1. Von Zürich nach Berlin?
An dem Tag, als der Schweizer Oskar Bider in einem wackeligen Einsitzer zum Flug über das gesamte Alpenmassiv abhebt, nimmt sein Landsmann Albert Einstein ein verlockendes Angebot an: von Zürich nach Berlin an die Preußische Akademie der Wissenschaften zu wechseln.
Über die Alpen
Nun also über die Alpen. Der Plan des Schweizer Aviatikers hat Schlagzeilen gemacht. Als Oskar Bider am Sonntag, dem 13. Juli 1913, in einen hölzernen Flugapparat steigt, um von Bern aus das gesamte Alpenmassiv zu überqueren und bis nach Mailand zu fliegen, umringen etwa fünfzig Schaulustige den Einsitzer. Sie sind früh aufgestanden, um den für 4 Uhr angekündigten Start mitzuerleben.
Nach einer sternenklaren Nacht liegt feiner Nebel über den Bergen. Ob die Alpenwand den jungen Mann mit dem weißen Sweater und der Sportjoppe hinüberlassen wird? Wird sich Bider mit seinem Monoplan so weit hochschrauben können, bis das Jungfraujoch unter ihm verschwindet?
Vielen Umstehenden ist es ein Rätsel, wie ihn die wackelige Flugmaschine über das 3500 Meter hohe Joch hinwegtragen soll. Heißluftballons erheben sich mühelos in die Lüfte, neuerdings auch die Konstruktionen des Grafen Zeppelin, der die Schweiz 1908 von oben grüßte. Sein majestätisches Luftschiff war mit Wasserstoff gefüllt und daher leichter als Luft. Dagegen vertraut Bider auf ein Fluggerät, das sichtlich schwerer ist als Luft. Dennoch soll die von einem Motor angetriebene Propellermaschine so viel Fahrt aufnehmen, dass die an den Flügeln vorbeiströmende Luft irgendwie den nötigen Auftrieb erzeugt, was selbst zeitgenössischen Physikern rätselhaft bleibt.
Der Motorflug hat sich rasant entwickelt. Nicht einmal zehn Jahre sind vergangen, seit zwei Fahrradfabrikanten in den USA mit einem motorisierten Doppeldecker die ersten Luftsprünge machten. Orville Wright blieb damals ganze zwölf Sekunden in der Luft, sein Bruder Wilbur knapp eine Minute. Als der Franzose Louis Blériot dann den Ärmelkanal überquerte und fliegend über das offene Meer hinweg von Calais nach Dover gelangte, war die Luftfahrt plötzlich in aller Munde. Noch im selben Jahr strömten Hunderttausende zu den Flugwettbewerben im französischen Reims, in Berlin oder zur Internationalen Luftschifffahrt-Ausstellung in Frankfurt, wo man die Brüder Wright, Blériot und andere Flugpioniere wie Artisten feierte.9
»Über Meerengen und weite Ebenen wegzufliegen, ist heute keine ungewöhnliche Sache mehr«, stellt ein Berner Reporter nun, im Sommer 1913, heraus und verweist auf den jüngsten Europaflug des Franzosen Marcel Brindejonc:10 von Paris nach Warschau in nur einem Tag, dann weiter bis Sankt Petersburg und über Stockholm und Kopenhagen wieder zurück nach Paris. Eine Strecke von insgesamt 4860 Kilometern.11 Dieser Flug habe gezeigt, »dass der Luftraum über dem ebenen Land dem tüchtigen Aeroplan keine Hindernisse bietet«.12
Anders im Hochgebirge. »Noch vor zwei Jahren, als ein schweizerischer Aviatiker von Berlin nach Bern fliegen wollte, war allgemein die Frage: Wird er über den Hauenstein hinwegkommen?« Und am Hauenstein habe jener schöne Flug ein rasches Ende gefunden.13 Was aber ist der Hauenstein verglichen mit dem Jungfraujoch, das sich vor Biders Flugapparat auftürmt!
Bider hat in diesen Tagen immer wieder an den Peruaner Jorge Chávez denken müssen, der vor ihm versucht hatte, die Walliser Alpen am Simplonpass zu überfliegen, und kurz vor dem Ziel abgestürzt war. Selbst der Konstrukteur des Eindeckers hat ihm von dem Flug abgeraten. Sein 70-PS-Motor reiche für eine Alpenüberquerung nicht aus. Wegen der dünnen Luft am Jungfraujoch werde er die erforderliche Flughöhe nicht halten können.
Bei Biders erstem Anflug auf die Alpen knapp zwei Wochen zuvor trug ihn seine »Blériot XI.« zwar mehrfach nahe ans Joch heran, jedoch nicht hoch genug. Nach dreistündigem Flug sah sich der enttäuschte Pilot zur Rückkehr nach Bern gezwungen. »Ich zog das Höhenruder – aber vergebens!«14
Dennoch will er nicht auf einen stärkeren Motor warten. Stattdessen hat er das Gewicht seiner Maschine vor dem neuerlichen Flugversuch noch einmal reduziert, seinen Sitz durch einen leichteren ersetzt und weniger Benzin getankt. Sein Plan sei nun, in Domodossola eine Zwischenlandung vorzunehmen, hat er einem Freund in Mailand geschrieben. »In diesem Fall brauche ich weniger Benzin und Oel und kann den Apparat um vierzig Kilo erleichtern.«15
Nun stülpt er einen Lederhelm über seine Mütze, setzt die Schutzbrille auf und zieht den Schal übers Kinn, um den eisigen Temperaturen zu trotzen, die ihn dort oben erwarten. Die Wetteraussichten sind gut. Ein Mechaniker zieht noch einmal sämtliche Schrauben an, dann rollen unter Motorengedröhn zwei Fahrradreifen und ein kleineres Heckrad über die Wiese. Sie tragen einen Eschenrumpf mit einem aufgesetzten hölzernen Tragflächengerüst, das auf dem Berner Beundenfeld klappernd Fahrt aufnimmt. Um 4 Uhr und 7 Minuten erhebt sich die Maschine vom Applaus des Publikums begleitet in die Lüfte. Mit gerecktem Hals sieht alles zu ihm hinauf, wie er in seinem Aeroplan steigt und steigt.
»Was geschieht denn?«, fragte der noch unbekannte Schriftsteller Franz Kafka, als er zum ersten Mal den Franzosen Louis Blériot in einem Flugapparat über sich kreisen sah. »Hier oben ist zwanzig Meter über der Erde ein Mensch in einem Holzgestell verfangen und wehrt sich gegen eine freiwillig übernommene unsichtbare Gefahr. Wir aber stehn unten ganz zurückgedrängt und wesenlos und sehen diesem Menschen zu.«16
Viele Piloten wehren sich erfolglos. Zwischen 1908 und 1913 haben allein in Deutschland mehr als 400 Aviatiker für den kurzen Höhenrausch mit dem Leben bezahlt. Etwa doppelt so viele Flugapparate sind zerstört worden.17 Sitzt jetzt mit dem Schweizer Oskar Bider, der tags zuvor seinen 22. Geburtstag feierte, der nächste Todeskandidat in einer fliegenden Kiste?
Während das Publikum nach dem gelungenen Start aufatmet, fliegt Bider in seinem Aeroplan auf die Berge zu, die vor ihm größer und größer werden. Sofort erklimmen einige Schaulustige eine Anhöhe, um noch möglichst lange zu verfolgen, wie der über ihnen kreisende Eindecker nach und nach an Höhe gewinnt. Noch etwa eine Stunde lang hören sie das leise Surren seines Motors. Dann entschwindet er ihren Ohren.
Zurück in der Stadt, trifft bald die erste Meldung von der Station Eigergletscher ein: Bider hat seine Maschine um 6 Uhr 7 übers Jungfraujoch gesteuert und die große Alpenmauer bezwungen. Beim anschließenden Flug längs des großen Aletschgletschers habe man das Flugzeug noch eine knappe halbe Stunde lang im Auge behalten können. Aus dem vernebelten Domodossola schließlich die Nachricht von seiner kurzen Zwischenlandung und dem Weiterflug nach Mailand.
»Wir jubeln und sind ernst zugleich«, kommentiert die Presse die Tollkühnheit des Piloten. »Nur 50 bis 100 Meter über dem Joch! Wie nötig war die Gewichtserleichterung! In 50 Metern, wenn da ein Lokalwind ... aber doch hinüber!« Biders Alpenüberquerung werde als eine der bedeutendsten Taten in die Geschichte des menschlichen Fluges eingehen. Jetzt wisse man, dass auch die höchsten Gebirge nicht unüberfliegbar seien.18
Endlich nur noch forschen
An diesem 13. Juli 1913 steht am Bahnhof in Zürich ein Mann in Sonntagskleidung: mittelgroß, breitschultrig und mit schwarzem Schnurrbart. Sein Blick gleitet über die Passanten hinweg, bis er endlich die beiden Männer sieht, auf deren Rückkehr er gewartet hat. Es schmeichelt dem 34-jährigen, dass die beiden Wissenschaftler eigens aus Berlin angereist sind, um ihm ein Stellenangebot zu unterbreiten. Tags zuvor hatte er sie vertröstet, da er noch einmal prüfen wollte, wohin sich seine innere Kompassnadel drehen würde.
Bei den Besuchern handelt es sich um Walther Nernst und Max Planck. Letzterem fühlt er sich als theoretischer Physiker besonders verbunden. Planck vertiefte sich zeitweilig derart in die Relativitätstheorie, dass seine sonstigen Studien völlig in den Hintergrund traten. Als einer der Ersten erkannte er ihre fundamentale Bedeutung, trug selbst dazu bei, die Gesetze der Mechanik entsprechend umzuformulieren, betreute Doktorarbeiten zum Problem der einsteinschen Relativität und warb bei führenden Fachkollegen um ihre Anerkennung. Ihm ist es auch zu verdanken, dass Einstein in diesem Jahr bereits zum dritten Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde.
Allein aus Dankbarkeit seinem Förderer gegenüber konnte Einstein die Berliner Offerte jedoch nicht annehmen. Deshalb hatte er am Vortag um 24 Stunden Bedenkzeit gebeten und dem passionierten Bergwanderer und seinem Begleiter Walther Nernst, die zusammen mit ihren Ehefrauen nach Zürich gekommen waren, vorgeschlagen, die Zeit für einen Ausflug ins Gebirge zu nutzen.
Nun zückt er ein weißes Tuch und winkt seinen neuen Kollegen damit zu. Mit diesem verabredeten Zeichen nimmt Einstein das Angebot an. Er hat sich für Berlin entschieden. Trotz seines Misstrauens gegenüber dem preußisch-militärischen...