Kampenwand. Rettung im Regen.
Wer Martina Bauer auf ihrem Hof bei Sachrang zum ersten Mal begegnet, dem ist es, als säße er Heidi gegenüber. Der echten Heidi, der, die das Vorbild abgab für eines der erfolgreichsten Kinderbücher und unzählige Verfilmungen. „Ich war immer viel draußen“, erzählt die wettergebräunte Martina Bauer, wenn man sie nach ihrer Kindheit fragt. „Ich war viel mit anderen Kindern beim Lager-Bauen, Indianer-Spielen. Ich hab viel gelesen. Nur gelernt hab’ ich nicht so gern, Schule machte keinen Spaß, ich war ein bisschen faul.“
Vielleicht hatte sie damals auch schon anderes im Sinn als das Leben aus Schulbüchern kennenzulernen. Ihr Vater und ihr Onkel waren bei der Bergwacht. Und die gehörte zum väterlichen Hof dazu wie der Apfelbaum zum Bauerngarten, vor dem wir an der Hauswand sitzen. Sie wusste, was es bedeutet. Kannte die vielen Einsätze, die die Männer auf dem Hof im Sommer und Winter einfach von der Landwirtschaft weg in die Berge führten. Und wusste: Wenn der Vater im Sommer mal Urlaub vom Hof machte, dann war es ein Urlaub droben auf der Bergwachthütte.
„Als kleines Kind erzählte ich allen, ich gehe mal zur Bergwacht!“, sagt Martina Bauer. Aber so einfach war das nicht, damals, mit der Bergwacht und den Frauen. Noch bis weit in die 90er-Jahre waren weibliche Mitglieder nicht zugelassen. „Ich war 12, als eine junge Murnauerin vor Gericht zog und sich 1992 die Mitgliedschaft in der dortigen Bergwacht erkämpfte. Kaum war das Urteil raus, bin ich zur hiesigen Bereitschaft marschiert. Aber ob Mann, ob Frau: Man kann erst mit 16 aufgenommen werden, als Anwärter, daran hatte auch das Gerichtsurteil nichts geändert. Vier Jahre später hatte ich mit 16 meinen Realschulabschluss. Gleich am Freitag nach meiner letzten Prüfung, da bin ich dann zur Bereitschaft Sachrang, um mich zu bewerben.“
Was ihre Eltern denn dazu gesagt hätten? Martina Bauer grinst spitzbübisch: „Meinem Vater war das gar nicht recht. Er zeigte mir Bilder von Einsätzen. Und von Bergtoten. ‚Magst du das wirklich sehen?‘, fragte er. Aber ich war mir ganz sicher. Ich will zur Bergwacht. Gleich bei der ersten Übung, an der ich als Anwärterin teilnahm, habe ich das schwere Stahlseil hinauf geschleppt. Ich wollte mich selber testen: ‚Wie weit bist du eigentlich bereit zu gehen als Frau, wenn du das wirklich willst?‘ Ich habe mich damals bewusst nicht zurückgenommen oder geschont. Bevor du aufgenommen wurdest, schauen sich Mitglieder einer Bereitschaft dich schon genauer an. Bei mir gab’s tatsächlich ein paar Ältere, die sich nicht vorstellen konnten, dass Frauen das kräftemäßig und konditionell durchhalten. Doch die, die damals skeptisch waren, sind heute meine größten Befürworter.“
Wir sitzen vor dem Haus. Es ist ein Tag im Herbst. Regenwolken ziehen von Westen über die Berge heran. Aber Martina Bauer zieht es nicht ins Haus. „Lassen Sie uns hier vor dem Haus auf der Bank sitzen. Ich will soviel wie möglich draußen sein.“ Der Himmel wird dunkler, während sie ihre Geschichte erzählt.
„Es war im August 2011, ein schwüler Nachmittag. Wie jeden Sommer war ich als Almerin auf der Steinling-Alm am Fuß der Kampenwand. Seit 14 Jahren gehe ich jedes Jahr für den Sommer da rauf, um von Ende Mai bis Ende September auf der Alm zu arbeiten. Zu Fuß ist es eine Stunde hinunter nach Aschau, der Berggasthof ist gleich daneben, da läuft ja auch der Panoramaweg. Ich war gerade im Gasthof, als unser Polizist, der Jupp, mit dem Polizeiauto vorfuhr. Er wolle nur mal nach dem Rechten schauen, Wanderer hätten vom Gipfelkreuz aus Hilferufe unterhalb der Kampenwand gehört, aber nichts Auffälliges entdecken können. Während der Jupp noch erzählte, hab ich schon überlegt, was ich mitnehme. Ich dachte mir, ich geh lieber mal nachsehen. Alarm war noch keiner – ich packte trotzdem Rucksack, Funkgerät und Piepser und machte mich auf den Weg. Die Steinling-Alm liegt auf 1450 Metern. Von da aus geht es steigartig weiter bis zum Gipfelkreuz auf 1669 Metern, man muss trittsicher sein und konditionell fit. Das Wetter war nicht gut, noch hielt es gerade so, aber für den Spätnachmittag waren Gewitter für den südlichen Chiemsee vorhergesagt.
Allerdings wollte ich nicht hinauf zum Gipfel, sondern gleich auf die Südseite der Kampenwand. Wenn der Hilferuf von oben gehört worden war, konnte er nur von dort, irgendwo unterhalb des Gipfelkreuzes gekommen sein. Ich hatte fast den Grat erreicht, da ging auch schon mein Piepser los und meldete „Hilferufe unterhalb der Kampenwand“. Ich folgte weiter dem Maximiliansweg, dem Weitwanderweg vom Bodensee zum Königssee, das Handynetz ist da oben schwierig. Als ich den Grat erreicht hatte, entdeckte ich den Verunglückten auch schon. Halb unter dem Latschengebüsch lag ein etwa 65-jähriger Mann. Er war allein unterwegs gewesen, am Stahlseil ausgerutscht, sechs Meter in die Tiefe gestürzt und dann noch ein Stück weiter gerutscht, bis die Latschen seinen Fall gebremst hatten. Es sah nach einer schweren Verletzung aus, wahrscheinlich Oberschenkel- und Schulterbruch. Der Mann konnte sich nicht mehr bewegen, ans Aufstehen war überhaupt nicht zu denken. Nur schwach um Hilfe hatte er noch rufen können.
Ich hatte ihn eben entdeckt – es war jetzt nicht mehr zu übersehen, dass es Gewitter geben würde. Von Westen her überzog der Himmel sich schwarz. Über Funk gab ich die Position des Verletzten durch und machte mich an die Erstversorgung. Körpercheck. Die Schulter und der Oberschenkel waren tatsächlich gebrochen, das sah ich schnell. Während ich dem Mann gut zuredete, kümmerte ich mich um Schürf- und Platzwunden, und darum, dass er besser liegt.
Ich war noch keine zehn Minuten beim Verunglückten, als erste dicke Tropfen vom nun vollends düsteren Himmel herunterprasselten. Das machte die Bergung schwierig: Ein Hubschraubereinsatz käme wegen des einsetzenden Starkregens nicht infrage.
Ich wartete auf die Helfer, die jetzt schon durch den Regen auf dem Weg zu uns sein mussten. So gut es ging, hatte ich den Verunglückten verarztet, ihn mit meinem Anorak und Wärmefolie zugedeckt. Notdürftig einen einfachen Regenschutz gebaut. Als die anderen eintrafen, hoben wir das Unfallopfer in eine Gebirgstrage, bei derart schweren Verletzungen ist das häufig ein schmerzhafter Moment.
Mittlerweile schüttete es, was herunterfallen konnte. Nie im Leben war ich so schnell so durchnässt, das Wasser lief am Kragen oben rein und füllte im Nu die Bergstiefel unten. Die Augusthitze war weg, es hatte merklich abgekühlt. Wir waren zu acht und brauchten eineinhalb Stunden durch den dichten Regen, bis wir den Verunglückten in der Gebirgstrage die 200 Höhenmeter den Steig hinunter bis zur Steinling-Alm geschoben, gezerrt, gehoben hatten, wo dann auch das Bergwachtauto auf uns wartete und ihn zum Rettungswagen ins Tal brachte.
Im Nachhinein denke ich mir heute, dass der Verunglückte ungeheures Glück hatte. Wären seine schwachen Rufe nicht am Gipfel gehört worden, hätten die Leute nicht den Jupp alarmiert, wäre es fraglich gewesen, wie der Verletzte die Nacht überstanden hätte. Die schweren Verletzungen. Der heftige Regen. Der Temperatursturz. Als ich ihn fand, lag er auf seinem Rucksack, nur mit T-Shirt und Hose bekleidet. Er war nicht mehr in der Lage, sich selbst umzuziehen oder sich zu schützen. Auskühlung wäre unvermeidlich die Folge gewesen. Wer weiß, wie das ausgegangen wäre.“
Als sie ihre Erzählung beendet hat, schaut Martina Bauer hinaus in den Garten, wo erste Böen die Blätter von den Bäumen reißen. Sie denkt nach. „Männer und Frauen ticken anders. Von der Herangehensweise bei einem Einsatz. Frauen sind irgendwie emotionaler beim Einsatz dabei. Männer gehen rationaler ran. Das muss aber kein Nachteil sein. Ich empfinde genau diese Verbindung als eine der Stärken der Bergwacht.“ Ob sie dafür ein Beispiel nennen könne?
„Im Sommer bin ich auf der Steinling-Alm und im Winter hauptamtlich bei der Skiwacht auf der Zugspitze. Letzten Winter hatte ich einen Verletzten auf der Piste, der sich bei einem Sturz die Finger gebrochen hatte. Etwas ganz Alltägliches. Zwei Finger der rechten Hand. Keine große Sache eigentlich. Und nichts, was nicht wieder heilen würde. Während ich ihn versorgte und mit ihm redete, stellte sich heraus, dass der Mann Berufsmusiker in der Philharmonie war. Solist. Er wusste, dass der alltägliche Unfall möglicherweise seine berufliche Karriere zerstört hatte.
Das eine bei der Bergwacht ist, dass man einen Knoten perfekt beherrscht. Das andere ist, dass man bei aller Routine auch über den Tellerrand schauen können muss.“
Als der Gewitterregen fällt, sitzt Martina Bauer immer noch draußen vor dem Bauernhaus. „Aber manchmal reicht selbst die Fähigkeit, über den Tellerrand zu schauen, nicht aus.“ Sie wird ernst. „Vor Jahren raste hier in der Gegend ein Auto in einen Bagger. Ein Toter. Zwei Schwerverletzte. Dem Fahrer ist am wenigsten passiert. Ich kannte das Auto, ich wusste, wer in dem Auto gesessen hatte. Ich ahnte nur nicht, dass der tödlich Verunglückte der Freund meiner Schwester gewesen war. ‚Sagst du es deiner Schwester?‘, fragte mich die Feuerwehr. Mir war ganz schlecht. Da habe ich beschlossen, es soll mir nicht mehr so dreckig gehen, wie es mir damals ging. Du kennst das ganze Auto voller Leute. Dann zur Schwester fahren, ihr das sagen. Ich war überfordert, Du bist auf sowas nicht vorbereitet. ‚Wie kann man das besser hinkriegen?’, fragte ich mich.
Ich habe dann beschlossen, eine Ausbildung beim Kriseninterventionsdienst der Bergwacht, kurz ‚KID-Berg’ zu machen. Sie kümmern sich um Angehörige und Helfer in belastenden Situationen. Ich habe da Vieles gelernt. Vor allem einem Angehörigen...