2Eine Frage der Haltung: Wertschätzung
Wertschätzung: Dem anderen positiv begegnen
Jemandem Wertschätzung entgegenzubringen bedeutet, ihn in seiner Würde und Individualität voraussetzungslos zu achten – so haben wir es im letzten Kapitel sehr allgemein definiert. Das fällt vergleichsweise leicht,
- wenn wir den anderen kennen und schätzen,
- wenn er oder sie uns sympathisch ist,
- wenn wir ihn oder sie bewundern, beispielsweise aufgrund von Status, Erfolg, Einfluss,
- wenn er oder sie unsere Meinung teilt und uns keine Schwierigkeiten bereitet,
- wenn er oder sie uns selbst mit Wertschätzung begegnet.
Echte Wertschätzung stellt keine Bedingungen
Anders sieht es aus, wenn unser Gegenüber gegen eines oder gar mehrere dieser Merkmale verstößt, menschlich sperrig ist, uns das Leben schwer macht oder wenig Sympathie in uns weckt. Dann entscheidet sich, wie ernst es uns mit der Tugend der Wertschätzung ist. Der bekannte Benediktiner-Pater Anselm Grün hat dem Thema ein Buch gewidmet, in dem er die Bedingungslosigkeit der Wertschätzung betont. Er schreibt unter anderem: „Wer einen Menschen wertschätzt, sieht in ihm einen Schatz, der auch für andere Menschen wertvoll ist“ und „Ich vergleiche seinen Wert nicht mit dem eines anderen. Ich achte vielmehr seinen einmaligen Wert. Er ist ein wertvoller Mensch“.21
So gesehen ist praktizierte Wertschätzung ein hoher Anspruch, von dem nicht viel übrig bleibt, wenn in Casting-Shows Kandidaten vorgeführt werden, wenn auf Schulhöfen Mitschüler gehänselt werden oder wenn in Unternehmen missliebige Kollegen persönlich verletzend behandelt werden.
Denkanstoß
Bei wem fällt es Ihnen schwer, Wertschätzung zu üben? Warum?
Welche Folgen hatte dies bisher (für die Beziehung zu diesem Menschen und darüber hinaus)?
Stehen der Auslöser Ihres Verhaltens und dessen Wirkung in einem angemessenen Verhältnis?
Fragt man Menschen, was sie unter Wertschätzung verstehen, hört man Umschreibungen wie die folgenden: „Wertschätzung bedeutet Freundlichkeit.“ – „Wertschätzung heißt für mich, dass mir jemand zuhört und mich versteht.“ – „Wertschätzung setzt Respekt voraus.“ – „Wer jemanden wertschätzt, lässt ihn gelten, wie er ist.“ Wertschätzung als positive Grundhaltung umfasst offenbar ein Bündel von Eigenschaften. Diejenigen, die wir für zentral halten, werden im Folgenden erläutert.
Aufmerksamkeit: den anderen wahrnehmen
Welches Gefühl haben Sie, wenn jemand Sie nicht zurückgrüßt, sondern durch Sie hindurchzublicken scheint? Oder wenn Sie in einem Meeting etwas sagen und die übrigen Teilnehmer kommentarlos zum nächsten Punkt übergehen – ganz so, als seien Sie gar nicht vorhanden? Viele Menschen empfinden das vermutlich als schlimme Demütigung. Manche reagieren wütend, andere sind geknickt. Erstaunlich, was schon das Ausbleiben eines kleinen Nickens oder eines knappen Grußes in uns auslösen kann. Ignoranz tut mehr weh als Kritik. Wer uns kritisiert, nimmt uns immerhin noch wahr, und Menschen wollen gesehen werden. Sie kennen das möglicherweise von Kindern: Wenn ein Erwachsener „keine Zeit zum Spielen hat“, erkämpft sich der Nachwuchs die Aufmerksamkeit notfalls auf negative Weise, indem er rebelliert oder etwas Verbotenes tut. Die erste Stufe der Wertschätzung – ihre Grundlage – besteht darin, einen anderen zu beachten, ihn wahrzunehmen, ihn einer Reaktion zu würdigen.
Respekt: den anderen ernst nehmen
Dem anderen Achtung zollen
Respekt bedeute, sein Gegenüber „in seiner Persönlichkeit, seiner Menschenwürde und seinem Anliegen ernst zu nehmen“, schreibt unser Kollege René Borbonus in seinem lesenswerten Buch zum Thema Respekt.22 Respekt geht also über das bloße Sehen und Beachten des anderen hinaus: Respekt beschreibt eine bestimmte Haltung, die manchmal mit altmodischen Begriffen wie „Ehrerbietung“ verbunden wird. Dieser Aspekt des „Ehre-Erweisens“ schwingt heute noch in Begriffen wie „Respektsperson“ mit. Respekt lässt sich daher so umschreiben: Ich trete dem anderen mit Achtung gegenüber – Achtung vor seiner Person, seiner Individualität, seiner Gleichwertigkeit als Mitmensch. Respekt gebietet es zum Beispiel, den anderen ausreden zu lassen, seine Einschätzung einzuholen in Fragen, die ihn betreffen, ihn nicht persönlich zu beschädigen, kurz: seine Würde zu achten.
Auf einer internationalen Messe fragt der Leiter der Produktentwicklung eines kleineren Maschinenbauers, ob einer der Einkäufer des Konzerns am Stand sei und einen Moment Zeit habe. Er würde gerne ein Produkt vorstellen. Die Messehostess am Tresen nimmt seine Karte entgegen und geht mit ihr auf zwei Konzernmitarbeiter zu, die bei einem Kaffee plaudern und lachen. Beide blicken kurz auf, mustern den Entwicklungsleiter und schütteln abwehrend den Kopf. Dann setzen sie ungerührt die Kaffeepause fort. Der Standbesucher bekommt das alles vom Tresen aus mit.
Ein typisches Beispiel für Arroganz und Missachtung. Oft muss dafür Zeitknappheit als lahme Entschuldigung herhalten. Doch was spricht dagegen, die Karte des Einkäufers entgegenzunehmen und ihm in zwei Sätzen freundlich zu begründen, warum man aktuell kaum miteinander ins Geschäft kommen kann?
Höflichkeit: den anderen einnehmen
Verbale und nonverbale Momente
Schon der Namenspatron der Qnigge GmbH, Adolph Freiherr von Knigge, verstand Umgangsformen nicht als Regeln um der leeren Etikette willen, sondern als Empfehlungen „Über den Umgang mit Menschen“ (so der eigentliche Titel seines berühmten Buches). Knigge interessierten „die Pflichten, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind und wiederum von ihnen fordern können“23. Klassische Höflichkeitsformen wie das „Danke“ und „Bitte“, das „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“, Rücksichtnahme auf Schwächere, ja, auch angemessene Kleidung und Tischmanieren sind Ausdruck der Wertschätzung für das Gegenüber. Wer sich benimmt wie die sprichwörtliche Axt im Walde, signalisiert dem anderen unweigerlich Desinteresse und Geringschätzung. Wer höflich und freundlich auftritt, unterstreicht sein Anliegen, dass sein Gegenüber sich wohlfühlen möge. Dazu zählt beispielsweise auch der wertschätzende Umgang mit der Zeit des anderen: Jemanden länger als wenige Minuten warten zu lassen, und das womöglich regelmäßig, für Verspätungen nicht um Entschuldigung zu bitten oder in beruflichem Kontext die Zeit eines anderen zu verschwenden ist wenig wertschätzend.
Es ist brütend heiß, doch die Bewerberin für eine Dozentenstelle präsentiert sich der Situation angemessen im Hosenanzug und mit geschlossenen Schuhen. Sie staunt nicht schlecht, als sie der Abteilungsleiter der privaten Weiterbildungseinrichtung im Camping-Outfit begrüßt: in Bermuda-Shorts, verwaschenem T-Shirt und Sandalen. Das Gespräch verläuft schleppend, auf eine (schließlich abschlägige) Reaktion wartet die Bewerberin Wochen. „Gewundert hat mich das nicht“, erzählt sie: „Dem war ich ja noch nicht einmal eine lange Hose wert.“
Toleranz: den anderen nehmen, wie er ist
Wertschätzung = die Werte des anderen tolerieren
Wertschätzend mit jemandem umzugehen, mit dem wir uns in grundsätzlichen Fragen einig sind, ist keine hohe Kunst. Schwieriger wird es, wenn das Gegenüber andere Vorstellungen vertritt als wir selbst oder uns auf andere Weise fremd ist. „Wert-Schätzung“ kann man daher auch so verstehen: die Werte des anderen schätzen, sie achten und tolerieren, auch wenn ich sie selbst nicht teile. Der Duden umschreibt „Toleranz“ mit Begriffen wie „Aufgeschlossenheit“, „Duldsamkeit“ und „Vorurteilslosigkeit“ (lat. tolerare = erdulden, ertragen). Ein wertschätzender Verkäufer wird die muslimische Kundin mit Kopftuch genauso höflich und respektvoll bedienen wie jede andere Kundin, auch wenn er das Kopftuch als Ausdruck von Religiosität persönlich ablehnt.
Auch im Unternehmen fördert das Schätzen der Wertvorstellungen anderer den wertschätzenden Umgang. Auf dieser Basis kann beispielsweise der ehrgeizige Abteilungsleiter den Mitarbeiter, der von neun bis fünf zuverlässig und ordentlich arbeitet, akzeptieren, ohne ihn als „Laumann“ zu diffamieren. „Wer [andere] entwertet, tut dies unter anderem, weil er/sie bestimmte Tugenden und Ideale für richtig hält, die ein anderer Mensch negiert“24, stellt die Philosophin Barbara Strohschein fest. Auch in Familien gibt es solche Entwertungen, etwa wenn erfolgreiche Familienmitglieder als „karrieregeil“ oder sozial engagierte als naive „Gutmenschen“ abgestempelt werden. Wertschätzung bedeutet also auch, andere Menschen nicht durch egozentrische Bewertungen in Schubladen zu stecken.
Empathie: den anderen verstehen wollen
Sich in den anderen hineinversetzen
Unter „Empathie“ (von altgriechisch „path-“, leiden/fühlen) wird die Fähigkeit und Bereitschaft verstanden, sich in die Gefühls- und Vorstellungswelt eines anderen Menschen zu versetzen. Häufig wird Empathie daher auch als „Einfühlung(svermögen)“ übersetzt. Empathie beweist ein Vorgesetzter, der es versteht, eine Kündigung so zu handhaben, dass sie die Beziehung zum Mitarbeiter, der das Unternehmen verlassen muss, nicht völlig zerstört. Ein solcher Chef wird auf schalen Trost verzichten, Wut oder Verzweiflung des Mitarbeiters aushalten und konkrete Hilfe anbieten, zum Beispiel in Form einer Empfehlung an ein anderes Unternehmen oder durch ein faires Outplacement. Auch ein...