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1 TABULA RASA MACHEN
In der Mathematik bedeutet Optimierung, die bestmöglichen Parameter für ein System zu finden. Unser Leben stellt ein durchaus komplexes System dar und kann uns daher bei der Parameterdefinition ganz schön ins Schwitzen bringen – vor allem, wenn es nicht nur »irgendwie« werden soll, sondern eben optimal. Vertrackt ist außerdem: Unsere Lebensgleichung geht jedes Mal anders auf – man braucht einen individuellen Lösungsansatz, je nachdem in welcher Phase man gerade steckt:
Geht gerade alles den Bach runter? – Wie geht’s wieder rauf?
Plätschert alles so dahin? – Wo geht’s zu den nächsten Stromschnellen?
Läuft’s total rund? – Geht’s möglicherweise noch „runder“?
Bin ich total planlos? – Wo finde ich einen guten Mathe-Nachhilfekurs?
Obwohl es uns in unserem weiteren Leben rein gar nichts gebracht hat, rühmen mein Mann Armin und ich uns damit, in der Schule Mathe als Leistungskurs gehabt zu haben. Daher tüfteln wir immer wieder zusammen an unserer gemeinsamen Lebensgleichung herum: Was ist unser Ziel als Paar? Sind wir auf Kurs oder muss er korrigiert werden? Diesen eher nüchtern-analytischen Vorgang verpacken wir gern in ein stimmungsvoll-romantisches Ambiente – und schon kann er unter »Ehe-Qualitätszeit« verbucht werden. Zwei Fliegen mit einer Klappe!
So geschehen an jenem Hochzeitstag, den wir wie folgt gestalteten: schick machen, schön ausgehen, lecker essen und trinken, Kerzenschein – das ganze Programm. Aber in unserer Version. Heißt: die guten Sneakers, gemütliche Kneipe, Teelicht in der Mitte des quadratisch-praktischen Tischs. Wir mögen’s eher bodenständig und genau diese Richtung schlug unser Gespräch ein. Bald kamen wir zu einer Bestandsaufnahme unseres Lebens: Wo stehen wir gerade? Wollen wir etwas ändern? Wo gibt’s Optimierungsmöglichkeiten?
Der Zoom-Blick
Anlässe wie Geburtstag, Jahreswechsel oder der Hochzeitstag sind gute Möglichkeiten, bewusst die Lage zu sondieren:
Wo stehe ich gerade in meinem Leben?
Will ich etwas ändern?
Wo gibt’s Optimierungsmöglichkeiten?
Dabei kann man versuchen, sich aus seinem Leben rauszuzoomen, es möglichst nüchtern-analytisch von außen zu betrachten, und sich dann – als Gegensatz bzw. Ergänzung dazu – in Details reinzoomen und einzelne Lebensbereiche genauer betrachten.
Unsere Bilanz fiel durchwachsen aus. Wir lebten seit Jahren in derselben Stadt, in derselben Wohnung, mit denselben Jobs, in derselben Gemeinde. Eigentlich prima, denn wir mögen Beständigkeit. Glücklicherweise gab es all diese so kontinuierlichen Faktoren nicht nur aus Faulheit oder Gewohnheit, sondern weil sie unser Leben erfüllt machten und wir uns in alldem sehr wohlfühlten. Dieser Rahmen gab uns Halt, während wir in der einen großen, für uns so wichtigen Frage ordentlich durchgeschleudert wurden: Würden wir noch Eltern werden? Würde Gott uns diesen sehnlichsten Wunsch erfüllen – oder hatte er anderes vor? Den Eindruck hatten wir zwar nicht, aber wie kann man sich da sicher sein? Man lebt in der Spannung des Augenblicks. Zehn Jahre später schult man vielleicht total glücklich sein Kind ein und lächelt rückblickend milde über die »wenigen« Jahre des Wartens, aber während man noch drinsteckt, zieht sich jedes Jahr, jeder Monat, manchmal sogar jeder Tag und jede Stunde wie Kaugummi. Und der schmeckt zunehmend fad.
Beruflich steckte bei mir ebenfalls der Wurm drin. Oder eher ein kleines, unscheinbares, aber fieses Würmchen. Denn objektiv betrachtet lief alles super: Ich leitete das Team, das in der Gemeinde für Theologie und Inhalte zuständig war, gab Workshops, arbeitete an Buchprojekten mit, predigte ab und zu. Viel Verantwortung, aber ich mochte es genau so. Dennoch strengte es mich mehr an als bisher. Wenn man sich auf der privaten Baustelle an Gott abarbeitet, während der Job in einer Leitungsposition in einer Gemeinde stattfindet, in der eher Glaubensenthusiasmus gefragt ist, grätscht man sich ganz schön in den Spagat. Ich hielt zwar treu und auch etwas stur daran fest, dass ich das zusammen mit Gott schon packen würde, aber ich hätte überhaupt nichts dagegen gehabt, wenn ich die Beine mal wieder hätte lockern können.
Das Würmchen bestand aber nicht nur in dieser Zusatzanstrengung, sondern auch darin, dass ich spürte, dass meine Aufgabe in dieser Gemeinde irgendwie zu Ende ging. Auf der einen Seite wollte ich das auf keinen Fall wahrhaben, denn ich arbeitete noch immer wirklich gern hier und identifizierte mich auch damit, weil ich dachte, dass Gott mir diese Aufgabe gegeben hatte. Auf der anderen Seite war es nicht mehr als eine vage Ahnung, die ich an nichts konkret festmachen konnte. Aber trotzdem hatte sich diese gerade eben noch so perfekte Komfortzone innerlich in den falschen Platz verwandelt. Das trieb mich schwer um.
Alles in allem ein recht explosiver Mix.
Dass diese Ergebnisse unseren Hochzeitstag nicht im Depri-Tal enden ließen, ist einer Tatsache zu verdanken: Unsere Ehe hat ein starkes Fundament: Liebe. Auf die Gefahr hin, dass es etwas ins Schmalzige abrutscht, sei dazu ein Teil des Bibelverses zitiert, den man auf neun von zehn Hochzeiten zu hören bekommt:
Die Liebe erträgt alles, verliert nie den Glauben, bewahrt stets die Hoffnung und bleibt bestehen, was auch geschieht.
1. Korinther 13,7; NLB
»Und wenn sie nicht gestorben sind …«, möchte man hinzufügen und den Schnodder die Nase hochziehen. Denn wenn wir ehrlich sind, heulen wir bei Hochzeiten doch deshalb vor lauter Rührung, weil der Moment, in dem sich zwei Menschen auf fast märchenhafte Weise diese Art von ewig währender Liebe versprechen, besonders in seiner Tiefe ist. Weil er eine Dimension von Glauben aufweist, der jegliches Vernunftdenken sprengt. Glauben an den anderen, in einigen Fällen kombiniert mit dem Glauben an Gott.
Armin und ich haben unseren Bund sehr bewusst mit Gott geschlossen und spüren das bis heute. Ganz ohne Schmalzfaktor erleben wir, dass unsere Liebe füreinander immer wieder Mut, Kraft und Lebensfreude hervorbringt. Dass sie schöpferisch und göttlich ist. Und eben niemals aufgibt. Auch nicht an diesem Hochzeitstag.
Als wir da so saßen und redeten und die Analyse ein paar harte Brocken hervorbrachte, an denen wir knabberten, dachte ich plötzlich: »Ach scheiß doch auf den ganzen komplizierten Mist! Warum machen wir nicht noch mal ganz was anderes? Wenn nicht jetzt, wann dann? Wir sind zwei begeisterte Jesusfans, zu jedem Abenteuer bereit, wir haben einander, aber noch keine Verpflichtung durch Kinder. Was sollte uns aufhalten?« Was ich denke, sage ich meistens auch. Armin ist das gewohnt, daher reagierte er nicht irritiert, sondern sofort begeistert: »Stimmt, warum nicht? Und wie geht das jetzt?«
Kurze Randbemerkung: Das ist einer der Gründe, warum ich so gern mit ihm verheiratet bin. An den entscheidenden Punkten muss ich nicht mit ihm diskutieren. Wenn wir auch nur den Hauch eines göttlichen Gedankens aufkeimen sehen, sind wir beide sofort Feuer und Flamme und wollen herausfinden, was es damit auf sich hat.
Tief in uns drin haben wir den Wunsch nach »mehr«, oft ohne genau zu wissen, was das sein könnte. Doch woher kommt das eigentlich? Diese tiefe Sehnsucht, diese Antriebskraft, diese positive Unzufriedenheit, diese manchmal anstrengende oder gar krankhafte Umtriebigkeit?
Das Ganze erinnert mich an die Dynamik des 80er-Jahre-Klassikers Pac-Man, diese runde gelbe Spielfigur, die aus nichts besteht als einem riesigen Maul, das auf- und zuklappt, immer auf der Jagd nach kleinen, unscheinbaren Punkten, die seinen unbändigen Hunger niemals ganz stillen können. Es geht immer weiter, von Level zu Level: Klappe auf, Punkt rein, Klappe zu, Klappe auf, Traumpartner rein, Klappe zu, Klappe auf, fabelhaften Job rein, Klappe zu, Klappe auf, schnuckliges Haus rein, Klappe zu, Klappe auf, zwei süße Kinder rein, Klappe zu, Klappe auf, Applaus fürs jahrelange ehrenamtliche Engagement rein, Klappe zu, Klappe auf, tollen Freundeskreis rein, Klappe zu, Klappe auf, neues Auto rein, Klappe zu, Klappe auf, Klappe zu, Klappe auf, Klappe zu, Klappe auf … Eine actionreiche Jagd, die Spaß macht, aber irgendwann anstrengend wird, weil man niemals an den Punkt gelangt, an dem man alles erreicht hat und satt ist – irgendetwas fehlt irgendwie immer noch zum perfekten Glück.
Doch jetzt kommt der Hammer: der Urheber dieses Optimierungs-Wahnsinns ist Gott höchstpersönlich! Als er die grundlegenden Bedingungen für diese Welt in der Schöpfung festlegt, heißt es:
Da bildete Gott, der Herr, den Menschen, aus Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebende Seele.
1. Mose 2,7; ELB
Wo hier »lebende Seele« steht, steht im hebräischen Urtext »näfäsch«, was so viel bedeutet wie Verlangen, Wunsch, Wille, Gier, Hals, Kehle und Schlund. Mit anderen Worten: So wurde der Mensch ein Pac-Man.
Wir sind als nimmersatte Schluckmaschinen konzipiert – und das soll göttlich sein? Irgendwas stimmt doch da nicht! Aber was?
Das Prinzip, gefüttert werden zu wollen, Hunger zu haben, ist an sich nicht verkehrt. Essen und Bedürfnisse stillen kann sehr genussvoll und befriedigend sein. Daran, an den Punkten, die wir uns für unser Leben wünschen – Familie, Freunde, etwas schaffen –, kann ich ebenfalls nichts Schlechtes finden. Motivierende Ziele zu haben, ist der Motor dafür, sie auch anzustreben und bestenfalls irgendwann zu...