Ungefähr 3,3 Millionen Juden lebten im Polen der Vorkriegszeit, davon zwischen 30 und 40 Prozent – genaue Zahlen lassen sich nicht ermitteln – in kleinen Städten und Kommunen. Die großen Städte mit ihren jüdischen Gemeinden – Warschau, ?ód?, Krakau, Wilna, Bia?ystok, Cz?stochowa und andere – konzentrierten sich im mittleren, nördlichen und westlichen Teil des Landes. Im Osten, wo die Polen in der Minderheit waren und der Großteil der Bevölkerung vor allem aus Ukrainern und Weißrussen bestand (den Distrikt Bia?ystok ausgenommen), gab es nur eine größere Stadt, nämlich Lwów (Lemberg; heute Lwiw), sowie eine Reihe mittelgroßer Städte wie Brest-Litowsk (poln.: Brze?? nad Bugiem; jidd.: Brisk de Lita), Rowne (ukr.: Rivne; jidd.: Rowno oder Rowna), Lutsk, Kovel und einige andere.1 In diesem östlichen Landesteil, polnisch Kresy (»Sumpf-« oder »Grenzland«) genannt, lebten etwa 1,3 Millionen Juden, die meisten von ihnen in kleineren Städten, Gemeinden und Dörfern. Die Gemeinden mit einem hohen Anteil jüdischer Einwohner wurden von diesen Schtetlech genannt (»Städtchen«; Sing.: Schtetl). Wir können davon ausgehen, dass weit über ein Drittel der polnischen Juden in den über das ganze Land verstreuten Schtetlech lebte, in den Kresy sogar um die 60 Prozent der dort ansässigen Juden. Aus manchen Statistiken geht hervor, dass 60 Prozent aller polnischen Juden in Orten lebten, die weniger als 10 000 jüdische Einwohner hatten.2
Die Schtetlech des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und ihre Geschichte sind Gegenstand umfangreicher Literatur. Im 19. Jahrhundert wurde Jiddisch zu einer literarischen Sprache, und große Schriftsteller beschrieben die Schtetlech in Romanen, Gedichten und Dramen. Mendele Moicher Sforim (Shalom Y. Abramowicz), Sholem Aleichem (Shalom N. Rabinowicz), Yehuda Leib Peretz, Sholem Asch und andere schufen eindrucksvolle Bilder jüdischen Lebens an diesen Orten. Ihre Beschreibungen waren keineswegs ausschließlich positiv: Mit bitterer Kritik schilderten sie die entwürdigende Armut, den religiösen Fanatismus und die autoritären Oligarchien, die nicht an allen, doch an den meisten dieser Orte herrschten, und erzählten von der Hoffnungslosigkeit der Juden, die antisemitischer Bürokratie ausgesetzt waren und seit Mitte des 19. Jahrhunderts nichts lieber getan hätten, als den Schtetlech durch Flucht in den Westen zu entkommen. Aus den Geschichten der Schriftsteller erfahren wir von den sozialen Konflikten und von Korruption, die nicht nur unter der christlichen Obrigkeit, sondern auch unter der jüdischen Bevölkerung verbreitet war. Doch hoben die Autoren auch die unter den Juden herrschende Loyalität und ihren engen Familienzusammenhalt hervor und bewunderten sie für die Beständigkeit, mit der sie ihre religiösen Bräuche und Gesetze befolgten. Diese literarische Produktion versiegte nach dem Ersten Weltkrieg, und nur wenige Schriftsteller, der große Isaac Bashevis Singer etwa, befassten sich in ihren Werken weiterhin mit den polnischen Juden und den Bewohnern der Schtetlech. Was blieb, war ein Bild des Schtetls, des heim, das Millionen von Emigranten in sich trugen, als sie zumeist in die Vereinigten Staaten, das Land der »unbegrenzten Möglichkeiten«, auswanderten. In den 1940er Jahren und auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch dominierte eine wirklichkeitsfremde, süße Nostalgie die Erinnerung an das Schtetl, wie sie sich etwa in dem bekannten Musical Fiddler on the Roof manifestiert, die verzerrte Darstellung einer Erzählung von Sholem Aleichem (die im Original in einem Dorf, nicht in einem Schtetl spielt). In dieser unerträglich süßlichen, künstlichen Welt des Ostjudentums waren angeblich alle Juden tief religiös, naiv, aber schlau, und im Schtetl regierten Güte und Rechtschaffenheit, allen widrigen Umständen zum Trotz.
Zu den Schtetlech während der 1930er Jahre und während der Zeit der Shoa liegen nur wenige soziologische oder historische Untersuchungen vor.3 Auch die Forschungsliteratur über das Leben der polnischen Juden in den 1930er Jahren ist alles andere als üppig. Bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts hat erstaunlicherweise niemand den Versuch unternommen, die Veränderungen zu beschreiben, welche die Schtetlech zwischen den beiden Weltkriegen, vor allem in den 30er Jahren, erfassten, und noch überraschender ist vielleicht, dass es kaum Studien gibt, die über die Dokumentation ihrer Zerstörung hinausreichen und herauszufinden suchen, was genau mit den Schtetlech während der Shoah geschah. Wir wissen, dass die Juden umgebracht wurden. Auch wer sie ermordet hat, wo, wie und wann das geschah, wissen wir ziemlich genau. Verschiedene Untersuchungen stellen die Motivationen und die Ideologie der Nationalsozialisten sowie die wirtschafts- und sozialpolitischen Eingriffe der deutschen Besatzer heraus, und es gibt auch erste Versuche, zu beschreiben, wie sich die nicht-jüdische Bevölkerung gegenüber den Juden verhalten hat – hier allerdings bleibt noch eine Menge zu tun. Was wir jedoch nicht wissen, aber gerne wissen möchten, ist, wie das Leben der Juden aussah, bevor sie ermordet wurden, und wie sie auf den plötzlichen, unerwarteten, für sie unerklärlichen Angriff auf ihr Leben reagierten, der von einer Macht ausgeführt wurde, deren Politik sie nicht verstanden und auch nicht verstehen konnten.
Es gibt ein paar Bücher über einige polnische Schtetlech.4 Manche von ihnen, wie das von Shimon Redlich über das ostgalizische Brzezany, Daniel Mendelsohns und Anatol Regniers Untersuchungen des ostgalizischen Bolechow sowie Theo Richmonds Forschungen zum westpolnischen Konin, sind Versuche der Verfasser, entweder mehr über ihre eigenen Wurzeln herauszufinden oder sich vor dem Hintergrund interethnischer Beziehungen mit den Erfahrungen Überlebender auseinanderzusetzen. Shimon Redlich stützt sich auf Aussagen Einheimischer, meist Ukrainer, die mehrheitlich natürlich sagen, sie hätten den Juden geholfen. Die Verlässlichkeit solcher Behauptungen steht in Frage. Andere Bücher, so etwa die von Rosa Lehmann (über Jasliska) und von Jack Kagan (über Nowogródek), sind ernsthafte Versuche, sich den historischen und soziologischen Problemen zu nähern. Besonders beeindruckend ist Theo Richmonds Buch über Konin; doch auch er setzt sich mit den Erfahrungen der Juden während des Krieges kaum auseinander. Dafür befasst sich Esther Farbstein in ihrem Buch über die Reaktionen der Rabbiner auf die Shoah recht ausführlich mit Yehoshua Moshe Aharonson, dem Rabbi von Sanniki, der in das Arbeitslager von Konin deportiert wurde und dessen Tagebuch und Memoiren sie aufgespürt hat. Ihre brillante Darstellung und Analyse macht deutlich, wie viel mehr wir über Konin in Erfahrung bringen können, wenn wir andere Quellen nutzen. Jack Kagans Buch ist ein wertvoller Bericht über das Schicksal des jüdischen Nowogródek, insbesondere weil es ihm gelungen ist, eine ganze Reihe bislang unbekannter deutscher und sowjetischer Dokumente aufzuspüren. Peter Duffys Darstellung, die ebenfalls Nowogródek behandelt, ist ein gutes Beispiel für investigativen Journalismus, liefert auch einige wichtige Informationen, doch scheint der Autor im Großen und Ganzen eher auf Sensationen aus zu sein. Die Wiedergabe von Gesprächen zwischen einigen der Figuren seiner Geschichte ist nicht glaubhaft und lenkt vom eigentlichen historischen Erkenntniswert des Buches ab. Rosa Lehmanns Bericht über Jasliska ist eine sehr interessante anthropologische und soziologische Studie der Beziehungen zwischen jüdischen und christlichen Polen in der Vorkriegszeit und bietet Einblicke von hohem Wert. Doch auch sie befasst sich kaum mit dem Leben der Juden in ihren Gemeinden, und ihre Darstellung der Shoah erbringt nicht viel Neues.5
Ich habe eine ganze Reihe von Schtetlech untersucht, und viel des Folgenden basiert auf meinen abgeschlossenen und laufenden Studien.6
Ein Problem, auf das jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt, bald stoßen wird, ist, dass Soziologen und Historiker nicht definiert haben, was genau sie meinen, wenn sie vom Schtetl sprechen. Dabei ist eine Definition, selbst eine willkürliche, unerlässlich, wenn man sich mit diesem Gegenstand befassen will. Nach einigen Versuchen kann ich folgende Definition anbieten: Ein Schtetl war eine Stadtgemeinde mit 1000 bis 15 000 jüdischen Einwohnern, die wenigstens ein Drittel der Gesamtbevölkerung stellten; ihr Leben wurde vom jüdischen Kalender und von Sitten und Bräuchen bestimmt, die auf einer traditionellen Auslegung der jüdischen Religion basierten.7 Die Juden im Schtetl wurden von einer informellen Oligarchie regiert, aus deren Kreis diejenigen gewählt wurden, die kommunale Aufgaben übernahmen. Dies geschah im Rahmen der kahal oder kehille (hebr. Plur.: kehillot; jidd. Plur.: kehilles), der Religionsgemeinde, die in verschiedenen Formen seit Hunderten von Jahren existierte und das kommunale jüdische Leben organisierte. 1927 erkannte die polnische Regierung die kehillot als Religionsgemeinden an, zu deren Aufgaben darüber hinaus aber auch einige Aspekte der Sozialfürsorge zählten. Dieser Anerkennung gingen Verhandlungen mit den Behörden sowie Auseinandersetzungen und Arrangements innerhalb der jüdischen Gemeinden voraus. Ab 1927 jedenfalls lenkten die im kahal tonangebenden Männer das religiöse, soziale und bis zu einem gewissen Grad auch das wirtschaftliche Leben der jüdischen Bevölkerung, worin sie ein Netzwerk von Freiwilligen...