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≈ KAPITEL 2 ≈
WAS IST WAHR?
In den nächsten Kapiteln geht es um die beiden Schlüsselbegriffe, die Jesus in Johannes 4 als Kriterium für wahre Anbetung nennt: Geist und Wahrheit.
Dazu zunächst eine kleine Zeitreise durch meine Glaubensgeschichte: Ich komme aus einer »gut katholischen« Familie in Oberschwaben. Meine Erziehung und Sozialisation, der wöchentliche Gottesdienstbesuch und die kirchlichen Feste haben mich viel über den christlichen Glauben und die Bibel gelehrt. Besonders die Evangelien, aus denen in der katholischen Leseordnung in jedem Gottesdienst ein Abschnitt gelesen wird, waren mir vertraut. Aber im Herbst 1982, als ich gerade erwachsen geworden war, begann etwas Neues. Ich besuchte seit einem halben Jahr einen katholisch-charismatischen Jugendgebetskreis und hatte viele Fragen. An einem Mittwochabend nahm ich allen Mut zusammen und gab mein Leben Jesus. Wir nannten das »Tauferneuerung«, ein persönliches »Ja« zu Jesus. Ich habe es wie eine Bekehrung erlebt: aus einem – im besten Sinne – angelernten Glauben wurde eine Beziehung zu Gott. Nun war alles anders, neu, lebendig. Es hatte etwas mit mir zu tun! Die »Erneuerung« des Glaubens hat in dieser Zeit auch meine ganze Herkunftsfamilie erfasst. Meine Mutter setzt sich bis heute, weit in ihren Siebzigern, für einen lebendigen und heilsamen Glauben ein. Obwohl mich mein Weg später mehr in die evangelische und freikirchliche Welt und in eine »gemischt konfessionelle Ehe« führte, bin ich nie konvertiert. Im katholischen Glauben liegen meine Wurzeln, zu denen ich heute noch stehe. Ich praktiziere zwar nicht regelmäßig eine katholische Frömmigkeit im engeren Sinne, sehe mich eher als Christ denn als Katholik und finde Gemeinsames und Wertvolles in allen Konfessionen. Aber so war mein Start in das große Abenteuer mit Gott.
Insbesondere alle Bibelstellen, in denen es um Musik und Lobpreis geht, haben mich als musikalisch begabten und begeisterten jungen Mann am Anfang angesprochen: die Psalmen, die Lieder in der Offenbarung des Johannes und eben das Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen aus Johannes 4. So begleitet mich diese Bibelstelle schon viele Jahrzehnte.
Mitte der Achtzigerjahre hielt ich meine ersten Referate auf Lobpreis-Seminaren. Noch stark von meinem neu gefundenen persönlichen Glauben an Jesus geprägt, war der Begriff »Wahrheit« für mich ganz klar: Es ging um die Wahrheit, die ich gefunden hatte, die meine offenen Fragen als Suchender beantwortet hatte: Gott ist ein liebender Vater, Jesus ist für uns gestorben und auferstanden und der Heilige Geist wirkt heute noch! Diese Wahrheit sah ich natürlich auch als Abgrenzung gegen alle, die sie noch nicht gefunden hatten: die Atheisten, die Anhänger anderer Religionen und vor allem die Namens- und Kulturchristen, die Karteileichen, die nur auf dem Papier Christen waren, aber keine Ahnung von der Kraft des Evangeliums hatten! Aus dieser Zeit gibt es noch ein paar Artikel in Zeitschriften von mir. Wenn ich sie heute lese, spüre ich zwei Regungen in mir. Einerseits steigt mir die Schamröte ins Gesicht. Was habe ich in meinem jugendlichen Übereifer nicht alles steil behauptet! Vieles war weder wirklich durchdacht noch durchlebt. Gut, dass ein gnädiger Schleier des Vergessens über all das gefallen ist. Andererseits spüre ich jedoch Dankbarkeit: Wie ein Vater oder Lehrer oder Coach kann ich in meiner eigenen Unreife – und damit auch in der Unreife vieler anderer – die Leidenschaft für Jesus und meine neu gefundenen Überzeugungen sehen. Und das ist ein guter Anfang. Aber eben nur ein Anfang. Viele Jahre später habe ich bei Richard Rohr gelesen2, dass Menschen am Anfang immer viel Selbstbestätigung und Gruppenidentität brauchen, später aber darüber hinauswachsen müssen.
Ein erster Wachstumsschritt in Bezug auf die »Wahrheit« aus Johannes 4 kam Mitte der Neunzigerjahre mit Brian Doerksen, einem kanadischen Songwriter und Lobpreisleiter, der mich sehr beeinflusst hat. Er lehrte – damals revolutionär –, dass es auch um die »Wahrheit« meines Lebens geht. So wie die Frau am Jakobsbrunnen mit der schmerzhaften Wahrheit ihrer Männerprobleme konfrontiert wurde, so geht es in der Anbetung darum, vor Gott ehrlich zu werden. Und auf einmal sind die »wahren« Anbeter nicht mehr die »Rechtgläubigen«, sondern die Wahrhaftigen. Plötzlich sind wir nicht mehr die »Tollen«, sondern die auf Gnade Angewiesenen. Das sprach tief in mein Leben und in eine Lebenskrise, von der ich noch erzählen werde. So, und nur so, konnte ich weiter Gott anbeten, mit allem Schwierigen, »so wie ich bin«. »Come, just as you are before your God« (»Komm, so wie du bist, vor deinen Gott«).3
Anfang 2000 habe ich meine Frau Andrea kennengelernt und bin – angeregt durch sie – immer mehr einen seelsorgerlichen Weg gegangen. Meine Krise hatte mich schon vorbereitet, aber Andrea gab mir ein Vorbild und einen großen Schubs zu dieser radikalen Ehrlichkeit. Sie hatte erlebt, dass Gott sie »ganz unten« (ein Liedtitel ihrer ersten CD) auffängt. Galt das auch für mich? Es fiel mir schwer, meine eigenen Ansprüche und die vermeintlichen Ansprüche anderer, meine Selbstbehauptung und meine Verteidigungsmechanismen loszulassen. Doch zugleich spürte ich die große Freiheit darin. Konnte es sein, dass Gott nicht so sehr an meinem Wissen, Glauben und korrekten Verhalten, sondern an meinem Herz interessiert war?
Mein Selbstbild hat sich gewandelt. Ich spitze es zu: vom begabten Überflieger aus guter Familie zu einem Menschen mit Schwächen und Defiziten, der aus Gnade und Vergebung lebt. Anbetung in der Wahrheit heißt für mich seit damals vor allem: Spiel keine »Rolle«, sondern bringe deine Anbetung so gut wie möglich mit deinem Leben in Übereinstimmung! Und wo das nicht gelingt, sei dir dessen bewusst. Gott gibt dem Demütigen Gnade (Sprüche 3,34; Jakobus 4,6; 1. Petrus 5,5; vgl. Kapitel 6).
Heute erfüllt mich der Begriff »Wahrheit« mit mehr Ehrfurcht als je zuvor. Ich bin fest davon überzeugt, dass es eine absolute Wahrheit gibt, die wir Menschen jedoch nie vollständig erkennen können, schon gar nicht als Einzelne. Ich bin mir mehr denn je bewusst, dass wir vieles nicht wissen, dass vor allem ich vieles nicht weiß. Indem wir mehrere Blickwinkel zusammenbringen, kommen wir der Wahrheit näher. Manchmal gibt es eine Offenbarung, einen Moment der Klarheit – aber das ist immer ein Geschenk. Paulus formuliert es so:
Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin. (1. Korinther 13,12)
Viele unserer Lieder stehen im (scheinbaren) Widerspruch dazu. Singen wir nicht oft davon, Gott zu erkennen, ihn sehen zu wollen? Paulus sagt: Das geht nur indirekt, wie in einem Spiegel – und Spiegel waren in der Antike nicht besonders klar! Zudem sehen wir nur »rätselhafte Umrisse«, fast wie eine Skizze, nur Linien statt das ganze Bild. Aber wir sollten nicht denken, das sei wenig. Wir können die ewigen Dinge, ja Gott selbst erkennen – aber eben nur bruchstückhaft. Das hat nebenbei gesagt erstaunliche Ähnlichkeit mit dem »Höhlengleichnis« des Platon (428/427-348/347 v. Chr.) aus dem siebten Buch des Dialogs Politeia. Demnach erkennt der Mensch die Wirklichkeit nur indirekt, wie ein Höhlenbewohner, der nicht nach draußen, sondern nur die Schatten an der Höhlenwand sehen kann.
Paulus verwendet noch ein weiteres Bild für das »andere« Sehen: Er verweist uns auf die »Augen des Herzens« und betet um deren Erleuchtung (Epheser 1,18). Das Neue Testament sagt uns sehr klar: Niemand hat Gott je gesehen (Johannes 1,8; 6,46; 1. Timotheus 6,16). In unserer Anbetung ist also eine Vorsicht angebracht, eine Zurückhaltung. Wenn wir davon sprechen und singen, Gott zu sehen, brauchen wir immer das Bewusstsein des großen Geheimnisses, des trüben Spiegels, der rätselhaften Umrisse. Und das »Nichtwissen« gehört dazu, es ist ein wichtiger Teil der Anbetung! In gewisser Weise kann man sogar sagen: Weil wir Gott nicht umfassend erkennen können, beten wir ihn an. Das ist die angemessene Reaktion auf das Unfassbare, nicht ängstlich, sondern demütig. Gott lässt uns sehen, was wir sehen müssen. Das genügt.
Wenn wir nur sehen könnten
1. Die Schattenbilder tanzen flackernd an der Höhlenwand.
Wir sehen nur das Abbild, sind vom Ursprung abgewandt.
So viele meinen, das, was sie jetzt sehn, das ist es schon.
Und andre glauben starr und fest an eine Illusion.
Gott, warum sind wir nur so blind?
Wenn wir nur sehen könnten, wie es wirklich ist.
Wenn wir nur sehen könnten, wie du wirklich bist.
Doch wir erkennen nur den Umriss
in dem Licht der Ewigkeit.
Jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe durch die Zeit.
2. Wir sehn durch trübe Spiegel ein oft rätselhaftes Bild.
Wir sehn das, was wir wollen, und nicht das, was wirklich gilt.
Wir streiten um die Wahrheit, doch viel mehr um unsre Sicht.
Mit andern Augen sehen, das gelingt uns meistens nicht.
Gott, warum sind wir nur so blind?
Wenn wir nur sehen könnten …
Als ich ein Kind war, da war mein Denken schlicht.
Doch jetzt ist mir klar, so einfach ist es nicht.
Alles ist Stückwerk, wir wissen vieles nicht,
bis wir am Ende dich sehn von Angesicht.
Wir werden sehen können,...