Was ist Beten?
GEBET ALS BEWEGUNG ZU GOTT HIN
Madeleine Delbrêl schreibt:
„Das Gebet ist wie eine ‚Bekehrung‘, das heißt eine Bewegung, durch die wir uns nach vorne kehren“ (Liebe 86).
„Beten heißt, zwischen Gott und uns in gewisser Weise die ‚normalen‘ Beziehungen wiederherstellen. Das heißt umkehren, unseren Geist, unser Herz, unseren Willen auf Gott hin zurückwenden, der nie aufhört, unser Schöpfer und unser Vater zu sein“ (Gebet 48).
Ein Zweifaches geschieht beim Beten:
Erstens eine Wende „nach vorne“. Madeleine hat dies selbst am Wendepunkt ihres Lebens erlebt, als sie von der Atheistin zu einer von Gott Ergriffenen wurde. Sie entschließt sich zu beten, also Gott im Gebet zu suchen, streckt sich aus nach Gott, dem Sinn allen menschlichen Lebens und dem Ziel allen menschlichen Strebens – und sie wird von Gott gefunden.
Zweitens eine Wendung zurück zu unserer Herkunft, das heißt: Unser Denken, Lieben und Wollen wird zu unserem Ursprung zurückgelenkt, zu Gott, unserem Schöpfer und Vater.
So bedeutet Beten die „normalen Beziehungen wiederherstellen“, das heißt die der „Norm“, der grundlegenden Ordnung entsprechenden Beziehungen; denn der Mensch als Geschöpf Gottes ist verwiesen auf Gott seinen Schöpfer. Das ist die Urbestimmung des menschlichen Wesens: vom Schöpfer her auf den Schöpfer hin – von Gott her auf Gott hin. So ist der Mensch erschaffen. Beim Beten wird der Mensch sich dessen bewusst. Zunächst sind weniger die Worte ausschlaggebend als die innere Ausrichtung, die Hinwendung des Geschöpfs zu seinem Schöpfer. Beten ist so – vor allem Sprechen – „eine vertrauende, liebende Bewegung auf jenes Geheimnis hin, das wir Gott nennen“ (Karl Rahner).
GEBET ALS AUSRICHTUNG AUF GOTT ALLEIN
„Beten … heißt nicht,
sein Gebet, ein Gebet ‚erledigen‘“ (Gebet 76).
Wenn man etwas ‚erledigt‘, wird zumeist ein bestimmtes Pensum verrichtet, eine Leistung erbracht. Man führt etwas durch, leistet etwas ab, nacheinander in der Reihe von erforderlichen Tätigkeiten. Und in der Regel ist man froh, wenn man es zu Ende gebracht hat, da es „unbedingt noch erledigt werden musste“ … Beten ist das genaue Gegenteil; es bedeutet, für eine gewisse Zeit herauszutreten aus dem „zu Erledigenden“. Madeleine schreibt:
„Beten heißt
aufhören, etwas anderes zu tun,
heißt zuerst,
sich von dem, was man tut, losreißen,
um mit Gott zu reden“ (ebd.).
Beten verlangt also, sich von der bisherigen Beschäftigung loszulösen, um sich Gott zuzuwenden, sich auf ihn hin auszurichten, um es allein mit ihm zu tun zu haben.
Sich ganz auf Gott zu konzentrieren, heißt aber nicht, vor den zu erfüllenden Aufgaben und auferlegten Pflichten zu fliehen. Doch sie dürfen, sie müssen sich gewissermaßen „gedulden“, für einen Moment zurückstehen:
„Beten heißt nicht,
sich für die anderen nicht mehr zu interessieren,
sich dessen zu entledigen, was wir zu tun haben,
sondern wirklich Gott anzuschauen,
mit ihm von Angesicht zu Angesicht zu reden,
ohne den Kopf abzuwenden
oder ihm den Rücken zuzukehren,
weil wir zur gleichen Zeit noch etwas anderes
oder jemand anderen in den Blick nehmen wollen“
(ebd.).
Wer Gott anschaut, um „mit ihm von Angesicht zu Angesicht zu reden“, kann nicht gleichzeitig einen Brief schreiben oder einen Vortrag vorbereiten, die E-Mails checken oder die Einkaufsliste zusammenstellen … Das heißt allerdings keineswegs, dass die anderen vergessen wären oder einem gleichgültig wären; denn gerade das Auge in Auge mit Gott allein motiviert zum Einsatz für andere, es trägt und verändert ihn; im Dasein für andere, in der Aufmerksamkeit für andere muss sich seine Echtheit erweisen: „Wer seinen Bruder oder seine Schwester nicht liebt, die er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht“ (vgl. 1 Joh 4,21).
Doch im Gespräch mit Gott ist dieser das alleinige Gegenüber:
„Beten heißt, es mit Gott zu tun zu haben,
wie wir im Augenblick des Todes
mit ihm zu tun haben werden: allein“ (ebd.).
Madeleine betrachtet gerade diese Momente exklusiver Hinwendung zu Gott als den radikal stellvertretenden Einsatz für die Welt (vgl. dazu unten S. 112f).
DIE „ABSOLUTE NOTWENDIGKEIT“ DES GEBETS
Gebet ist für Madeleine gelebter Glaube; sie weiß:
„Das Glaubensleben kann nicht ohne Gebet gedeihen“ (Frei 127).
„Für das Unerlässliche, für das Notwendige im Leben geliebter Menschen und im eigenen Leben findet man immer die nötige Zeit. Also werden wir die Zeit zum Beten, die generell für jeden von uns möglich scheint, nur dann finden, wenn wir sie als notwendig erachten. Deshalb müssen wir zunächst einmal danach suchen, warum es notwendig ist, Zeit zum Beten zu finden“ (Gebet 59).
Beten zu wollen, dafür Zeit zu investieren, fällt umso leichter, je klarer die unbedingte Notwendigkeit, die Lebens-Notwendigkeit des Gebets für das eigene Leben bewusst geworden ist. Für Madeleine gibt es nur eine mögliche Entscheidung, eine eindeutige Option:
„Man muss glauben, dass das Gebet absolut notwendig ist, damit sich das Leben Christi in uns lebendig, wirksam, fruchtbar erweist …
Man muss glauben, dass, um beten zu können und die Unerlässlichkeit des Gebetes in uns zu fundieren, unsere Anstrengungen für sich allein wirkungslos bleiben.
Lesen und darüber nachdenken, das Leben des Herrn und sein Beten betrachten, danach forschen, was er darüber gesagt hat, und auf sein Wort aufmerksam sein – das alles ist nur wirksam, wenn wir im Glauben um mehr Glauben bitten, um zur Überzeugung zu gelangen, dass das Gebet für uns eine Frage auf Leben oder einen ‚langsamen Tod‘ ist; dass ohne Gebet das Leben Christi in uns nur dahinvegetiert, sozusagen einfach nur vorhanden [also nicht lebendig] ist“ (Gebet 74f).
Madeleine möchte, dass das Leben Christi in ihr und in ihrer Gemeinschaft lebendig ist. Zusammen mit ihren Gefährtinnen hat sie „Christus zur alleinigen Form“ (Gebet 18; vgl. dazu Gal 4,19) ihres Lebens gewählt. Um ihn versammeln sie sich, um gemeinsam das Evangelium zu lesen,
„nicht, um es zu studieren,
sondern um dort Zuflucht zu finden.
Betend, suchend und aufmerksam hörend,
versammeln wir uns um die Person Jesu,
um das, was er gesagt hat,
um das, was er getan hat.
Wir bringen unser Leben mit ihm in Berührung,
so wie es ist,
damit er es immer wieder zu dem werden lässt,
wie es sein soll“ (Liebe 41).
Beten heißt: Uns selbst und unser ganz konkretes Leben mit Jesus in Berührung bringen. Deshalb gilt auch:
„Es gibt kein gelebtes Evangelium, das nicht zuerst ein gebetetes Evangelium sein muss. Jesus lässt uns die Worte seines Evangeliums nicht anwenden, ohne uns zu sagen, wie man sie anwendet. Und das allein verlangt von uns eine äußerste Folgsamkeit dem Gebet gegenüber“ (Liebe 89).
Um das Evangelium zu leben, um mit Jesus zu leben, muss man seine Worte im Evangelium „beten“, hören und befolgen.
Beten und Lesen in der Heiligen Schrift brauchen einander: Ohne betend-hinhörendes Lesen verstehen wir nicht wirklich, was Gott uns im Evangelium, in der Heiligen Schrift sagen will. Und ohne das Lesen, ohne die Konfrontation mit dem, was er uns im Wort der Schrift sagt, liefe unser Beten Gefahr, zum – willkürlichen – Selbstgespräch zu werden. Madeleine verweist uns auf das Ziel: die Orientierung an, mehr noch: die lebendige Beziehung, ja die Gleichförmigkeit mit Christus. Diese Ausrichtung ist wesentlich für ein christliches Beten: Es ist ein vitales Beziehungsgeschehen.
GEBET ALS BEGEGNUNG MIT DEM LEBENDIGEN GOTT
„Wie auch immer das Gebet gestaltet sein mag, durch dieses hindurch begegnen wir dem lebendigen Gott, dem lebendigen Christus“ (Gebet 58).
Ob Anbeten, Loben, Danken oder Bitten – das spezifisch christliche Beten ist die personale Begegnung mit dem lebendigen Gott.
„Was auch immer die menschliche Basis ist, von der es ausgeht, immer wird es sich der großen geheimnisvollen Kräfte bedienen müssen, die Gott in sich selber erreichen: Glaube, Hoffnung, Liebe. [ …] Glaube, Hoffnung, Liebe sind Geschenke Gottes. Er gibt sie dem, der darum bittet“ (ebd.).
Gott schenkt uns das Beten....