Innere und äußere Rhythmen
Weil Unordnung einen gesunden Leib verdirbt, wie viel mehr einen kranken … Darum soll in allen Dingen eine Ordnung gehalten werden, die zur Gesundheit diene.
Paracelsus
Viele der berühmten europäischen Heiler wie Paracelsus und Kneipp sahen Gesundheit nicht nur auf den menschlichen Körper beschränkt. Sie sahen vielmehr auch das menschliche Umfeld, Umwelteinflüsse und soziale Kontakte als maßgebliche Gesundheitsstifter. In dieser ganzheitlichen Sichtweise ist Gesundheit auch abhängig von einem geregelten, harmonischen, geordneten und natürlichen Umfeld.
Alles zu seiner Zeit und im rechten Maße … Im Maße liegt die Ordnung. Jedes zu viel oder zu wenig setzt an Stelle von Gesundheit die Krankheit.
Sebastian Kneipp
Im natürlichen Umfeld des Menschen haben die Jahreszeiten und die damit in Verbindung stehenden Bräuche große Auswirkungen: Die Jahreszeiten sind im Alpenraum ein wesentlicher Taktgeber für das menschliche Leben und die Natur unterliegt durch sie einem stetigen Wandel. Daneben gibt es aber auch innere Rhythmen und eine im wahrsten Sinn „innere Uhr“, die den Ablauf zahlreicher menschlicher Funktionen regelt und uns bewusst oder unbewusst maßgeblich beeinflusst.
Der äußere Rhythmus: der Jahreskreis
Wenn die Natur geordnet ist, geschieht alles, wie es geschehen soll.
Paracelsus
Im Sinne eines ganzheitlichen Gesundheitsverständnisses muss der Mensch auch als Teil der rhythmischen Abläufe in Natur und Kosmos gesehen werden. Eine Möglichkeit, sich diesen natürlichen Rhythmen zu nähern, sind jahrhundertelang gewachsene und im Ursprung jahrtausendealte Bräuche.
Gelebtes Brauchtum bietet hierbei die Möglichkeit zur Achtsamkeit und Naturverbundenheit. Der Mensch ist Teil des jahreszeitlichen Ablaufes und feiert diesen mit Ritualen. Dieses Bestreben ist tief in unserer Kultur verwurzelt. Bereits unsere vorchristlichen Vorfahren feierten verschiedene Feste, die wichtige jahreszeitliche Ereignisse markierten. Die Rituale haben sich über Jahrhunderte immer wieder verändert, die Zeitpunkte sind aber bis heute weitgehend dieselben geblieben.
Umdeutungen im Zuge der Christianisierung haben dazu geführt, dass christliche Feiertage oft mit „heidnischen“ zusammentreffen: Der Johannistag korreliert mit der Sommersonnenwende. Im Bild Feierlichkeiten am Johannistag in St. Michael im Lungau (Salzburg)
Der Jahreskreis war bereits bei unseren keltischen und germanischen Vorfahren von verschiedenen Festtagen geprägt. Dabei richteten sich diese gemäß dem Bedarf der bäuerlichen Gesellschaften am Sonnenstand aus. Die Feste waren damit neben dem rituell-religiösen Grundgedanken wichtige Bezugspunkte für Aussaat und Ernte. Im Zuge der Christianisierung wurden diese Feste umgedeutet und umbenannt, auch um den Übertritt ins Christentum zu erleichtern. Dadurch orientieren sich viele der christlichen Feiertage bis heute zeitlich am Sonnenstand und betten sich dadurch harmonisch in den jahreszeitlichen Ablauf der Natur ein. So ist es kein Zufall, dass der Johannistag (24. Juni) mit der Sommersonnenwende (21. Juni) oder das Weihnachtsfest mit der Wintersonnenwende (21. Dezember) und dem germanischen Julfest zusammenfällt.
Mit den Festen wurden auch die vorchristlichen Bräuche auf den neuen christlichen Glauben übertragen und so entstand im Laufe der Jahrhunderte eine Vielzahl an religiös aufgeladenen Ritualen, die im Ursprung aber auf vorchristlichen Traditionen beruhen. Palmsonntag, Ostern und Fronleichnam erinnern beispielsweise bis heute mit ihrem Bezug zu immergrünen Pflanzen wie Ölzweigen, Buchsbaum, Wacholder an einst weitverbreitete Fruchtbarkeitsriten des Frühlings.
Bräuche geben dem Jahr durch ständig wiederkehrende Rituale eine Struktur, dementsprechend sind sie ein Teil des natürlichen Bestrebens des Menschen nach Ordnung und Regelmäßigkeit. Echtes gelebtes Brauchtum verwurzelt, verbindet und vermittelt durch die Einbettung in jahreszeitliche Rhythmen ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Die Religion unterstützt dieses Bedürfnis nach der inneren Ordnung und Orientierung. Auch das Konzept der Salutogenese des israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923–1994) unterstützt diese Theorie. Antonovsky beobachtete bei seinen Patienten, dass das sogenannte Kohärenzgefühl für die menschliche Gesundheit eine immense Rolle spielt. Schicksalsschläge und erdrückende Lebensereignisse mündeten bei Menschen mit einem ausgeprägten Kohärenzgefühl – im Gegensatz zu Menschen, denen dieses fehlte – weniger oft in Krankheit. Sie waren also widerstandsfähiger, gesünder und lebten länger. Das Kohärenzgefühl definiert sich aus drei Punkten: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit. Erstere ist die Fähigkeit, Zusammenhänge im Leben zu verstehen, die Handhabbarkeit ist die tiefe innere Überzeugung, selbst das Leben gestalten zu können, und die Sinnhaftigkeit meint den Glauben an einen Sinn im Leben.1
Das gelebte Brauchtum und das bewusste Leben in jahreszeitlichen Rhythmen, das nicht nur als Kulisse oder als Touristenattraktion ausgeübt wird, berühren alle drei Aspekte. Denn die in den Jahreslauf eingebetteten Bräuche helfen, mit ihren rituellen Handlungen und dazugehörigen Geschichten die Zusammenhänge des Lebens zu begreifen. Gleichzeitig werden aber auch die Handhabbarkeit und die Sinnhaftigkeit berührt. Der jahreszeitliche Ablauf beginnt im Frühling mit seinen Fruchtbarkeitskulten (Ostern, Fronleichnam, Johannisfest), geht im Sommer und Herbst mit der Erntedankkultur (Mariä Himmelfahrt, Erntedank) weiter bis in den Herbst und Winter hinein, wenn Ruhe einkehrt, der Toten gedacht wird (Allerheiligen bzw. Halloween am Abend zuvor) und man sich mit den Lichtfesten (Weihnachten, Mariä Lichtmess) auf das neue beginnende Vegetationsjahr freut. Sieht man sich als Teil dieses Ablaufs, so wird man gleichzeitig Teil der Schöpfung und der umgebenden Natur. Das kann helfen, das Leben als gestaltbar und sinnvoll zu erleben.
Keltischer Jahreskreis mit den entsprechenden christlichen Festen
Der circadiane Rhythmus: die innere Uhr
Es gibt aber nicht nur einen äußeren Rhythmus, sondern auch einen inneren: Viele biologische Funktionen in unserem Körper zeigen ein periodisches Verhalten. Die meisten Funktionen haben einen charakteristischen Verlauf, der in einem definierten Zeitraum mindestens ein Maximum und ein Minimum an Aktivität erreicht. Dementsprechend besitzt jeder Mensch tatsächlich eine innere Uhr. Maßgeblicher Taktgeber für diese ist auch hier die Sonne, genauer gesagt das Sonnenlicht.
Der menschliche Körper ist keine Maschine, sondern ein auf Regelkreisläufen und Rückkopplungsmechanismen basierender Organismus. Dabei wird der Mensch körperlich wie psychisch maßgeblich von biologischen Rhythmen beeinflusst. Die Zeitspannen reichen dabei von wenigen Sekunden (z. B. Atmung) über den Tagesrhythmus (circadianer Rhythmus, z. B. Schlaf-Wach-Rhythmus) bis hin zu Monats- (z. B. Menstruation) oder Jahresrhythmen. Einer der augenscheinlichsten ist der Tagesrhythmus, der circadiane Rhythmus.
Der circadiane Tagesrhythmus ist ein uns allen angeborener und für das menschliche Leben und den Ablauf menschlicher Funktionen wesentlicher Faktor. Der körperlich geregelte Tagesrhythmus entwickelt sich beim Kleinkind ab der 15. Lebenswoche. Es ist jene Zeit, in der das Kind sich einen Schlaf-Wach-Rhythmus angewöhnt, der sowohl auf inneren Taktgebern (innere Uhr) als auch auf äußeren Einflüssen wie der Sonne beruht. Hell und Dunkel gehören auch im Erwachsenenalter neben der Nahrungsaufnahme oder auch dem sozialen Umfeld zu den wichtigsten Taktgebern unserer inneren Uhr, die täglich synchronisiert und gegebenenfalls auch täglich angepasst wird.
Zahlreiche Körperfunktionen unterliegen dem Tagesrhythmus, ohne dass wir das immer bemerken würden. Jeder kennt das mittägliche Tief, das viele zu einem Mittagsschlaf drängt, aber auch die Körpertemperatur, Hormonausschüttungen und sogar Krankheitssymptome wie Schmerz durchlaufen jeden Tag mindestens einen Höhe- und einen Tiefpunkt. Das Schmerzempfinden hat beispielsweise zwischen 0 und 3 Uhr nachts seinen Höhepunkt, während man zwischen 12 und 18 Uhr am schmerzunempfindlichsten ist. Gleichzeitig wirken Schmerzmittel in den Nachtstunden weniger als während des Tages, es kommt daher nicht von ungefähr, dass sich Zahn- oder auch Ohrenschmerzen vor allem nachts verstärken oder bemerkbar machen.
Auch der Ausbruch einiger körperlicher Beschwerden tritt in bestimmten Zeiträumen verstärkt in Erscheinung. Herzinfarkt tritt beispielsweise häufiger in den frühen Vormittagsstunden (9...