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Ein weiterer Pilger
Endlich sah ich ihn wieder: Vor meinen Augen erstreckte sich der gewaltige sibirische Strom Ob. Ich war in jener nördlichen Siedlung angelangt, wo alle regulären Verkehrsverbindungen enden. Um zu dem Ort zu gelangen, von dem aus ich zu Fuß zu Anastasias Lichtung gehen konnte, musste ich ein Motorboot oder einen kleinen Kutter chartern. An einem der vielen am Ufer liegenden Boote waren drei Männer damit beschäftigt, ihre Fischernetze zu entwirren. Ich grüßte sie und fragte, ob sie jemand kannten, der mich gegen eine gute Entlohnung an mein Ziel bringen könne.
«Der Jegorytsch, der ist bei uns dafür zuständig. Eine halbe Million* kostet das», erwiderte einer der Männer.
Ich war beunruhigt. Wenn schon jemand «dafür zuständig» war, Leute zu einem so abgelegenen Ort in der Taiga zu befördern, so war ich offenbar nicht der Erste mit diesem Anliegen, ja, es musste sogar eine recht rege Nachfrage für diese Dienstleistung herrschen, denn bekanntlich werden Angebot und Preis von der Nachfrage bestimmt. Und dann ein solcher Preis für ein paar Stunden Bootsfahrt … Allerdings war mir klar, dass es hier im hohen Norden wenig Zweck hatte zu feilschen, und so fragte ich gleich: «Wo kann ich diesen Jegorytsch finden?»
«Irgendwo im Dorf wird er sein, wahrscheinlich in der Nähe vom Laden. Siehst du den Kutter da vorn? Das ist seiner. Und eines der Kinder, die dort spielen, ist Jegorytschs Enkel, Wasjatka. Frag ihn, er wird dir Jegorytsch holen.»
Wasjatka war ein aufgeweckter Bursche von vielleicht zwölf Jahren. Kaum hatte ich ihn begrüßt, da platzte er heraus: «Sie wollen mit dem Boot fahren, nicht wahr – zu Anastasia? Sekunde nur, ich hol gleich meinen Opa.» Und ohne meine Antwort erst abzuwarten, rannte er los ins Dorf. Offenbar gab es seiner Meinung nach nur einen möglichen Grund für mein Kommen: Alle Fremden wollten zu Anastasia.
Ich setzte mich ans Ufer und wartete. Da es für mich nichts zu tun gab, starrte ich ins Wasser und ließ meine Gedanken schweifen.
Der Fluss, so schätzte ich, musste hier von Ufer zu Ufer einen guten Kilometer messen. Würdevoll und gemächlich wälzt sich der Strom seit Jahrhunderten durch die Taiga, deren Weite selbst vom Flugzeug aus nicht zu ermessen ist. Welche Bilder aus spurlos verflossenen Zeiten tragen die Wellen des Ob wohl noch heute mit sich?
Vielleicht erinnern sie sich an Jermak, den Eroberer Sibiriens? Daran, wie er von den Feinden ans Flussufer gedrängt wurde? Wie er allein mit dem Schwert in der Hand sich des Angriffs der Feinde erwehrte, während sein Blut ins Wasser floss? Und wie er schließlich entkräftet ins Wasser fiel und von den Wellen des Ob fortgetragen wurde? Was hat Jermak erobert? Wer weiß – vielleicht war er nicht besser als all die Mörder und Gangster von heute. Eine Antwort hierauf könnte heute wohl nur der Ob geben …
Oder vielleicht sind für den Fluss die Raubzüge Dschingis Khans bedeutender? Seine wilden Horden waren im Mittelalter überall gefürchtet. In der heutigen Region Nowosibirsk liegt die Kreisstadt Ordynskoje, und in ihrer Nähe gibt es ein Dorf namens Dschingis. Erinnern sich die Fluten des Ob wohl noch, wie die Horden Dschingis Khans mit ihrer Beute den Rückzug antraten und wie sie eine junge Sibirierin fesselten? Wie einer seiner mächtigen Wesire diese Frau mit leidenschaftlichen Worten und mit vor Liebe erglühten Augen anflehte, ihm freiwillig zu folgen? Sie jedoch blickte stumm zu Boden. Die Soldaten des Wesirs waren schon entflohen, denn die Verfolger nahten; er aber redete wieder und wieder auf sie ein und warb um ihre Liebe. Schließlich packte er sie auf den Rücken des Pferdes, machte die Satteltaschen voller Gold fest, sprang selbst in den Sattel und sprengte mit seinem treuen Ross davon, auf das Ufer des Ob zuhaltend. Die Verfolger jedoch holten auf, und so warf der Wesir ihnen Gold zu, um sie abzulenken und sich von Ballast zu befreien. Als die Taschen leer waren, riss er sich seine kostbaren Abzeichen und Medaillen von der Brust und warf sie den Verfolgern zu Füßen. Die Sibirierin aber behielt er bei sich. Das vor Erschöpfung schäumende Pferd brachte sie zu den Kähnen am Ufer des Ob. Der Wesir nahm das gefesselte Mädchen behutsam vom Pferd und setzte es ins Boot. Dann sprang er selbst hinein. Doch während er das Boot mit einem Stecken vom Ufer abstieß, ereilte ihn ein Pfeil.
Die Strömung erfasste das Boot. Schwer verwundet lag der Wesir im Heck. Er bemerkte gar nicht, dass drei gegnerische Boote ihnen folgten und immer näher kamen. Er hatte keine Kraft zu sprechen und blickte zärtlich das Mädchen an, das schweigsam dasaß. Die Sibirierin sah ihn an, dann die Verfolger … da huschte plötzlich ein Lächeln über ihr Gesicht. Wem nur galt dieses Lächeln? Sie riss sich die Stricke von den Händen, warf sie ins Wasser und übernahm das Ruder. So sehr sich die Verfolger auch bemühten, sie konnten das Boot mit der Sibirierin und dem verletzten Wesir nicht einholen.
An welchen Ort und in welche Zeiten hat deine Strömung die beiden getrieben? Und welche Bilder werden deine getrübten Wellen jetzt, in diesem Moment, als Erinnerung an uns mit sich nehmen? Lass es mich wissen, ehrenwerter Fluss!
Sind vielleicht die Großstädte für dich von Bedeutung? Näher an deiner Quelle liegt die sibirische Metropole Nowosibirsk. Bist du dir ihrer erhabenen Größe bewusst? – Klar, ich weiß schon, was du mir alles erzählen könntest von den vielen giftigen Abwässern, die sie in dich hineinpumpt, sodass dein einst heilendes Wasser ungenießbar geworden ist. Nun, wir sind eben nicht wie unsere Vorfahren. Wir streben nach Fortschritt und wirtschaftlicher Entwicklung. Wohin sollten wir sonst mit all den Abfällen unserer Fabriken? In und um Nowosibirsk gibt es jetzt eine ganze Reihe von Forschungszentren. Wenn die ihre Abfälle nicht in dich leiten würden, müssten wir glatt ersticken. Die Luft in Nowosibirsk ist sowieso schon schlecht genug. In einigen Bezirken riecht es äußerst penetrant, sodass uns das Atmen manchmal schwerfällt. Bitte versuch all das zu verstehen. Du weißt doch, welche Technik wir jetzt haben. Die Zeiten der lautlosen Kähne sind nun mal vorbei; wir haben jetzt große Schiffe mit Dieselmotoren. Auch mein Schiff befuhr ja deine Wasser.
Es würde mich wirklich interessieren, ob sich der Fluss an mich erinnert. Ich fuhr mit dem größten Passagierschiff unserer Reederei. Nun ja, neu war es weiß Gott nicht, und der Dieselmotor und die Schrauben machten einen solchen Lärm, dass man bei voller Fahrt die Musik in der Schiffbar kaum mehr hören konnte. Jedenfalls weiß ich noch, wie ich eines Tages durch die Fenster der Schiffbar vom Oberdeck des Schiffes den Fluss betrachtete. Aus der Musikbox erklangen Lieder und Romanzen von Malinin:
Auf weißem Rosse wollte ich einst reiten in die Stadt,
Derweil der Schenke Wirtin mich nett angelächelt hat.
Auf der Brücke bedachte mich der Müller mit finsteren Blicken,
Die Nacht aber verbrachte ich mit der Wirtin zu meinem Entzücken.
Klein und unbedeutend waren mir die Menschen damals vorgekommen, die ich an den Ufern des Ob sah – jetzt war ich plötzlich selbst einer von ihnen …
Ich dachte darüber nach, wie ich wohl Anastasia davon überzeugen mochte, den Kontakt mit meinem Sohn zuzulassen. Die Lage war schon recht seltsam. Mein Leben lang hatte ich davon geträumt, einen Sohn zu haben. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich mit ihm spielen und ihn später erziehen würde. Wenn er dann erwachsen wäre, sollte er mir bei der Arbeit helfen. Dann könnten wir gemeinsam Geschäfte machen. Einen Sohn habe ich jetzt. Und auch wenn er nicht bei mir lebt, so ist es doch ein schönes Gefühl zu wissen, dass auf dieser Erde ein solches mir nahes und von mir erwünschtes Wesen lebt. Vor meiner Abreise hatte ich für den Kleinen mit großem Vergnügen alle möglichen Kindersachen gekauft. Das Kaufen war allerdings eine Sache – eine andere war die Frage, ob er die Sachen auch bekommen würde. Wäre er der Sohn einer normalen Frau gewesen, egal ob Städterin oder Dorffrau, so wäre diese Frage gar nicht erst aufgetaucht. Jede andere Frau hätte sich darüber gefreut, wenn der Vater um das Wohl des Kindes besorgt ist, ihm alles Nötige zur Verfügung stellen und an seiner Erziehung teilhaben will. Im Gegenteil: Tut er das nicht, so klagen viele Frauen Alimente ein. Ganz anders Anastasia. Die Taiga-Einsiedlerin hat ihre eigenen Lebensanschauungen und Wertmaßstäbe. Bereits vor der Geburt des Sohnes erklärte sie mir: «All deine sogenannten materiellen Annehmlichkeiten hat er nicht nötig. Ihm steht die ganze Fülle der Schöpfung zur Verfügung. Du willst ihm irgendwelches nutzloses Spielzeug kaufen. Aber das ist höchstens für deine eigene Befriedigung gut – damit du dir sagen kannst: ‹Was bin ich doch für ein sorgsamer Vater!›»
Wie kann sie nur so etwas sagen: «Das Kind braucht keine materiellen Annehmlichkeiten»? Was können die Eltern einem kleinen Kind dann überhaupt geben – vor allem der Vater? So ein Baby ist doch noch zu klein für väterliche Erziehung. Wie also soll er seine Liebe und seine Fürsorge dem Kind gegenüber zum Ausdruck bringen? Die Mutter hat es da schon leichter – sie stillt das Kind, und das ist das Wichtigste in diesem Alter. Was bleibt für den Vater da noch groß zu tun? In der normalen Gesellschaft kann er im Haushalt mithelfen und sich um wirtschaftliche Belange kümmern. Anastasia jedoch braucht solche Hilfe nicht. Alles, was sie hat, ist ihre Taiga-Lichtung. Ihr «Haushalt»...