Das Phänomen des Amoklaufes hat seinen Ursprung in Malaysia, ist aber darüber hinaus bei zahlreichen Völkern im gesamten malaiischen Archipel zu finden.[6] Besonders hervorzuheben sind die Völker, die den Malaien ethnisch, sprachlich und kulturell nahe stehen. Dazu zählen Bevölkerungsgruppen des heutigen Indonesien, Singapur, Brunei und Teile Thailands, der Philippinen und Südindiens.[7]
Das deutsche Wort »Amok« ist eine Wortentlehnung des malaiischen »Amuk« und kann unterschiedlich übersetzt werden, je nachdem, in welchem Zusammenhang es angewendet wird. Lothar Adler übersetzt es mit „zornig“ bzw. „rasend“[8] während Wolfgang Sofsky es mit „im Kampf sein Letztes geben“[9] umschreibt. Dies liegt an den unterschiedlichen Erscheinungsformen des Phänomens, auf die später eingegangen wird.
Die Tat eines Amokläufers, das heißt „einen spontanen ungeplanten Angriff auf unbeteiligte Personen“[10] bezeichnet man als »mengamuk«; der Täter selber wird »pengamuk«[11] genannt. Im Folgenden wird gezeigt, dass diese Übersetzung nur teilweise auf die Erscheinungen im malaiischen Archipel anwendbar ist.
Die Einteilung des Amoks in zwei unterschiedliche Formen erleichtert die Untersuchung des historischen Erscheinens.
Spores[12] berichtet über die ersten bekannten Beschreibungen eines kriegerischen Amoks um 1500, die der Portugiese Gaspar Correa während eines Krieges in Südindien dokumentierte. Krieger, die einen massiven Gesichtsverlust zu ertragen hatten, weil sie bei einem Kampf überlebten, während ihr Anführer starb, wurden zu »amoucos«[13]. Sie rasierten sich zeremoniell die Haare und begaben sich in gegnerische Dörfer um, wahllos unter der Bevölkerung zu morden, bis sie schließlich selber getötet wurden. Durch dieses Vorgehen versuchten sie, die verloren gegangene Ehre wiederherzustellen. Diese Handlungen waren im Einklang mit gesellschaftlichen Erwartungen, die man an Krieger stellte; sie handelten somit nicht abweichend sondern konform zur geltenden Norm.
Deutlich wird dies auch an einem weiteren Beispiel, welches von Correa aufgezeichnet wurde. Er berichtet von ganzen Gruppen der Bevölkerung, die, nach dem unehrenhaften Tod des Königs, in die feindlichen Gebiete einfielen und wahllos alle Bewohner töteten. Je nach Bedeutung des toten Herrschers konnte diese Aktivität mehrere Tage oder Wochen andauern.[14]
Im Allgemeinen ist der kriegerische Amoklauf zur damaligen Zeit aber Elitetruppen zuzuschreiben, die sich auf Befehl des Königs bedingungslos in den Kampf stürzten. Dies führte soweit, dass man es, wenn möglich, vermied, den feindlichen Herrscher zu töten, um sich nicht den Zorn der »amoucos« zuzuziehen.[15]
Weitere Berichte aus dem 15ten Jahrhundert beziehen sich direkt auf Malaysia. Sie schildern, wie zum Teil tausende Amokläufer weit überlegene Heere angriffen und dabei ihre zahlenmäßige Unterlegenheit durch ihren bedingungslosen Kampf wettmachten.[16]
Amoklauf wird also in diesem Zusammenhang nicht mit einem Verbrechen in Verbindung gebracht, sondern war ein Begriff des Krieges. Amokläufer waren Krieger, die ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben in den Kampf stürmten und wie in Trance töteten. Kriegern die diesen Weg wählten, galten als Helden des Volkes und Lieblinge der Götter. [17] Berichte über furchtlose Krieger, die unter Einsatz ihres Lebens in die feindlichen Reihen stürmten, gibt es aus vielen Kulturen: exemplarisch sollen in Abschnitt ·2·5· einige genannt werden.
Der »individuelle Amok« unterscheidet sich zum »kriegerischen« kriegerischen insofern, dass er von einzelnen Individuen ausgeführt wird und dementsprechend auch nur durch die sie betreffenden Umstände beeinflusst und ausgelöst wird. Das Auftreten dieses Phänomens lässt sich ebenfalls auf das 15te Jahrhundert datieren. Der Portugiese Nicolo Contie berichtete von zahlungsunfähigen Schuldnern, die, um der unweigerlich drohenden Versklavung durch ihren Gläubiger zu entgehen, amokähnlich zu töten begannen, bis sie selber getötet wurden.[18]
Des Weiteren gibt es Berichte über Javanesen, die an einer scheinbar nicht heilbaren Krankheit litten und ihren Gott um Hilfe baten. Sie legten ein Gelöbnis ab, dass sie bei einer etwaigen Genesung einen ehrenhaften Tod sterben würden. Trat die Genesung ein, gingen sie auf die Straße und töteten solange, bis sie selber getötet wurden.[19]
Im Gebiet des heutigen Malaysias war eine weitere Form des Amoklaufes bekannt, die besonders interessant scheint. Für Personen, die einen Gesichtsverlust, eine Kränkung oder ein schweres Trauma erlitten, bot die malaiische Kultur einen Ausweg aus dieser Situation an; eine Art „»Modell des Fehlverhaltens«, dass die Kultur ihren Mitgliedern in Situationen großen Stresses als Entlastungsmechanismus zur Verfügung stellt.“[20] Die gekränkte Person durchlebte eine Phase des Rückzuges und des Brütens, bis sie schließlich mit dem Ruf »Amok! Amok!« auf die Straße stürzte und mit einem Dolch auf alle Menschen einstach, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten, so lange bis sie selber getötet wurde.
Der Ethnologe und Psychoanalytiker George Devereux bezeichnet den Ruf »Amok! Amok!« als ein sozial anerkanntes Signal, auf das die Malaien in etwa so reagieren wie die Bevölkerung der westlichen Kultur auf eine Alarmsirene.[21] Devereux erkennt im malaiischen Amoklauf den Status einer ethnischen Störung, also eine psychische Störung deren Form kulturell geprägt ist. Es handelte sich hierbei um ein von der Gesellschaft toleriertes und von ihr vorbereitetes Modell des Fehlverhaltens, welches die Individuen in psychischen Leidenssituationen anwenden konnten, um ihrem Leid Ausdruck zu verleihen.[22] In dieser speziellen Kultur gab es genaue Vorstellungen über den Ablauf und die entsprechende Reaktion auf ein solches Verhalten.
An den Straßenecken hatten die malaiischen Behörden Gabelstäbe und Lanzen aufstellen lassen. Die Gabelstäbe wurden benutzt, um sich den Amokläufer vom Leib zu halten, und die Lanzen, um ihn möglicherweise zu überwältigen. Allerdings ließen sich die Amokläufer des Öfteren auch von der Lanze durchbohren, um ihren Opfern möglichst nah zu kommen, so kam es, dass die Lanzen mit der Zeit angepasst und mit zwei im spitzen Winkel verlaufenden Eisenspitzen am oberen Ende ausgestattet wurden, so das ein Durchbohren das Amokläufers unmöglich wurde.[23] Der Amoklauf endete fast immer mit der Überwältigung und dem Tod des Amokläufers, welchem trotzdem ein gewisses Maß an Respekt gezollt wurde, da sein Verhalten an eine Form des kriegerischen Mutes erinnerte.[24]
Adler versuchte den Ablauf des malaiischen individuellen Amoklaufes in verschiedene Phasen einzuteilen, um eine Untersuchung zu erleichtern.[25] Er unterscheidet vier Phasen: zunächst tritt nach der erfolgten Kränkung oder dem Verlust der Ehre eine Phase des intensiven Grübelns oder einer Depression ein, die auch mit einer ungewöhnlichen Unberührbarkeit der Person einhergehen kann. Dann erfolgt ganz plötzlich die Phase der rücksichtlosen Tötungsbereitschaft. Diese kann sich zunächst nur auf Verwandte beziehen und sich später bei fremden Personen fortsetzen, oder der Amokläufer geht sofort dazu über wahllos Fremde zu töten. Anschließend folgt meist eine Phase der gänzlich ungesteuerten Raserei, die so lange anhält, bis der Amokläufer schließlich selber getötet oder überwältigt wird. Eine schnelle Überwältigung in dieser Phase kann dazu führen, dass die Opferzahl gering bleibt. Überlebt der Täter durchläuft er noch eine vierte Phase. Diese ist meist dadurch gekennzeichnet, dass der Täter in einen schlafähnlichen Zustand fällt, der mehrere Tage oder gar Wochen anhalten kann. Viele Malaien, die einen Amoklauf überlebten, berichteten, dass sie keine Erinnerungen an die Tat hätten, und dass sie sich auch an keinerlei Motive erinnern könnten.
George Devereux besteht darauf, dass nur die Malaien zu Amokläufern werden können, denn nur in diesem Gebiet ist der Amoklauf ein sozial anerkanntes Verhalten, welches die Mitglieder des Kulturkreises in Situationen großen Stresses anwenden dürfen.[26] Einer der wichtigsten Unterschiede des »malaiischen Amoks« zu dem Phänomen, welches im westlichen Kulturkreis zu beobachten ist, ist seine Vorhersehbarkeit und das er von der Gesellschaft „eingeplant“ ist. Die Malaien hoffen, dass sie sich niemals in einer Situation befinden mögen, in der es nur noch einen Ausweg gibt; aber sie wissen auch, wenn sie in diese Situation geraten, gibt es eben nur diesen einen...