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Die Mechanismen der Skandalisierung

Warum man den Medien gerade dann nicht vertrauen kann, wenn es darauf ankommt

AutorHans Mathias Kepplinger
VerlagLau-Verlag & Handel KG
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl244 Seiten
ISBN9783957681980
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Was unterscheidet einen Skandal von einem Missstand und warum gibt es die größten Skandale in Ländern mit den geringsten Missständen? Wie werden kleine Missstände zu großen Skandalen und warum gehen ­einige Skandalisierte öffentlich unter, während andere sich erfolgreich ­behaupten? Warum betrachten sich alle Skandalisierten auch dann als Opfer, wenn sie ­zugeben, was man ihnen vorwirft? Woran erkennt man, ob Skandale nützlich oder schädlich sind? Und ganz zentral: Worauf ­beruht in Skandalen die Macht der Medien und wie gehen sie damit um? Antworten liefern repräsentative Analysen von mehreren tausend Skandal­berichten in Presse, Hörfunk und Fernsehen sowie ­systematische Befragungen von weit über eintausend Journalisten, Politikern, Juristen, ­Managern und Vertretern von Interessengruppen. Ihr Ergebnis ist eine empirisch fundierte Skandaltheorie. Sie bildet die Grundlage von ­anschaulichen Fallstudien zur Skandalisierung von prominenten Personen, darunter Bundespräsident Christian Wulff und Bischof Franz-Peter ­Tebartz-van Elst; bedeutenden Unternehmen, darunter VW und Shell; wichtigen ­Technologien, darunter die Kernenergie und Dieselmotoren ­sowie erfolgreichen Produkten, darunter das G36 und Glyphosat.

Hans Mathias Kepplinger hat in Mainz, München und Berlin Politikwissenschaft, Publizistik und Geschichte studiert, 1970 in Mainz promoviert und war anschließend wissenschaftlicher Assistent von Elisabeth Noelle-Neumann. Von seiner Habilitation (1977) bis zu seiner Berufung auf den neuen Lehrstuhl für Empirische Kommunikationsforschung an der Universität Mainz (1982) war er Heisenberg Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Kepplinger war als Gastwissenschaftler an zahlreichen Universitäten tätig, darunter der UC Berkeley, der Harvard University, der Université de Tunis und der Universität Zürich. Er hat über 300 wissenschaftliche Aufsätze und 30 Bücher veröffentlicht und zeichnet als Mitherausgeber der zwölfbändigen 'International Encyclopedia of Communication' verantwortlich für den Bereich Medienwirkungen. Gegenstände von Kepplingers Studien sind vor allem die politische Bedeutung der Massenmedien, die Wirkung des Fernsehens, die Kommunikation in Krisen, Konflikten und Skandalen sowie die reziproken Effekte der Medien - ihr direkter Einfluss auf Entscheider in Politik, Wirtschaft und Justiz, über die sie berichten.

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Leseprobe

1. Momente der Gewissheit


Im Skandal kommt die Wahrheit ans Tageslicht – 1985 die Verseuchung von Birkel-Nudeln durch verdorbenes Flüssigei; 1987 die üblen Machenschaften des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel gegen den ahnungslosen Björn Engholm; 1988 die reaktionäre Rede von Bundestagspräsident Philipp Jenninger über das Dritte Reich; 1991 die Ölpest im Persischen Golf als Folge des Golfkrieges und die Flugreisen von Ministerpräsident Lothar Späth auf Kosten der Industrie; 1993 die kaltblütige Erschießung von Wolfgang Grams auf dem Bahnhof in Bad Kleinen und die Gefährdung der Bevölkerung durch einen Chemieunfall bei der Hoechst AG; 1995 die ökologische Bedrohung der Nordsee durch die geplante Versenkung der Brent Spar; 1999 die geheimen Konten der CDU und der Verfassungsbruch Helmut Kohls durch die nichtdeklarierte Annahme von anonymen Spenden; 2000 die Vernichtung von Daten im Bundeskanzleramt vor dem Regierungswechsel, der Kokainkonsum von Christoph Daum und die BSE-Gefahr durch in Deutschland geborene Rinder; 2001 der Tod von Patienten nach der Einnahme von Lipobay.

Im Wahljahr 2002 ging es um die private Nutzung von Bonusmeilen durch Cem Özdemir und Gregor Gysi, die Bezahlung einer Boutiquenrechnung von Rudolf Scharping durch die PR-Agentur Hunzinger, eine Privatreise der Hanauer Oberbürgermeisterin Margret Härtel auf Kosten der Stadt, die Gefährdung der Verbraucher durch Nitrofen belastetes Futtergetreide; 2003 um die dunklen Finanzquellen von Jürgen W. Möllemann, die »Opfervolk«-Rede des CDU-Abgeordneten Martin Hohmann, die Kokainorgien des Fernsehjournalisten Michel Friedman und die Lungenseuche SARS; 2004 um die Silvesterfeier der Familie von Bundesbankpräsident Ernst Welteke auf Kosten der Dresdner Bank, den Autobahnraser Rolf F. wegen des Todes einer jungen Mutter und ihres Kindes, den Ausbruch der Vogelgrippe und die tödlichen Nebenwirkungen des Rheumamittels Vioxx.

2005 wurden der massenhafte Missbrauch der neuen Visa-Regelung von Ludger Volmer und Joschka Fischer skandalisiert, die Lustreisen von VW-Betriebsräten auf Kosten des Unternehmens, die Berufung von Altkanzler Gerhard Schröder in den Aufsichtsrat eines russischen Unternehmens. 2006 wurden der Tod von 15 Menschen durch den Einsturz des Dachs der Eissporthalle in Bad Reichenhall, die Bespitzelung von Journalisten durch den BND und die Mitgliedschaft von Günter Grass in der Waffen-SS skandalisiert; 2007 der Brand eines Transformators im AKW Krümmel, die Schwangerschaft der Geliebten von Minister Horst Seehofer, die Behauptung von Günther Oettinger, Hans Filbingers Urteile als Marinerichter hätten niemanden das Leben gekostet sowie das Bedauern der Fernsehjournalistin Eva Herman über die Beseitigung des nationalsozialistischen Mutterbildes durch die 68er-Bewegung.

2008 ging es um den Verdacht der Steuerhinterziehung von Klaus Zumwinkel und seine Verhaftung vor laufenden Kameras, das illegale Ausspionieren von Mitarbeitern der Telekom und von Lidl; 2009 um das Filtern von E-Mails der Mitarbeiter der Deutschen Bahn, die private Nutzung des Dienstwagens von Ministerin Ulla Schmidt und die Gefahr einer Pandemie durch die Schweinegrippe; 2010 um den sexuellen Missbrauch von Schülern durch Lehrer der Odenwaldschule, die Ohrfeigen von Bischof Walter Mixa während seiner Tätigkeit als Stadtpfarrer, den Tod von 21 Menschen bei der Loveparade in Duisburg, die Anzeige des Wettermoderators Jörg Kachelmann wegen Vergewaltigung, die Äußerung von Bundespräsident Horst Köhler über den Einsatz militärischer Mittel zur Sicherung von Arbeitsplätzen, die Plagiate in der Dissertation von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, den Ehec-Tod von 53 Menschen, die geplante Tieferlegung des Stuttgarter Bahnhofs (Stuttgart 21) und dioxinbelastetes Hühnerfutter.

2011 wurden in Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe bei Fukushima die deutschen Kernkraftwerke skandalisiert, der angebliche Augenzeugenbericht von René Pfister über eine Szene im Haus von Horst Seehofer, das Verhältnis des CSU-Vorsitzenden in Schleswig-Holstein, Christian von Boetticher, mit einer damals 16-Jährigen, die Lustreisen von Mitarbeitern der Hamburg-Mannheimer und Wüstenrot nach Budapest und Rio de Janeiro, die Finanzierung des Einfamilienhauses und die Schnäppchenmentalität von Bundespräsident Christian Wulff. 2012 wurde die Schleichwerbung in »Wetten dass..?« skandalisiert, der mehrjährige Zwangsaufenthalt Gustl Mollaths in einer psychiatrischen Anstalt, die unzureichenden Zitierweisen von Annette Schavan in ihrer Dissertation und die Vortragshonorare des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück; 2013 eine anzügliche Bemerkung des FDP-Politikers Rainer Brüderle gegenüber der Journalistin Laura Himmelreich, der Pädophilie-Verdacht gegen Daniel Cohn-Bendit, die Steuerhinterziehung von Uli Hoeneß, die Luxusrenovierung des Bischofssitzes von Franz-Peter Tebartz-van Elst, die Beschäftigung der Verwandten von CSU-Abgeordneten im Landtag und die Entscheidung von Susanne Gaschke zu einem kostspieligen Vergleich mit einem Steuerschuldner.

2014 ging es um die Manipulation des ADAC bei der Kür des »Lieblingsautos der Deutschen«, Wolfgang Schäubles Vergleich der drohenden Besetzung der Ost-Ukraine mit dem Anschluss des Sudetenlandes durch Hitlerdeutschland, Innenminister Hans-Peter Friedrichs Information an Sigmar Gabriel über Ermittlungen gegen Sebastian Edathy, die Manipulation von Bestenlisten durch ARD und ZDF, Edathys Kauf der Nacktfotos von Kindern, den Crystal Meth-Konsum des SPD-Abgeordneten Michael Hartmann, Sibylle Lewitscharoffs Vergleich der künstlichen Befruchtung von Leihmüttern mit der Praxis in »Kopulationsheimen« der Nazis, den Handel von Hubert Haderthauer und seiner Frau mit Modellautos aus der Fertigung eines Psychiatrie-Insassen, die islam- und fremdenfeindlichen Pegida-Demonstrationen sowie um den tödlichen Angriff des »Killers« und »Komaschlägers« Sanel M. auf Tugce Albayrak. 2015 wurden die Zusammenarbeit von BND und NSA skandalisiert, die Treffsicherheit des Sturmgewehrs G36 bei Dauerfeuer, das krebsgefährdende Pestizid Glyphosat, die geringen Zahlungen an die Hinterbliebenen der Germanwings-Katastrophe, die Identifikation einer Medienquelle im Bundeskanzleramt, der Vorschlag Wolfgang Schäubles zu einem »Grexit auf Zeit«, die Einschüchterung von Journalisten durch Ermittlungen gegen Netzpolitik.org, die Schwarzgeldzahlungen vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, die katholische Kita in Mainz-Weisenau wegen Quälereien von Kita-Kindern durch Kita-Kinder, die Nominierung von Xavier Naidoo für den Eurovision Song Contest wegen seiner politische Meinung, der Verzehr von Wurst weil sie laut WHO das Krebsrisiko um 18 Prozent erhöht, der Schriftsteller Akif Prinçci wegen seines Bedauerns über die Schließung der KZ bei einer Pegida-Kundgebung und die Manipulation von Abgasmessungen von VW mit Hilfe eines Computerprogramms. 2016 begann mit der Skandalisierung der sexuellen Belästigungen von Frauen durch Migranten in der Kölner Silvesternacht. Es folgten die Skandalisierungen Franz Beckenbauers wegen einer verschleierten Zahlung von 6,7 Millionen Euro vor der Fußball WM in Deutschland und des innen- und religionspolitischen Sprechers der Grünen, Volker Beck, wegen eines Drogenfundes, der Existenz von 214.000 geheimen Briefkastenfirmen in Panama und der satirischen Schmähkritik des Türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan von Jan Böhmermann.

Im Skandal werden die Schuldigen bestraft. Der Absatz von Birkel-Nudeln brach ein, ca. 500 Mitarbeiter mussten entlassen werden, Jenninger und Späth mussten von ihren Ämtern zurücktreten. Barschel wurde abgewählt und starb unter ungeklärten Umständen in einem Genfer Hotel. Innenminister Seiters trat nach dem Einsatz der GSG 9 in Bad Kleinen zurück, Generalbundesanwalt von Stahl wurde entlassen. Die Hoechst AG musste Schadensersatz in Millionenhöhe leisten und litt noch Jahre später unter dem Imageverlust. Die Brent Spar wurde nicht versenkt. Shell ließ sie nach Norwegen schleppen und musste die erhöhten Kosten für die Abwrackung an Land tragen. Kohl legte den Ehrenvorsitz der CDU nieder, die gesamte Führung der CDU wurde abgelöst, die Partei verlor zwei sicher geglaubte Landtagswahlen. Daum wurde nicht Trainer der Nationalmannschaft und musste seinen Trainerposten bei Bayer Leverkusen aufgeben. Özdemir legte sein Bundestagsmandat nieder, Gysi trat als Berliner Wirtschaftssenator zurück. Hohmann wurde aus der CDU/CSU-Fraktion und der hessischen CDU ausgeschlossen. Scharping wurde als Verteidigungsminister entlassen. Härtel wurde von der Hanauer Bürgerschaft abgewählt. Friedman musste seine Fernsehsendungen abgeben und verzichtete auf das Amt des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Bundesbankpräsident Welteke trat zurück. Wegen der nitrofenbelasteten Futtermittel wurden 500 landwirtschaftliche Betriebe gesperrt. Wegen des Lipobay-Skandals stürzte der Kurs der Bayer-Aktien von fast 40 auf 10 Euro. Zudem musste das Unternehmen mehr als 200 Millionen Euro Schadensersatz leisten. Möllemann sprang in den Tod, während über 100 Beamte...

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