2. Die Krisen-Kanzlerin
Internationale Bankenkrise
Der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 war für die Finanzbranche ein tiefer Schock. Aufgrund der Probleme auf dem US-amerikanischen Immobilienmarkt waren zwar schon seit Anfang 2007 zahlreiche Banken ins Straucheln gekommen, in den größeren Fällen hatte sich aber bis dahin immer ein Retter gefunden. Im September 2007 half die britische Notenbank dem Immobilienfinanzierer Northern Rock mit einem Notkredit, weil Kunden ihre Konten räumten. Und im März 2008 sorgte die amerikanische Notenbank dafür, dass die strauchelnde Investmentbank Bear Stearns von JPMorgan Chase übernommen wurde.
Die Insolvenz von Lehman Brothers kam deshalb für die Finanzwelt völlig überraschend. Schlagartig trocknete der Markt für kurzfristige Kredite zwischen den Banken aus, weil sich die Institute untereinander nicht mehr vertrauten. Viele Banken mussten aus Liquiditätsgründen Aktivvermögen verkaufen, wodurch die Börsenkurse abstürzten. Es drohte die Gefahr eines großen Banken-Crash wie in den 30er Jahren.
Die Insolvenz von Lehman Brothers war aber nur der Auslöser dieser Krise. Die eigentlichen Gründe waren tiefgreifender und reichten bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück:
•Die Deregulierung der Finanzmärkte in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts.
•Die Geld- und Kreditpolitik der amerikanischen Notenbank (Fed) nach der Dotcom-Krise.
•Das Platzen der durch die US-amerikanischen Regierung angeheizten Immobilienblase.
•Das unverantwortliche Geschäftsgebaren der Manager von Investmentbanken.
Der Deregulierungswettbewerb
Die Deregulierung der Finanzmärkte begann in den Regierungszeiten von Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Bis dahin waren die Banken einer strengen staatlichen Aufsicht unterworfen. Selbst die Zinshöhe durften sie nicht nach eigenem Belieben bestimmen. Unter dem Einfluss des amerikanischen Ökonomen Milton Friedman setzte sich jedoch die Auffassung durch, dass die Finanzmärkte in sich stabil sind und staatliche Eingriffe nur schaden.
Nirgends waren die Veränderungen auf den Finanzmärkten so drastisch wie in den angelsächsischen Ländern. So setzte Margaret Thatcher mit ihrem Finanzminister Nigel Lawson 1986 eine Radikalreform durch, die als »Big Bang« in die Finanzgeschichte eingegangen ist. Über Nacht fielen zahlreiche gesetzliche Regeln weg, die das Bankgeschäft in der City of London bis dahin reguliert und gegen Wettbewerb geschützt hatten.
Dieser Befreiungsschlag war innerhalb der Regierung durchaus umstritten. So wurde die Premierministerin aus ihrer Strategieabteilung gewarnt, die geplanten Reformen könnten Anreize zu »unethischem Verhalten geben«. Es drohe eine Abfolge von »boom and bust« (Aufschwung und Pleite). Eindrücklich wurde Margaret Thatcher gewarnt: »Wenn sie (die Deregulierung) zu Skandalen und Insolvenzen führt, wird sie als das unakzeptable Gesicht des unpopulären Kapitalismus gebrandmarkt werden.«
Solche Mahnungen blieben ohne Wirkung, weil die Befürworter der Deregulierung in der Regierung von Margaret Thatcher das Sagen hatten. Lange Zeit schien es auch so, dass der »Big Bang« eine Erfolgsgeschichte sei. Der Londoner Finanzplatz erlebte nach der Deregulierung einen gewaltigen Aufschwung, der vor allem ausländische Großbanken anzog. Die traditionellen »Merchant Banks« verschwanden und damit auch die Geschäftspraktiken eines »Ehrbaren Kaufmanns«.
Mit der Deregulierung verbreiteten sich auch die in den siebziger Jahren erstmals aufgetauchten Derivate, also Finanzprodukte, deren Wert sich von anderen Wertpapieren ableitete. Mitte der neunziger Jahre begann man, alle möglichen Kredite in solchen Wertpapieren zu bündeln, um sie anschließend zu verkaufen. Gleichzeitig wuchs die Zahl der Hedgefonds, die mit Hilfe großer Kredithebel hohe Renditen produzierten. Manche Fonds nahmen auf einen Dollar Eigenkapital dreißig und mehr Dollar Fremdkapital auf. Diese Fonds waren zumeist in Steueroasen angesiedelt, ebenso wie jene Gesellschaften, die als Verkäufer der Kreditpakete und Derivate auftraten.
Allgemeine Meinung war damals, dass die Finanzwirtschaft zu den wichtigsten Wachstumsbranchen in einer postindustriellen Gesellschaft gehörte. Mit der Deregulierung der Finanzmärkte sollte diese Entwicklung gefördert werden. Die in den 30er Jahren in den USA als Reaktion auf die damalige Krise eingeführte Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken wurde wieder aufgehoben. Dadurch wurde es den Banken ermöglicht, sowohl auf Pump als auch mit dem Geld ihrer Kunden zu spekulieren. Außerdem genehmigte der US-Kongress den Handel mit sogenannten Credit Default Swaps, also mit Kreditausfallversicherungen. Diese von Warren Buffet als »finanzielle Massenvernichtungswaffen« bezeichneten Papiere trugen wesentlich zur Verschärfung der Finanzkrise bei.
Die amerikanische Immobilienblase
Die Politik des billigen Geldes begann, als die US-amerikanische Wirtschaft nach der Dotcom-Krise in eine wirtschaftliche Rezession geriet. Die amerikanische Notenbank (Federal Reserve Board) reagierte darauf mit der üblichen Strategie: Sie senkte den Leitzins auf 1,0 Prozent und kaufte massenhaft Staats- und Hypothekenpapiere. Mit dieser Öffnung der Geldschleusen sollte die Wirtschaft wieder angekurbelt werden.
Das Rezept funktionierte auch. Die niedrigen Zinsen belebten den Konsum und die Nachfrage nach Wohnimmobilien. Die Wirtschaft erholte sich, und es folgte eine längere Aufschwungphase. Treiber dieser Entwicklung war vor allem die amerikanische Bauwirtschaft, die von dem lebhaften Wohnungsmarkt profitierte. Allein zwischen 2000 und 2006 verdoppelten sich die Preise für Wohnimmobilien. Unübersehbar entstand hier eine »Blase«, die bei Beendigung der Niedrigzinspolitik der Fed platzen musste. Alan Greenspan, der damalige Chef der amerikanischen Notenbank, gestand rückblickend ein, dass dieser Boom wesentlich zur späteren Banken-Krise beigetragen hat.
Angefeuert wurde diese Blasenbildung zudem durch die soziale Wohnungs-Baupolitik unter dem US-Präsidenten Bill Clinton. Danach sollten auch benachteiligte Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit erhalten, sich den amerikanischen Traum vom eigenen Haus zu erfüllen. Mit dem »Community Reinvestment Act« wurden Banken mehr oder weniger gezwungen, ohne die übliche Kreditprüfung Hypothekenkredite an minder bemittelte Personenkreise zu vergeben. Die halbstaatlichen Banken »Fannie Mae« und »Freddie Mac« traten dabei in großem Stil als Käufer oder Garanten solcher Subprime-Kredite auf, um den Vorgaben des amerikanischen Wohnungsbauministeriums zu entsprechen.
Das Programm war ein voller Erfolg. Bis 2006 stieg die Zahl solcher NINJA-Kredite (»No Income, No Job or Asset«) auf sechs Millionen. Die Praxis der Kreditvergabe war sträflich lax. Wer nicht bedacht wurde, konnte die Banken wegen Diskriminierung verklagen. An solchen Klagen war auch Barack Obama, der spätere Präsident der USA, als Rechtsanwalt und Sozialarbeiter beteiligt. Die Aufsichtsbehörden blieben untätig, weil diese Kredite politisch gewollt waren.
Die Hypothekenbanken, die die Subprime-Kredite vergaben, wussten natürlich, wie problematisch solche Kredite waren. Um sich von dem Risiko zu trennen, bündelte man sie in »Zweckgesellschaften«, die daraus neue Wertpapiere, sogenannte »Morgage-Backed Securities« (MBS), machten. Der Vergleich mit dem deutschen Pfandbrief täuschte allerdings. Während Hypothekenpfandbriefe durch Immobilien gesicherte Ansprüche gegen eine Bank darstellen, besaß der Käufer eines MBS-Papiers nur einen Anspruch gegen die Immobilie. Verlor die Immobilie an Wert und war der Besitzer ohne Einkommen oder Vermögen, verloren auch die MBS-Papiere ihren Wert.
Um die MBS-Papiere marktfähig zu machen, wurden in ihnen Bau-Kredite verschiedener Risikoklassen so geschickt gebündelt, dass sie rechnerisch mit einem Triple A bewertet werden konnten. Durch die Zwischenschaltung der halbstaatlichen Banken »Fannie Mae« und »Freddie Mac« entstand zudem der Eindruck, die amerikanische Regierung habe die Papiere geprüft und für gut befunden. Diese Wertpapiere wurden anschließend, unter Mithilfe amerikanischer Investmentbanken, international vermarktet. Zu den Käufern gehörten auch viele deutsche Banken, vor allem die Landesbanken.
Branchenkenner hatten schon vor dem Platzen der Blase auf eine Überbewertung der Immobilien und die Gefahr einer Blasenbildung hingewiesen. Auf den Absatz der MBS-Papiere hatte dies aber keinen Einfluss, weil sich die institutionellen Anleger wegen des allgemein niedrigen Zinsniveaus in einem »Anlagenotstand« befanden. Die Papiere versprachen eine höhere Rendite als andere Anlagemöglichkeiten und waren zudem...