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Die Schöpfung ist nach wie vor vollkommen
Anastasia sprach: «Ich werde dir jetzt über die Schöpfung erzählen, Wladimir, über das große Werk des kosmischen Vaters; dann wird jeder auf seine Fragen selber Antwort finden können. Höre einfach zu und schreibe meine Worte zum Nutzen der Menschen auf. Lausche mit deinem Herzen und versuche das Bestreben des göttlichen Traumes zu ergründen.»
Anastasia sah mich nachdenklich an und schwieg. Sie muss meinem Gesicht wohl die Zweifel abgelesen haben, die sich in mir regten. Ja, ich traute dem nicht, was sie mir da erzählen wollte von Gott und der Schöpfung. Und warum auch? Warum sollte ich – oder irgendjemand anders – dieser schwärmerischen Einsiedlerin ihre Phantasien ohne Weiteres abkaufen? Sie hat keine historischen Beweise in der Hand. Wenn jemand mit Autorität über die Vergangenheit sprechen kann, dann die Historiker und Archäologen. Und was Gott betrifft, so wird über Ihn in der Bibel berichtet und in anderen heiligen Schriften – nur hat jede dieser Quellen etwas anderes über Ihn zu sagen. Nun, vielleicht hat ja niemand auf diesem Gebiet einschlägiges Wissen …
«Doch, es gibt solches Wissen, Wladimir», widersprach Anastasia plötzlich heftig und mit Überzeugung meinem unausgesprochenen Einwand.
«Und wo?»
«Alles Wissen, alle kosmische Wahrheit ist auf ewig gespeichert in der menschlichen Seele. Lug und Trug haben keinen dauerhaften Bestand, denn sie werden von der Seele als solche erkannt und abgelehnt. Um überleben zu können, müssen sie sich dem Menschen in immer wieder neuen Masken präsentieren, zum Beispiel in Form von sogenannten wissenschaftlichen Abhandlungen. Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit wechselt die Menschheit ständig ihre Gesellschaftsformen, doch dabei entfernt sie sich nur noch mehr von der Wahrheit.»
«Ist es denn bewiesen, dass die Wahrheit in jedem Menschen wohnt? Und wo genau wohnt sie? In der Seele oder woanders? Und wenn das tatsächlich so ist, warum ist die Wahrheit uns dann verborgen?»
«Ganz im Gegenteil, jeden Tag ist sie bestrebt, sich unseren Blicken zu offenbaren. Das unversiegliche Leben ist Teil der Wahrheit, denn es kommt von der Wahrheit.»
Anastasia fuhr mit ihren Händen durchs Gras und streckte sie mir entgegen. «Schau, Wladimir! Vielleicht kann das deine Zweifel vertreiben.»
Auf ihren Handflächen sah ich ein paar Grassamen, einen Zedernkern und einen krabbelnden Käfer. Das war alles! Ich fragte sie: «Was hat das zu bedeuten? Ist etwas Besonderes mit dieser Nuss?»
«Sieh nur, Wladimir, das ist ein ganz kleiner Samenkern. Wenn er aber in die Erde gepflanzt wird, wächst aus ihm eine gigantische Zeder. Keine Eiche, kein Ahorn, kein Rosenbusch, nein, eine Zeder. Und diese Zeder wird weitere Zedernkerne hervorbringen, die alle dieselbe ursprüngliche Information der Quelle in sich tragen werden. Und egal wann ein solcher Zedernkern mit der Erde in Berührung kommt – ob vor einer Million Jahren oder in einer Million Jahren –, es wird immer nur eine Zeder aus ihm keimen. In jedem Samenkern ist die vollständige Information des Schöpfers enthalten. Es vergehen Äonen, aber die Information Gottes ist noch immer da, unauslöschlich. Und dem Menschen, der Krone der Schöpfung, hat Gott im Augenblick der Schöpfung alles gegeben. Alle Wahrheit und alle künftigen Errungenschaften hat der Vater in Seinem geliebten Kinde bereits von Anfang an angelegt. Gottes großer Traum lebt im Menschen weiter.»
«Und wie kommen wir an diese Wahrheit heran? Wo können wir sie aufstöbern? In den Nieren, im Herzen oder im Gehirn?»
«In den Gefühlen. Versuche die Wahrheit aus deinen Gefühlen heraus zu finden. Lass dich von deinem Empfinden leiten. Und befreie dich von allen Dogmen, die kleinlicher Selbstsucht erwachsen!»
«Na gut, wenn du tatsächlich solches Wissen hast, dann teile es mir direkt mit. Vielleicht kann ja jemand dich mit seinen Gefühlen verstehen. Was also ist Gott? Lässt Er sich wissenschaftlich erfassen, sagen wir anhand einer Formel?»
«Eine wissenschaftliche Formel? Sie wäre so lang, dass sie mehrmals um die Erde reichen würde. Und wäre sie dann fertig, müsste man sogleich eine neue schreiben. Gott ist nicht so klein, dass Er sich in Gedanken fassen ließe. Nicht nur alle Materie ist in Ihm enthalten, sondern auch die feinstofflichen und transzendenten Dimensionen, die uns unsichtbar sind. Es hat keinen Zweck, Ihn mit dem Verstand ergründen zu wollen. Presse alle Formeln der Erde und alle Informationen des Kosmos in den kleinen Samenkern deiner Seele, wandle sie in Gefühle um, und dann lass diese Gefühle sich entfalten!»
«Sag mir bitte klar und deutlich, was ich fühlen soll.»
«O Gott, bitte steh mir bei! Hilf mir, Worte zu finden, die die Menschen verstehen können und die Dich angemessen repräsentieren.»
«Sieh an, jetzt fehlen dir die Worte. Du solltest dir vielleicht erstmal ein Wörterbuch beschaffen. Dort sind alle Wörter verzeichnet, die im normalen Leben gesprochen werden.»
«Vielleicht alle die, die man heute kennt. Aber die Wörter, die deine Ahnen gebrauchten, um sich über Gott zu verständigen, wirst du dort vergeblich suchen.»
«Meinst du die altslawische Sprache?»
«Nein, noch davor. Schon vor dem Altslawischen gab es hierzulande eine Sprache und auch eine Schrift …»
«Wovon sprichst du, Anastasia? Jedes Kind weiß doch, dass unsere erste Schrift von zwei orthodoxen Mönchen entworfen wurde. Wie hießen sie noch gleich … ich komm jetzt grad nicht auf ihre Namen.»
«Du meinst Kyrillos und Methodios?»
«Ach ja, natürlich – deshalb auch kyrillische Schrift. Von diesen beiden stammen unsere Schriftzeichen.»
«Genauer gesagt haben sie die Schriftzeichen unserer Ahnen modifiziert.»
«Modifiziert?»
«Es geschah auf Befehl. Damit die Kultur der alten Slawen für immer in Vergessenheit geriete. Die Reste des ursprünglichen Wissens sind dem menschlichen Gedächtnis seither entronnen, und es begann eine neue Kultur, mit der die Priester die anderen Völker unterjochten.»
«Was soll denn jetzt die Schrift mit einer neuen Kultur zu tun haben?»
«Stell dir mal vor, die Kinder müssten von jetzt an eine andere Sprache sprechen und schreiben und dürften die alte nicht mehr benutzen. Aus welcher Quelle würden dann wohl deine Enkel von der heutigen Zeit noch erfahren? Es ist nicht schwer, Menschen, die keine Verbindung zum Wissen der Vergangenheit haben, etwas Neues beizubringen, das angeblich sehr wichtig ist. Über die Vorfahren kann man ihnen dann erzählen, was immer man möchte. Mit der alten Sprache ist dann auch die alte Kultur verschwunden. Und genauso war es auch geplant. Aber diejenigen, die diesen Plan hatten, wussten nicht, dass die Wahrheit immer unsichtbar in Samenform in der menschlichen Seele erhalten bleibt. Ein einziger Tautropfen ist genug, damit dieser Same aufkeimt und zu einer starken Pflanze heranwächst. Bitte versuche die Bedeutung meiner Worte zu verstehen, Wladimir.»
Mal sprach Anastasia langsam und bedächtig, mal sprudelte es nur so aus ihr hervor, dann verfiel sie in nachdenkliches Schweigen, um wieder ihre langen, ungewöhnlichen Sätze zu bilden, so als hole sie das Wissen aus weiter Ferne. Ab und zu tauchten in ihrer Rede mir unbekannte Wörter auf, doch jedes Mal ersetzte sie diese mit klareren Wörtern, damit ich ihr folgen konnte. Immer wieder versuchte sie mir etwas zu beweisen, indem sie über Gott sprach.
«Jeder weiß, dass der Mensch das Ebenbild Gottes ist. Aber was bedeutet das? Wo in dir findest du Gottes charakteristische Eigenschaften? Hast du schon einmal darüber nachgedacht?»
«Eigentlich nicht. Irgendwie bin ich nie dazu gekommen. Besser, du erklärst es mir.»
«Wenn der Mensch sich nach dem täglichen Stress zur Ruhe begibt und aufhört, seinen Körper zu spüren, verlässt sein feinstoffliches, zweites Ich teilweise den Körper. Irdische Größen wie Zeit und Raum haben dann für ihn keine Geltung mehr. In weniger als einem Augenblick kann sein Bewusstsein jegliche Begrenzung des Kosmos hinter sich lassen. Mit seinem Emotionalkörper nimmt er Bilder der Vergangenheit und der Zukunft wahr, fühlt sich in sie hinein, gestaltet sie um und träumt. All das zeigt, dass das grenzenlose Weltall vom Menschen nicht nur mit den physischen Sinnen wahrgenommen wird. Das Weltall wird vom menschlichen Geist gestaltet, der ein Geschenk Gottes ist. Nur der menschliche Geist ist in der Lage, andere Welten zu erschaffen und bestehende Schöpfungen zu verändern.
Es kommt vor, dass der Mensch im Schlaf vor etwas erschrickt und vor Angst schreit. Die Begegnung des stressbefreiten Emotionalkörpers mit unbewältigten Bildern der Vergangenheit oder der Zukunft können solche nächtlichen Traumata, solche seelischen Erschütterungen auslösen.
Es kommt auch vor, dass der Mensch im Schlaf schöpferisch tätig wird. Seine Traumschöpfungen sind bestrebt, sich in der irdischen Sphäre zu verwirklichen – mal geschieht das schnell, mal langsam. Ob aber diese Traumbilder zu scheußlichen Formen oder zu harmonischer Schönheit sich entfalten, das hängt teilweise oder vollständig davon ab, wie viel Eingebung am Schöpfungsakt beteiligt ist und das göttliche Ich verstärkt. Auch die Genauigkeit und die Detailliertheit aller Aspekte eines schöpferischen Traums spielen hierbei eine Rolle.
Im ganzen Universum ist die Fähigkeit des Schöpfens nur Gott und Seinem Sohn, dem Menschen, zu Eigen.
Gottes Gedanke ist der Beginn von allem. Sein Traum...