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Zwei Zivilisationen
Wir alle haben es eilig, wir alle streben nach etwas. Jeder von uns will ein glückliches Leben führen, seine große Liebe finden und eine Familie gründen. Doch wie vielen gelingt es, diese Wünsche zu verwirklichen?
Wovon hängen Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, Erfolg oder Misserfolg ab? Worin liegt der Sinn im Leben des Einzelnen und der gesamten Menschheit? Was erwartet uns in der Zukunft?
Diese Fragen beschäftigen uns Menschen schon seit Langem, doch niemand vermochte bislang klare Antworten darauf zu geben. Wäre es nicht auch interessant zu erfahren, in was für einem Land wir in fünf oder zehn Jahren und in was für einer Welt unsere Kinder einmal leben werden? Leider aber wissen wir das nicht, ja wir sind wohl nicht einmal in der Lage, uns unsere eigene Zukunft vorzustellen, denn wir haben es ja so eilig – doch wohin wollen wir eigentlich?
Es ist erstaunlich, aber wahr: Die erste klare Vorstellung von der Zukunft unseres Landes verdanke ich nicht irgendwelchen wissenschaftlichen Analytikern oder Politikern, sondern der Taiga-Einsiedlerin Anastasia. Und sie hat mir nicht einfach irgendeine schöne Zukunftsvision verheißen, nein, sie hat mir mit handfesten Argumenten bewiesen, dass das Glück unseres Landes zum Greifen nahe ist – schon für unsere jetzige Generation. Sie hat mir ihren Entwurf zur Entwicklung unseres Landes vorgestellt.
Während ich durch die Taiga wanderte – von Anastasias Lichtung zum Fluss – erwachte in mir irgendwie die tiefe Überzeugung, dass ihr Projekt vieles in der Welt verändern kann. Bedenkt man, dass sich alles, was sie sich in Gedanken vorstellt, ohne Fehl im realen Leben verwirklicht, so leben wir eigentlich in einem Land, dessen Zukunft nur blühend sein kann. Ich ging also durch die Taiga und dachte über die Worte der Taiga-Einsiedlerin nach, die unserem Lande eine so wunderbare Zukunft verheißen hatte, eine Zukunft, die vielleicht schon unsere Generation erleben darf. In einem Land, in dem es keine regionalen Konflikte, kein Banditentum und keine Krankheiten gibt, wird es auch keine armen Menschen geben. Und obwohl ich nicht alle Gedanken Anastasias verstanden hatte, wollte ich ihre Worte diesmal nicht anzweifeln – im Gegenteil, mir war daran gelegen, ihre Richtigkeit aller Welt zu beweisen.
Ich fasste also den Entschluss, alles zu tun, was in meiner Macht stand, um Anastasias Projekt zu verwirklichen. Rein äußerlich sah das Ganze recht simpel aus: Jede Familie sollte auf Lebenszeit einen Hektar Land zur Verfügung gestellt bekommen und sich darauf ihren eigenen Landsitz einrichten, um sich so ein kleines Stück Heimat zu schaffen. Doch so einfach der Plan auch erschien, so erstaunlich, ja geradezu unglaublich waren bestimmte Elemente seiner Umsetzung, die demzufolge meine Aufmerksamkeit stark fesselten.
Man stelle sich einmal vor: Es waren keine Agrarwissenschaftler, sondern eine Taiga-Einsiedlerin, die bewies, dass man allein durch naturgerechtes Anpflanzen nach ein paar Jahren keinen Dünger mehr braucht und sogar die Qualität von ertragarmem Boden verbessern kann.
Als vornehmlichstes Beispiel nannte Anastasia die Taiga. Seit Jahrtausenden wächst und gedeiht dort eine große Vielfalt von Pflanzen, ohne dass je einer den Boden der Taiga gedüngt hat. Anastasia sagt, alles, was auf der Erde wächst, seien Manifestationen von Gottes Gedanken und Gott habe die Welt so eingerichtet, dass sich die Menschen nicht mit dem Problem der Nahrungsbeschaffung herumschlagen müssten. Man brauche sich lediglich zu bemühen, die Gedanken des Schöpfers zu verstehen und gemeinsam mit Ihm Schönes zu erschaffen.
Auch ich kann dazu ein anschauliches Beispiel aus eigener Erfahrung anführen. Auf der Insel Zypern, wo ich einige Zeit verbringen durfte, ist der Boden zum großen Teil felsig und verkarstet. Das war aber nicht immer so. Vor vielen Jahrhunderten gab es auf der Insel herrliche Zedernwälder, Obstbäume gediehen, und die zahlreichen Flüsse führten klares Süßwasser; kurzum, das Eiland war eine Art Paradies auf Erden. Dann wurde es von römischen Legionen erobert. Sie begannen, die Zedern abzuholzen und aus dem Holz Schiffe zu bauen. Am Ende waren praktisch keine Zedern mehr übrig. Heute gibt es auf dem größten Teil Zyperns nur sehr spärliche Vegetation, das Gras verdorrt nach dem Frühling, und Sommerregen ist eine Seltenheit. Es herrscht ein großer Mangel an Süßwasser. Fruchtbarer Humus muss mit Lastkähnen nach Zypern eingeführt werden. Daraus kann man ersehen, dass der Mensch die Schöpfung nicht verbessert hat; vielmehr hat er durch seine barbarische Einmischung in den Lauf der Natur ein Chaos herbeigeführt.
Während Anastasia mit mir über ihr Projekt sprach, erwähnte sie wiederholt den «Ahnenbaum», der auf jedem Grundstück gepflanzt werden sollte. Sie meinte, Verstorbene sollten nicht auf einem Friedhof, sondern auf dem Stück Land beerdigt werden, das sie selbst bearbeitet haben. Grabsteine seien nicht notwendig, denn das Andenken an die Verstorbenen sollte durch etwas Lebendiges, nicht durch etwas Totes bewahrt werden. Die Verwandten sollten durch lebendige menschliche Werke an ihre Ahnen erinnert werden, dann könnte sich die dahingeschiedene Seele von neuem im paradiesischen Garten namens Erde verkörpern.
Denjenigen aber, die auf Friedhöfen begraben liegen, sei der Weg zum irdischen Paradies verwehrt. Die dahingeschiedenen Seelen könnten sich nicht erneut verkörpern, solange ihre Verwandten und Freunde an ihren Tod dächten. Und ein Grabstein sei nun einmal ein Denkmal des Todes. Das heute übliche Begräbnisritual entstamme den dunklen Kräften und ziele darauf ab, die menschliche Seele gefangen zu halten. Das sei aber nicht im Sinne unseres Vaters, der Seinen geliebten Kindern weder Leid noch Trauer zugedacht habe. All Seine Kreaturen seien ewig, in sich selbst vollkommen und fähig, sich zu vermehren. Alle Lebewesen dieser Erde, vom einfachen Grashalm bis zum Menschen, stellen ihrer Ansicht nach ein harmonisches, ewiges Ganzes dar.
Was sie sagte, leuchtete mir ein, denn schließlich erkennen ja selbst Wissenschaftler heutzutage an, dass der menschliche Gedanke eine Kraft ist, deren Wirkung sich direkt in der materiellen Realität niederschlagen kann. Folglich wäre es durchaus denkbar, dass die Verwandten eines Verstorbenen ihn dadurch, dass sie ihn für tot erklären und an ihn als Toten denken, im Zustand des Todes gefangen halten und seine Seele quälen. Anastasia sagt, der Mensch, vielmehr die menschliche Seele, sei dazu geschaffen, ewig zu leben. Sie könne sich immer wieder verkörpern, sei dabei jedoch bestimmten Bedingungen unterworfen. Diese Bedingungen seien auf einem Familienlandsitz im Sinne ihres Projekts am besten erfüllt.
Hat sie nun recht damit? Ich meinesteils habe ihr einfach geglaubt. Ihre Aussagen über Leben und Tod zu beweisen oder zu widerlegen wäre wohl eher eine Aufgabe für sachverständige Esoteriker.
Einmal sagte ich zu Anastasia: «Du wirst eine Menge Gegner haben.»
Sie winkte nur ab und lachte: «Alles ist so einfach, Wladimir! Das Denken des Menschen ist in der Lage, Materie zu beeinflussen. Der Mensch kann mit seinem Geist Dinge verändern und Ereignisse vorherbestimmen, sich seine eigene Zukunft schaffen. Deshalb werden Vertreter des Materialismus, die versuchen, die Endlichkeit des menschlichen Wesens zu beweisen, sich selbst vernichten, denn durch ihre Gedanken werden sie sich nur ihr eigenes Ende bereiten. Diejenigen hingegen, die ihre höhere Bestimmung und das Wesen der Ewigkeit verstehen, werden glücklich sein und immer wieder geboren werden. Kraft ihrer eigenen Gedanken werden sie sich ihr ewiges Glück erschaffen.»
Ein weiterer Pluspunkt für Anastasias Projekt fiel mir auf, als ich über dessen wirtschaftlichen Nutzen nachdachte. Ich kam zu dem Schluss, dass sich durch die Gründung eines Familienlandsitzes jeder seinen eigenen Lebensunterhalt sowie den für seine Kinder und Enkelkinder sichern könnte – und das nicht nur in Bezug auf hochwertige Lebensmittel und eine gesicherte Unterkunft. Nach Anastasias Vorstellung sollte das Grundstück von lebenden Bäumen eingezäunt sein, und ein Viertel des Hektars sollte aus Wald bestehen. Auf einem viertel Hektar Wald stehen etwa 300 Bäume; davon könnte man in achtzig bis hundert Jahren etwa 400 Kubikmeter Bauholz gewinnen. Gut getrocknetes und zugeschnittenes Bauholz kostet heutzutage mindestens 100 Dollar pro Kubikmeter – das ergäbe eine stattliche Summe von 40 000 Dollar. Natürlich sollte man nicht den ganzen Wald auf einmal abholzen, sondern nur die ausgewachsenen Bäume, die dann sogleich durch Neupflanzungen ersetzt werden. Den Gesamtwert eines solchen Familienlandsitzes kann man durchaus auf eine Million Dollar veranschlagen, und jede Familie mittleren Einkommens könnte sich ein solches Anwesen aufbauen. Das Haus kann zu Beginn ruhig eine eher bescheidene Unterkunft sein – der wahre Wert liegt in der natürlichen Schönheit und der richtigen Bebauung des Landes. Wohlhabende Leute geben heutzutage Unsummen für Landschaftsgestaltung aus. Allein in Moskau gibt es rund vierzig Unternehmen in diesem Gewerbe, und ihnen mangelt es nicht an Aufträgen. Die Gestaltung von nur einem Ar kostet 1500 Dollar und mehr, das Pflanzen eines 6 Meter hohen Nadelbaums weitere 500 Dollar. Reiche Leute sind aber bereit, für schönes Wohnen beträchtliche Summen hinzublättern. Ihren Eltern ist es nun einmal nicht in den Sinn gekommen, für ihre Kinder einen Familienlandsitz zu errichten. Dabei muss man dazu...