Der Verleger
Oscar Cantú
Irgendwann ist einfach mal genug. Das mag sich Oscar Cantú 36 gedacht haben, als er auf der Beerdigung der Journalistin Miroslava Breach deren Tochter ins Gesicht schaute. Tränenüberströmt waren sie zu dem Zeitpunkt beide, er mehr als sie. »Jedenfalls war mir in diesem Moment klar: Wir machen dicht.« Wir, das ist die Tageszeitung El Norte in der nordmexikanischen Stadt Ciudad Juárez, deren Gründer und Verleger Cantú war. Und nachdem seine Politikjournalistin am 22. März 2017 vor ihrem Haus auf offener Straße erschossen worden war, als sie ihren Sohn zur Schule bringen wollte – da war für Oscar Cantú die Stunde gekommen, dem kritischen Journalismus in Juárez adiós zu sagen.
Leichtgefallen ist ihm das nicht. Wie auch: El Norte war sein Baby. Eine der wenigen Stimmen im Norden Mexikos, die es mit investigativem Journalismus ernst meinte, die über die verbreitete Korruption berichtete, über Drogenkartelle und deren Aktivitäten entlang der Grenze, die sich aber auch mit den Regierenden anlegte und deren oft zwielichtige Machenschaften anprangerte. »Um genau solche Missstände zu kritisieren, bin ich ja ins Zeitungsgeschäft eingestiegen.«
Der Einstieg, das war vor rund 40 Jahren. Die Vorgeschichte zu seinem Verlegertum, die Oscar Cantú mir an einem Wintersonntag in seinem leeren Verlagshaus im Osten von Ciudad Juárez berichtet, hört sich wie ein überdrehter mexikanischer Krimi an. Cantús Vater hatte damals große Ländereien im nördlichen Bundesstaat Chihuahua gekauft. Doch der damalige Gouverneur wollte das Land für sich – oder zumindest einen großen Teil davon. Cantú senior schickte seinen Sohn Oscar zu Verhandlungen in die Provinzhauptstadt Chihuahua. Oscar wollte hart bleiben – logisch. Dann aber kam ein Anruf vom Vater: Unterzeichne die Abtretungsunterlagen sofort. 1500 der insgesamt 2000 Hektar, ohne nennenswerte Entschädigung. Oscar unterschrieb, widerwillig und irritiert. Frustriert fuhr der junge Mann nach Hause nach Juárez zurück. Und erfuhr dort, weshalb der Vater plötzlich weite Teile seines Besitzes abgab: Der Gouverneur hatte seinen Vater zu sich gerufen und signalisiert: Sieh zu, dass dein Sohn drüben in Chihuahua unterschreibt. Sonst ist er tot.
Wahrlich, eine empörende Geschichte. Und eine, die den jungen Oscar, der damals als Rechtsanwalt arbeitete und außerdem im Bauwesen engagiert war, ins Mediengeschäft trieb. »Juárez braucht eine öffentliche Stimme, dachte ich damals.« Also gründete er zunächst gemeinsam mit dem damals jungen Besitzer der Zeitung El Universal aus Mexiko-Stadt, Juan Francisco Ealy Ortiz, einen nördlichen Ableger der Hauptstadtpostille. Und weil Ealy Ortiz ihm zu regierungsnah berichten wollte, machte Oscar Cantú im Jahr 1990 schließlich seine eigene Zeitung auf – El Norte eben.
Er wollte das Blatt machen als Schritt im Kampf gegen die Willkür. Klingt heroisch. Und das ist es in Mexiko auch. Immer wieder war seine Zeitung in den vergangenen Jahren attackiert worden. Cantú beweist das, indem er durch die Ausgaben der eigenen Zeitung blättert, die die Attacken dokumentiert haben. Seine Reporter hat man verprügelt, das Verlagsgebäude im Osten von Juárez wurde beschossen. »Schau hier, die Einschusslöcher.« Er zeigt sie mir bei einer Tour durchs Gebäude (siehe Bild hinten im Buch).
Freunde aufseiten der Kartelle hat El Norte sich durch ihren kritischen Journalismus nicht gemacht. Wobei – natürlich musste sich auch Oscar Cantú mit deren Macht auseinandersetzen. »Selbstverständlich musst du als Verleger mit diesen Leuten sprechen.« Das ist etwas, was aus europäischer Sicht schwer zu verstehen ist: Die Kartelle sind Teil der Lebenswirklichkeit in Mexiko. Ihren Einfluss einfach zu ignorieren wäre naiv – für jeden Unternehmer, aber gerade auch für einen Verleger.
Das Problem: Oscar Cantú und seine Leute dachten eigentlich, einen Modus Vivendi mit den Kartellen gefunden zu haben. El Norte berichtete über Kartellkriminalität, »aber unser Job war es nicht, den einzelnen Kartellbossen hinterherzuschnüffeln. Wir haben nicht die Rolle der Polizei übernommen, konkrete Täter zu jagen.« Eine Position, die, so dachte Cantú damals, reichen sollte, damit Reporter nicht erschossen werden. Doch Sicherheit ist in Mexiko immer nur vorläufig. Das haben die Kugeln auf Miroslava Breach gezeigt.
Kartellmitglieder hat auch sie nicht mit Namen genannt. Mit gewählten Politikern hingegen ging El Norte auch unter Namensnennung immer wieder hart ins Gericht. Miroslava Breach tat das in Form einer politischen Kolumne. In ihrer letzten Recherche ging es um Verquickungen zwischen organisierter Kriminalität und Politik in ihrer Heimatstadt Chínipas. Dort regieren die Drogenbosse, »die Regierung hat diese Region momentan nicht unter Kontrolle«. Und in dieser Gemengelage ist Breach wohl »einen Schritt zu weit gegangen«, sagt Cantú, auch jetzt wieder sichtlich bewegt.
Es ist offensichtlich: Der Mann fragt sich immer noch, was er hätte anders machen können. »Miroslava war wohl schon vorher bedroht worden. Das wusste ich aber nicht.« Vielleicht ist es auch dieses Gefühl von Ohnmacht, das ihn bewogen hat, den Stecker der Druckerpresse zu ziehen.
Die Entscheidung, El Norte zu stoppen, geht Cantú immer noch nah. Er sieht sich als mexikanischer Patriot. Publizieren war für ihn Bürgerpflicht. Während er mit mir in seinem kugelsicheren Jeep durch Juárez fährt, ärgert ihn jeder leere Laden, jede der vielen Bauruinen. Während er durch die alten Ausgaben von El Norte blättert, regt er sich wieder über die Missstände der Stadt auf. Über eine Stadtplanung, die ihre eigenen Regeln verletzt. Über korrupte Bierindustrielle. »Dagegen muss man doch was tun.«
Das tut er auch künftig weiterhin. »Meine besten Journalisten arbeiten weiter für mich.« Zum einen publiziert Cantús Frau selber auch Medien, indes eher harmlose Lifestyle-Magazine, etwa das Veranstaltungsblatt Weekend. Aber Cantú will auch weiter in kritische Recherche investieren. Seine Ansage an die Offiziellen der Stadtverwaltung in Juárez: Wenn die Mörder der Journalistin Miroslava Breach gefasst werden, macht er El Norte vielleicht wieder auf.
Außerdem hat er noch eine andere Idee: Cantú hat eine Art Stiftung zur Förderung des Gemeinwohls gegründet. »Das soll so etwas wie eine Handelskammer sein, nur für Menschen, nicht für Unternehmen.« Von wohlhabenden Bürgen der Stadt unterstützt, soll diese neue Organisation Missstände recherchieren, aber auch selbst zum politischen Akteur werden und zum Beispiel, wo sinnvoll, Gerichtsverfahren initiieren. »Ich habe mir die American Civil Liberties Union angeschaut, habe mich mit der Online-Plattform Change.org befasst, auch mit der öffentlichen Presse in den USA. Das alles bringe ich in der Stiftung zusammen.« Eine Lobby für das Bürgertum – mit Journalismus und Aktivitäten von Sozialwissenschaftlern im Zentrum, aber auch gestärkt durch eine eigene Rechtsabteilung. Ein schöner Gedanke – wenn die Sponsoren denn wirklich kommen. In Form von Anzeigen in El Norte hatten sie ihre bürgerschaftliche Verantwortung nämlich zuvor nicht übernommen.
Denn, auch das ist Teil der komplexen Geschichte um El Norte: Finanziell war es alles andere als rosig bestellt um das Medium. Die Auflage – 35 000 am Wochenende, 17 000 Montag bis Freitag – wurde frei vertrieben. Finanzierung also über Anzeigen. Die kamen auch, aber nicht gerade üppig.
Außerdem: Wie jede Zeitung war auch El Norte immer auf Anzeigenschaltungen durch die Regierung angewiesen. »Und wir als kritische Stimme haben weniger bekommen als die willfährige Konkurrenz.« Cantú zeigt mir eine Auflistung: Danach hatte der Hauptwettbewerber El Nuevo Herald in den vergangenen sechs Jahren gut 30 Millionen Dollar erhalten, El Norte gut sieben Millionen. Publizistisches Wohlverhalten zahlt sich aus.
Kritischer Journalismus offenbar nicht. Cantú ist sichtlich desillusioniert. »Wir haben viel riskiert«, sagt er, während er aus dem Fenster auf die volle Kirche gegenüber blickt. »Aber gedankt haben die Menschen es uns nicht wirklich. Das ist schon bitter.« Die Schließung der Zeitung sollte insofern auch ein Zeichen sein. »Die Menschen müssen lernen, wie wichtig unabhängiger Journalismus ist.« Vielleicht kann hier das neue Stiftungsmodell ja wirklich helfen. »Ich merke jedenfalls, dass sich manche Geldgeber mit der neuen Form leichter tun als mit einer klassischen Zeitung.« Zu hoffen wäre es.
Übrigens auch im Sinne der literarischen Produktivität rund um das Thema Grenze und Ciudad Juárez. Um die hatte sich zuletzt ja unter anderem der erwähnte Autor Don Winslow verdient gemacht. In seinem zweiten realitätsnahen Drogenroman The Cartel geht er detailliert auf die Drogenkriege um das Jahr 2010 in Juárez ein. Darin beschreibt er auch, wie Journalisten einer Tageszeitung ermordet werden. Deren Chefredakteur Herrera heißt mit Vornamen – Oscar. Man wagt sich wohl nicht allzu weit vor, um in der Figur aus Winslows Schlüsselroman über den Drogenboss Adan Barrera (alias »El Chapo« Guzman) Oscar Cantú zu erkennen. »Ja, klingt nach mir«, sagt er selbst, auf The Cartel angesprochen.
Don Winslow kannte er bisher noch nicht. »Aber es ist ja schön, wenn unsere Arbeit auch jenseits der Grenze gesehen wird.« Wobei – über zu wenig Aufmerksamkeit kann sich Cantú nach der Schließung von El Norte ohnehin nicht beklagen....