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E-Book

Altersreise

Wie wir alt sein wollen

AutorHenning Scherf
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783451803826
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Wie wollen wir alt sein? Und vor allem: Wie können wir würdig altern? Nicht weggesperrt in Altensilos, sondern gemeinsam mit anderen, mitten in der Gesellschaft? Dass das möglich ist und wie das geht zeigt Scherf, der sich dafür »vor Ort' begeben hat, Heime besucht, mit alten Menschen mitgelebt hat. Entstanden ist Henning Scherfs persönliches Buch zur Lage der »alten Alten'. Minuten-Pflege und Finanzprobleme müssen nicht sein. Scherf gibt konkrete und positive Antworten: Altsein ist eine Herausforderung. Aber sie ist zu bewältigen.

Henning Scherf, Dr. jur., geb. 1938, war lange Jahre Sozial-, Bildungs- und Justizsenator und von 1995 bis 2005 Bürgermeister und damit Ministerpräsident des Bundeslandes Bremen. Er ist verheiratet, hat drei Kinder, ist neunfacher Großvater und lebt in Deutschlands berühmtester Haus- und Wohngemeinschaft.

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Leseprobe

Kapitel 1

Vom Glück, alt zu werden

Gewonnene Jahre nutzen

Borgfeld, Dienstag, 25. Mai 2010

Mein erster Tag in einer neuen Welt.

Zunächst erledigte ich noch meine Termine und Korrespondenzen im Rathaus. Alle wünschten mir gute Tage in der WG.

Meine beiden Radtaschen waren vollgestopft, und los ging es mit meinem Rad nach Borgfeld. Das ist ein wunderbarer Radweg durch den Bürgerpark, vorbei an der Universität und hinaus auf die Wümme-Deiche.

Ich wurde erwartet. Haus- und Projektleiterin nahmen mich in Empfang. Mein Rad landete im Keller.

Mit schmalem Gepäck bin ich in mein Zimmer (20 Quadratmeter plus Dusche und Toilette) eingezogen. Nachdem alles verstaut war, führte mich die Projektleiterin, Frau Blank, in die Tagesstruktur, in die Personalsituation und in die Lage meiner Mitbewohner ein.

Bevor wir alle uns um den Mittagstisch versammelten, hatte ich ein erstes Gespräch mit Beate Lenders. Wir kennen uns schon lange. Wir beide freuen uns sehr, uns zwei Wochen im gleichen Haus, Zimmer an Zimmer, austauschen zu können.

Sie hat vor einem Jahr ihre Tochter in Berlin verloren, zu der zu ziehen ihr Traum gewesen war. Jetzt ist sie hier, hat wunderschöne Möbel in die WG eingebracht und ist ein Lichtblick nicht nur für mich. Wir haben gleich Pläne gemacht: Jeden Tag einen ausgedehnten Spaziergang, Theaterbesuche und irgendwann gemeinsam nach Berlin fahren.

Beim Mittagessen saßen wir alle (zehn WG-Bewohner und Betreuer) um einen großen Tisch. Neben mir Herr Busche, mit Schlips und Kragen, wohlerzogen, aber unaufhörlich im Haus herumwandernd. Uns gegenüber Herr Christensen aus dem Fedelhören, unserer Parallelstraße; nachdem er begriffen hatte, wer ich war, taute er auf, sang sogar einen Glen-Miller-Song und fragte mich nach seinen und meinen Nachbarn aus. Er lebt auf der Grenze von Verzweiflung und Einsamkeit und immer wieder aufflammender Erinnerung.

Von den sechs Frauen habe ich Frau Schröder, eine Schulhausmeistersfrau aus Dorstfeld, kennengelernt. Sie ist Witwe und hat hier einen guten Platz gefunden. Sie arbeitet fleißig beim Kochen mit, backt jeden Tag Kuchen für alle und ist überhaupt so etwas wie die gute Seele.

Die Jüngste von allen ist eine 61-jährige, körperlich topfitte Sportlehrerin mit unübersehbaren Alzheimersymptomen. Wir haben nach dem Essen auf der Diele Ball gespielt und haben vor dem Abendessen eine Art Gewaltmarsch (acht Kilometer ohne Pause) ums Blockland absolviert. Geredet haben wir dabei kaum, aber es ist uns offensichtlich beiden gut gegangen. Wir waren lange auf dem Deich bei untergehender Sonne und frischem Wind, wenigen Radfahrern und endloser Marschlandschaft.

Ein längeres Gespräch hatte ich mit der Ältesten, Frau Rulfs. Sie kommt aus dem ehemaligen Jugoslawien, spricht mit Akzent Deutsch und ist voller Geschichten über das bunte Völkergemisch ihrer Heimat in vorkommunistischer Zeit. Mit ihr, so hoffe ich, werde ich noch spannende Gedanken über das Zusammenwachsen von Völkern und über neue und alte Heimat austauschen.

Weiterhin gehört eine liebenswürdige Witwe aus Emden dazu, die fest davon überzeugt ist, dass ihr Mann mit mir bekannt war. Ich habe ihr beim Essen begeistert zugehört, wie sie dem verzweifelten Christensen Mut machte. Er wollte immer wieder nach Hause – wo niemand ist –, und sie sagte ihm, sie sei hier angekommen, dies sei ihr Zuhause, hier hätte sie Menschen gefunden, die mit ihr teilten.

Die letzte Mitbewohnerin ist stark behindert. Ich höre ihre Kuckuck-Rufe durchs ganze Haus, sie will nicht mit uns gemeinsam essen und Gespräche mit ihr finden nicht statt. Um sie werde ich mich in den zwei Wochen noch sehr bemühen müssen.

Jetzt sitze ich in meinem Zimmer; gerade hat sich ein junger Nachtdienstler vorgestellt, und ich schreibe an einem kleinen Sekretär, vor mir das Bild unserer Großfamilie mit drei Kindern, drei Schwiegerkindern und sieben Enkelkindern. Meine Anspannung hat sich gelegt. Ich werde diese Tage nutzen. Es wird eine Erfahrungsreise in eine andere Welt …

***

Keine konnte so schön sterben wie Beate Lenders. Die Lenders als Antigone – ich habe als 15-jähriger Schüler in Bremen diese Frau angehimmelt. Nur ihretwegen bin ich ins Theater gegangen. Ich habe mich aber nie getraut, meiner Heldin einen Liebesbrief zu schreiben, mich nie getraut, ihr Blumen auf die Bühne zu werfen oder gar vor ihrer Garderobe zu stehen und zu sagen: »Danke, großartiger Auftritt.«

Und nun treffe ich sie in dieser Pflegewohngemeinschaft in Borgfeld, einem Vorort Bremens, wieder. Borgfeld ist die erste Station auf meiner Rundreise, auf der ich herausfinden will, wie man sein Leben im hohen Alter trotz Gebrechlichkeit, trotz Demenz oder trotz Sehnsucht nach den bereits verstorbenen Liebsten dennoch voller Würde und so aktiv es nur geht leben kann. Wenn man so will, ist diese Reise für mich, der ich jetzt über siebzig bin, eine Art Expedition ins hohe Alter. Eine Expedition in eine Welt, in die ich aber vielleicht in ein paar Jahren schon selbst übersiedeln werde.

Aber zunächst einmal freue ich mich, dass ich gleich bei der ersten Station meiner Altersreise ein bekanntes Gesicht wiedersehe. Beate Lenders – die Schöne, die vollendete Dramatikerin. Nun endlich kann ich ihr all das erzählen, was ich mich als junger Kerl nicht getraut habe. Und sie freut sich darüber, über die alten Geschichten, über meine Verehrung. Nun kann ich sie in den Arm nehmen. Und sie lässt sich gerne in den Arm nehmen. Nun kann ich sie mit Vornamen anreden, nun ist sie für mich einfach Beate. Sie macht sich schick für mich, und sie sieht wunderbar aus, eine schöne alte Dame. Wir gehen zusammen spazieren – alleine geht sie keinen Schritt aus dem Haus, weil sie Angst hat, dass sie nicht wieder zurückfindet oder dass sie unter die Räuber gerät. Wir plaudern und wir entdecken und beobachten die Bäume, die Wiesen, die Blumen, die Tiere. Ich bin sogar mit ihr ins Theater gegangen – ihr Arzt war skeptisch, er fürchtete, sie bekomme dann eine Krise. Wir haben es trotzdem getan. Und nichts dergleichen: Sie hat sich gefreut und ich hatte das Gefühl, ich habe sie dort abgeholt, wo sie in Gedanken ohnehin ist, wo sie sich zu Hause fühlt.

***

Borgfeld, Freitag, 28. Mai 2010

Kurz vor 18 Uhr sind Beate und ich mit der Straßenbahn zum Theater gefahren. Sie hat an allem Anteil genommen. Zum Teil erkannte sie einzelne Straßenecken und besonders schöne Häuser wieder.

Im Theater trafen wir Luise mit einer Freundin. Wir vier verstanden uns vom ersten Augenblick an. Beate nahm so lebhaft an allem teil, dass ich mir vorgenommen habe, sie auch künftig gelegentlich in die Stadt einzuladen.

Es gab: Gerhart Hauptmann, ›Einsame Menschen‹. Vergleichbar mit den Stücken Strindbergs oder Tschechows, dreht es sich um Beziehungen und gestörte Kommunikation. Mich hat das Stück sehr beschäftigt, weil es im Gegensatz zu meiner eigenen Haus- und Wohngemeinschaft und auch im Gegensatz zur gegenwärtigen Demenz-WG ein hoffnungsloses Nebeneinander der Menschen vorführt: Jeder müht sich nach Kräften, aber niemand erreicht den anderen. Und der Selbstmord der Hauptfigur macht allem ein bitteres Ende.

Beate Lenders war voll präsent, sie hat mit mir gründlich über Stück und Inszenierung geredet. Wir hatten übereinstimmende Einschätzungen. Sie möchte, wann es irgend geht, gern wieder ins Theater. Anders als die besorgten Pfleger befürchtet hatten, war sie guter Dinge, als wir von diesem Theaterbesuch heimkehrten.

***

Beate Lenders war irgendwann nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen. Sie ist nicht mehr aus dem Haus gegangen, hat nichts mehr eingekauft, hat nichts mehr gekocht, nichts mehr gegessen. Sie hatte schlicht vergessen, wie man das macht. Wenn man sie allein gelassen hätte, wäre sie verhungert.

Doch sie hat Glück gehabt. In der Wohngemeinschaft, in der sie einen Platz bekam, ist ihr die Grundversorgung aus der Hand genommen. Jemand kocht für sie, jemand regelt ihre finanziellen Belange. Und es ist deutlich zu spüren, dass ihr damit eine Last genommen ist. Sie wird mit einbezogen, deckt etwa den Tisch, aber sie ist nicht mehr verantwortlich, kann sich nun anderen Dingen widmen, die sie schon verdrängt hatte. Sie konzentriert sich nun auf ihre frühere Tätigkeit als Schauspielerin, freut sich, wenn ein ehemaliger Kollege sie besucht. Sie hilft im Haushalt, spielt mit den anderen, macht mit ihnen Ausflüge. Sie ist nun nicht mehr völlig erstarrt vor Überforderung durch den Alltag. Ihre Hilflosigkeit hat sie wieder ablegen können, dank einer Struktur, die sie auffängt.

Beate hat in der Nähe ihrer jetzigen Alters-Wohngemeinschaft gelebt. Als wir spazieren gegangen sind, hat sie mir erzählt: »Diesen Weg bin ich immer gegangen; dieses Haus kenne ich; das sieht hier aus wie früher, als ich noch mit meinem Mann hier spazieren gegangen bin.« Sie ist also nicht von einem Stadtteil in den anderen verfrachtet worden, sondern lebt nun dort, wo sie die letzten 30 oder 35 Jahre gelebt hat. Das ist ein enormer Vorteil für ihre tägliche Orientierung und ihr persönliches Sicherheitsgefühl: Alles ist, wie es immer war. Hinzukommt, dass sie sich in der Wohngemeinschaft aus dem Gemeinschaftsraum und der Küche jederzeit in ihr Appartement, zwischen ihre Möbel, ihre Bücher und Bilder zurückziehen und sich dort wie zu Hause fühlen kann.

Ich musste 72 Jahre alt...

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