Mittagessen kochen. Wir haben keine Zeit dafür. Außerdem weiß ich gar nicht, wie das geht mit dem Kochen!«
Das sind berechtigte Einwände. Ich beruhige ihn: »Niemand sagt, dass ihr kochen müsst. Das ist wie in einer Firma. Der Chef ist zwar der Bestimmer, aber er macht nicht alles selbst. Er sagt seinen Mitarbeitern, wer welche Aufgabe übernehmen soll, weißt du?«
Jonny nickt und schaut aus dem Fenster. Er traut der Sache noch immer nicht. »Trotzdem. Ich will morgens nicht allein aufstehen. Das mach ich nicht. Keine Chance!« Dann geht er nach draußen, um ein bisschen mit seinem Skateboard zu fahren.
Während ich von der Straße die Geräusche des rollenden Boards höre, schweifen meine Gedanken ab. Wie war das eigentlich bei mir mit dem Aufstehen? Ich habe mir, bis ich zwanzig war, mein Zimmer mit meinem Bruder geteilt. Ich glaube, ich war elf, als meine Eltern uns einen Radiowecker schenkten. Ich liebte dieses Gerät. Klar: Es war großartig, am Morgen von seinen Eltern geweckt zu werden. Der Tag beginnt mit einer Umarmung – mehr geht eigentlich nicht. Aber der Radiowecker hatte einen unschlagbaren Vorteil: Seine Musik mischte sich in meine Morgenträume und führte mich Takt für Takt hinein ins Reich der Wirklichkeit. Der Radiowecker war der Löffel voller Honig, der mich damals dazu verführte, eine bittere Medizin ohne Murren zu schlucken: Ich war auf einmal ganz allein fürs Aufstehen zuständig. Dass ich die morgendliche Umarmung meiner Mutter irgendwann schrecklich vermisste – das konnte ich mir vermutlich nicht einmal selbst eingestehen. Um keinen Preis hätte ich dieses Gefühl andern gegenüber zugegeben. Kann ich Jonnys Vorbehalt verstehen? Natürlich kann ich das! Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass er früher oder später von selbst eine Lösung für das Problem finden wird.
Und tatsächlich: Am selben Abend kommt Jonny grinsend zu uns ins Wohnzimmer. Er hat sich schon die Zähne geputzt und ist offensichtlich allerbester Laune. Seine Augen funkeln. »Mama, Papa – wenn wir die Chefs sind, dürfen wir euch doch Befehle geben, oder?«
Ich nicke. »Ja, Ihr dürft uns aber auch einfach um etwas bitten, Vorschläge machen oder höflich formulierte Anweisungen geben – so wie Mama und ich das normalweise bei euch tun …«
Jonny hebt die Hand. »Weißt du: Ich kann euch ja einfach sagen, dass ihr mich wecken sollt wie immer. Und ihr müsst das dann machen. So würde das doch laufen, oder?«
»Ganz recht«, antworte ich. »Genau so würde das laufen.«
Jonny strahlt. »Ja, dann bin ich dabei!«
Als die Kinder im Bett liegen, schaut mich Helga lange schweigend an. »Meinetwegen lass uns das machen. Aber ich seh jetzt schon, dass nachher der ganze Rest genauso laufen wird wie das Wecken. Jonny und Lara sagen, wir sollen alles machen wie immer. Da wird sich nicht besonders viel ändern. Trotzdem. Ich muss zugeben: Ich bin auch gespannt, was dabei herauskommt.«
Wir nehmen uns in den Arm. Man braucht Vertrauen, um zusammen auf so eine Reise zu gehen. Und ich habe das Gefühl: Wir vertrauen einander. Jeder von uns weiß, dass Dinge schiefgehen können. Aber am Ende werden die ganz großen Katastrophen ausbleiben. Wir können uns aufeinander verlassen. Und selbst wenn aus der ganzen Sache nichts werden sollte: Nur für diesen einen Moment der Gewissheit hat sich die Aufregung jetzt schon gelohnt. Zumindest aus...