Jeder der drei im folgenden erörterten Wissenschaftler zeichnete sich in einer anderen Disziplin aus. Arnaldo Momigliano war ein herausragender Historiker; Eric Voegelin, Philosoph und politischer Theoretiker, gründete eine eigene Schule; und George Steiner ist ein einflußreicher Kulturkritiker. Obwohl keiner Judaist sensu stricto war, fühlten sich alle drei auf besondere Art und Weise dem Judentum verbunden – Momigliano und Steiner aufgrund ihres jüdischen Selbstverständnisses, Voegelin wegen seiner Sympathie für Juden und Judentum sowie des umfassenden Charakters seines wissenschaftlichen Werks, das seiner Meinung nach eine ausführliche Erörterung der Religion im ersten Band seines magnum opus Geschichte und Ordnung unter dem Titel Israel und die Offenbarung verlangte. Ungleich besser als die beiden anderen mit Judentum im allgemeinen und hebräischen Texten im besonderen vertraut, konzentrierte sich Momigliano vorzugsweise auf historische Aspekte des hellenistischen Judentums und die Geschichte der Juden in Italien. Indessen war, wie man im folgenden sehen wird, seine eigene Sicht des Judentums durchaus unhistorisch.
Obwohl sie sich für das interessierten, was Gelehrte wie Gershom Scholem über das Judentum zu sagen hatten, teilten weder Steiner noch auch Momogliano Scholems zionistische Einstellung. Tatsächlich sträubten sich alle drei Autoren, politische Entwicklungen zu erörtern, und waren eher mit der intellektuellen Erkenntnis von Religion befaßt. Momigliano und Voegelin neigen, wie man weiter unten sehen wird, mehr zu einer platonisch-kontemplativen Interpretation, Steiner hingegen ist der Auffassung, der Geist des Judentums erstrebe eine Rolle als Vorbild, insofern Juden eine erzieherische Mission unter den Völkern der Welt innehätten. Keiner von ihnen lebte in Israel, Momigliano und Steiner besuchten es allerdings von Zeit zu Zeit.
1.
Arnaldo Momigliano und Gershom Scholem über jüdische Geschichte und Tradition
Amadio Momigliano: Ein »verratener« Großvater?
Niemand kann sich seine Vorfahren aussuchen, doch wenn es uns beliebt, können wir bedeutende intellektuelle oder spirituelle Figuren zur Nacheiferung auswählen. So sah sich Franz Rosenzweig als geistigen Erben des berühmten mittelalterlichen Dichters und Philosophen aus dem 12. Jahrhundert R. Yehuda ben Schmuel ha-Levi, dessen hebräische Gedichte er ins Deutsche übertrug; und Gershom Scholem erkor den deutschen Humanisten und Kabbalisten Reuchlin aus dem frühen 16. Jahrhundert zu seinem geistigen Ahnherrn (Rosenzweig: Briefe, S. 628; Scholem: Die Erforschung, S. 247).1 Ähnlich bestimmte, wie man im abschließenden Kapitel sehen wird, Abraham J. Heschel keinen Geringeren als R. Israel Ba`al Schem Tov, den Begründer des Chassidismus, zu seinem Vorläufer.
Obwohl derlei rückwirkende Adoptionen sinnbildlich zu verstehen sind und keinesfalls die großartigen und vielschichtigen Errungenschaften dieser modernen Philosophen beschränken, vermögen sie doch einen Hinweis darauf zu geben, was für ein Bild diese Persönlichkeiten von sich selbst hatten. Die Ähnlichkeit der Strategien, die sowohl der Anti-Historiker Rosenzweig als auch Scholem, der allenthalben als Historiker schlechthin gilt, wählten, ist erstaunlich und nachgerade paradox: Anders als die jüdischen Philosophen in ihrer Mehrheit schrieb Rosenzweig genau wie ha-Levi historischen Ereignissen große Bedeutung zu; dagegen war Reuchlin, Scholems Idol, im Grunde ein Perennialist und mit Sicherheit kein Historiker.2
Momigliano war, anders als Rosenzweig und Scholem, die zu einem nicht geringen Teil auch Theologen waren, professioneller Historiker. Hatten die beiden deutschen Juden jeweils Theologen zu ihren Vorläufern gewählt, suchte Momigliano eine Quelle der Inspiration bei einem jüdischen, in Italien lebenden Historiker.
Auf den folgenden Seiten werde ich einige Ansichten Scholems und Momiglianos zur jüdischen Geschichte und Tradition unter gelegentlicher Bezugnahme auf Rosenzweig vergleichen. Momiglianos Texte zu Scholem geben nicht allein den Blick auf seinen eigenen kulturellen Hintergrund frei, sondern werfen auch Licht auf einige unausgesprochenen Ansichten Scholems über das Judentum. Zudem beeinflußte die Kabbala, die im Zentrum von Scholems Forschungen stand, Momiglianos Verständnis des Judentums, und zwar sowohl vor seiner Kenntnisnahme von Scholems Forschungen als auch unabhängig davon.
Immer wieder beschäftigte sich Momigliano mit dem Verhältnis von Geschichte und Tradition. Am Schluß seines Essays Tradition and the Classical Historian (Momigliano: Tradition) spricht er mit Verweis auf Joseph Levenson, einen Historiker der chinesischen Geschichte und Tradition, von der »Schwierigkeit, Tradition in einer Historiographie des Wandels wieder zur Geltung zu bringen«.
Momiglianos Schriften zum Judentum lassen deutlich die dominierende Rolle erkennen, die Amadio Momigliano spielte, der Bruder seines Großvaters, ein moderner Kabbalist, der zu einem nicht geringen Teil für die jüdische Erziehung seines Großneffen verantwortlich war (vgl. S. Bertis Einleitung zu Momigliano: Essays on Ancient and Modern Judaism, S. IX). Obwohl Arnaldos Bewunderung für Amadio grenzenlos war, wählte er zu seinem intellektuellen Vorgänger den traditionellen und recht unbedeutenden mittelalterlichen jüdischen Chronisten R. Achima`ats aus Oria (Momigliano: The Jews of Italy, S. 133f.). Trotz der Tatsache, daß Arnaldo die Geschichtswissenschaft als sein akademisches Gebiet wählte, widmete er sich, wie wir noch sehen werden, keineswegs vollständig der Geschichte. Bei Momigliano haben wir es mit einem vielseitigen Denker und einem ungewöhnlichen Werdegang zu tun, in dem ganz unterschiedliche Interessen und Einflüsse aufeinander einwirkten.
Ein ausgesprochen wehmütiger Ton klingt bei Momigliano an, wenn er auf den Bruch in Glauben und religiöser Praxis zwischen der Generation seines Großvaters und der eigenen zu sprechen kommt. Nach dem Tod seines Großvaters hörte die Familie auf, nach den Bestimmungen des orthodoxen Judentums zu leben. Zwar übernahm Momigliano eine von André Schwartz-Bart geprägte Formulierung zur Charakterisierung seines Großonkels als einem »Letzten der Gerechten« in Italien, doch hat es nicht den Anschein, als hätten die beiden je den Inhalt des Buches Sohar diskutiert oder die Art der Erfahrungen, die Amadio in seinem religiösen Leben gemacht hatte. Momigliano stellt ausdrücklich fest, daß die Vermittlung der jüdischen Überlieferung unter den italienischen Juden fehlgeschlagen sei und daß ihn diese Entwicklung unmittelbar betraf (Momigliano: The Jews of Italy, S. 133; Bertis Einleitung in Momigliano: Essays on Ancient and Modern Judaism, S. XXVf.). Sein Bedauern über den Verlust einer wertvollen Vergangenheit macht sich bei Momiglianos Verständnis als Historiker bemerkbar – seine Aufgabe sieht er in einer spirituellen und intellektuellen Funktion, nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch in der jüdischen Tradition überhaupt. Bei seiner Beschreibung der Kultur der italienischen Juden betont Momigliano, daß die kabbalistisch-mystische Tradition besser überlebte, d. h. länger bestand, als der Talmudismus. Nach seiner eigenen Erfahrung endete sie mit dem Tod seines Großonkels. Elegisch schreibt Momigliano: »Jüdische Kultur ist selten in der Weise überliefert worden, wie wir Juden meinten, daß sie überliefert werden sollte« (Momigliano: The Jews of Italy, S. 133). Diese These über den Verfall der traditionellen jüdischen Bildung in Italien wird ganz allgemein formuliert, doch steht sie in einem persönlichen Zusammenhang. Arnaldo lernte bei Amadio Hebräisch und war sozusagen ein natürlicher Kandidat, die Tradition fortzuführen, doch entschied er sich nicht dafür. Später versuchte er herauszubekommen, ob Amadio einer weitläufigeren kabbalistischen Tradition in der Familie angehört hatte, doch fand er hierfür keine Beweise (Bertis Einleitung in Momigliano: Essays on Ancient and Modern Judaism, S. XXVI).
Eine übergreifende Erfahrung im Judentum
Eine zentrale Aussage über das Judentum, die Momigliano anläßlich einer Beschreibung der Bedeutung seines Großonkels für dessen Interpretation gab, könnte hilfreich sein, manch weniger deutliche Aussagen des Autors zu erhellen. »Die gesamte Entwicklung des Judentums führte zu etwas Ahistorischem, Ewigem, dem Gesetz, der Tora . . . Geschichte vermochte demjenigen, der Tag und Nacht das Gesetz erforschte, nichts zu erklären und kaum etwas zu offenbaren.« (Momigliano: Persian Historiography, S. 23; Chazan: Timebound, S. 31f.)
Diese Aussage verweist auf die Möglichkeit einer Verbindung von historischem und antihistorischem Denken bei Momigliano. Genau genommen behauptet Momigliano, daß Geschichte denjenigen Juden kaum etwas Nützliches erkläre, die in das Studium der Religion und deren Rituale vertieft seien, da sie nicht – wie die kanonischen Schriften – die Form einer unmittelbar überbrachten Botschaft annehme und auch nicht vorgebe, einen Schlüssel zur Verfügung zu stellen, mit dessen Hilfe der Inhalt der Heiligen Schrift richtig gedeutet werden könne. Das will nicht notwendigerweise heißen, daß Juden – ob bedeutende Gelehrte oder nicht – um ihres religiösen, wirtschaftlichen oder politischen Überlebens willen nicht ihre religiöse Praxis und ihr weltliches Verhalten erlernten, verstanden und anpaßten – oder oftmals die Relevanz historischer Verhältnisse in bezug auf ihre Existenz mißdeuteten. Die Frage, wie Momigliano sie stellt, lautet, inwieweit diejenigen, die traditionelle Formen des nachbiblischen Judentums praktizierten, Geschichte als einen mit...