GRUNDSÄTZLICHES ZUM THEMA ANGST
Angst ist nicht gleich Angst.
So unterschiedlich die Angst auch erlebt werden mag, sie ist allgegenwärtig. Ein Leben ohne Angst gibt es nicht. Jede und jeder weiß, was Angst ist.
Sucht man im Internet nach dem Stichwort »Angst«, erhält man über 10 Millionen Links zu diesem Thema. Angst gehört nun mal zum Leben. Sie ist so präsent wie das Atmen, Essen oder Schlafen.
Viele Menschen leiden nur unter ihren Ängsten. Manche sind durch sie regelrecht blockiert in ihrer Lebensfreude und in ihrer Entscheidungsfreiheit. Je nach Situation und je nach Typus sind sehr verschiedene Lebensbereiche von Angst überschattet:
Angst vor der Zukunft, vor Fremdem oder Veränderung kann Gedanken genauso binden wie Angst an die Erinnerung vergangener Geschehnisse. Angst vor Verletzung, vor Versagen oder Enttäuschungen kann Entscheidungen verhindern. Angst vor Gewalt und Krieg, vor finanziellen Abstürzen oder vor Naturkatastrophen kann den normalen Alltag belasten.
Persönliche Befürchtungen können uns stundenlang, tagelang und erst recht nächtelang beschäftigen: Angst vor Krankheit oder vor einem Unfall, vor Verlassenwerden, Angst im Blick auf Kinder oder Enkel, Angst vor Streit, vor Arbeitslosigkeit, vor der nächsten Begegnung mit einem schwierigen Menschen.
Die Auslöser der Angst verändern sich im Lauf des Lebens.
Kinder haben oft Angst vor dem Monster unter dem Bett oder vor dem dunklen Keller. Dafür sind sie aber in tatsächlichen Gefahrensituationen oft sehr leichtsinnig. Eltern oder Großeltern reagieren darum manchmal überängstlich, wo auch Mut und Wagnis angesagt sein könnte.
Erwachsene haben oft Angst vor Versagen, Überforderung, vor Blamage und Scheitern.
Das Älterwerden bringt wieder neue Befürchtungen mit sich: Angst vor Krankheit, vor Hilflosigkeit oder davor, anderen zur Last zu fallen, Angst vor Abhängigkeit, vor Verlusten oder dem Abschied, Angst vor dem Sterben, vor Versagen, vor Sinnlosigkeit, vor dem Tod.
Das Zeitalter des Internets, der digitalen Kommunikation und Information bringt vielerlei Möglichkeiten (Optionen) mit sich. Darum spricht man auch von der Multioptionsgesellschaft. In der Überfülle des Angebots haben heute viele Menschen Angst vor zu schnellen Entscheidungen. Das Internet bietet unzählige Möglichkeiten zur Gestaltung des Lebens, beim Suchen des richtigen Artikels, beim Buchen des Urlaubs oder beim Kauf eines Autos oder Hauses.
Es verführt uns dazu, immer noch weiter zu suchen, alle Möglichkeiten auszureizen, um das Optimum zu finden. Deswegen haben viele Angst, sich zu früh zu entscheiden und damit festzulegen. Denn wenn ich mich für etwas, zum Beispiel für einen Urlaub oder ein Auto entschieden habe, habe ich mich doch gleichzeitig gegen so und so viele Hundert andere Optionen entschieden. Das betrifft auch die Partnerwahl. Viele finden heute ihren Partner im Internet – die Sorge kann dann aber sein: Wenn ich mich für die Frau oder den Mann entschieden habe, habe ich dann wirklich das Optimum gefunden oder muss ich immer weiter suchen? Das führt zur sogenannten »Versäumnisangst«, also der Angst, etwas noch Besseres versäumt oder zu schnell entschieden und das Optimum doch nicht gefunden zu haben. Heinz Bude schreibt in seinem Buch »Die Gesellschaft der Angst«5: »Ohne Bindung kommt das Ich anscheinend nicht aus. Aber Bindung macht Angst.«6
Er beschreibt die grundlegende Verunsicherung heutiger Menschen, der die Sehnsucht nach Sicherheit, nach gelingenden Beziehungen und Beständigkeit gegenübersteht. Manche Angst kommt seiner Einschätzung nach daher, dass »alles offen, aber nichts ohne Bedeutung ist«7. Unsere Multioptionsgesellschaft vermittelt uns widersprüchliche Botschaften: »Optionen wahren, in Szenarien denken und ›günstige Gelegenheiten‹ ergreifen. Man sollte sich vor Selbstüberschätzung hüten und zugleich Entscheidungsschwäche überwinden.«8
Die grundlegende Verunsicherung, die heute viele Menschen empfinden, hängt mit den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zusammen. Die Multioptionalität verlangt von uns immer mehr Flexibilität und Toleranz für die Widersprüchlichkeit von Lebensentwürfen, Meinungen und Stilfragen. Viele befürchten die Auflösung bisheriger Werte. Was früher über viele Jahre Gültigkeit hatte und damit ein Gefühl von Kontinuität und Stabilität vermittelt hat, verliert im Empfinden vieler Menschen seine Gültigkeit.
Vieles im Leben kann Angst machen, Veränderung der äußeren Rahmenbedingungen, erschreckende Erlebnisse, traumatische Einschnitte. Angst hängt in einer tieferen Schicht auch damit zusammen, welchem Grundtypus wir angehören. Fritz Riemann hat dazu das Buch »Grundformen der Angst«9 geschrieben. Christoph Thomann10 hat diesen Ansatz aufgenommen, überarbeitet und auch die Definitionen und Beschreibungen etwas positiver formuliert: Nähe- oder Distanztyp und Dauer- oder Wechseltyp – so beschreibt er die vier Grundpersönlichkeiten und die damit verbundenen Grundängste. Der Typus, zu dem wir gehören, bringt immer auch bestimmte Orientierungen, Verhaltensmuster und Ängste mit sich. Der Nähe-Typus hat Angst vor Einsamkeit und Distanz, der Distanz-Typ Angst vor Nähe. Der Dauer-Typ hat Angst vor Wechsel und Veränderung, der Wechseltyp Angst vor Dauerhaftigkeit, Festlegungen und Enge. Es kann hilfreich sein, sich dies genauer anzuschauen und sich selber dadurch ein Stück weit besser zu verstehen und die hilfreichen Botschaften hinter den Ängsten zu erkennen (siehe S. 52–56).
Zu den normalen Alltagsängsten gehört das Erschrecken vor lauten Geräuschen oder plötzlichen optischen Reizen: Der Sturzflug eines Vogels oder ein Schatten, der aus dem Nichts auftaucht, kann genauso erschrecken wie ein Auto- oder Fahrradfahrer, der zu schnell daherkommt. Solche Ängste sind immer angemessene Reaktionen auf eine tatsächliche Gefahr.
Zu den normalen Alltagsängsten gehört auch die Angst vor Fremdem, Neuem und Unvertrautem.
Wir sehen solche Prozesse häufig dort, wo sich Fremde, Ausländer, Migranten, Flüchtlinge ansiedeln. Häufig fühlen sich die Nachbarn dann verunsichert, bedroht und reagieren entsprechend feindselig. In der Fachsprache nennt man das Xenophobie (Angst vor Fremdem).
Angst vor dem Fremden zeigt sich auch dann, wenn Menschen eine neue Stelle antreten, neue Kollegen oder neue Abläufe kennenlernen müssen oder wenn die technischen Entwicklungen die vertrauten Abläufe und Verhaltensmuster stören. Als die Eisenbahn erfunden wurde, reagierten die Menschen mit Angstszenarien und Horrorfantasien: »Die Kühe auf der Weide werden keine Milch mehr geben, wenn die dampfende Lokomotive an ihnen vorbeifahren wird.« – »Wer mit so hohen Geschwindigkeiten fahren muss, wird einen Herzschlag erleiden.« Nichts davon ist eingetreten, aber viele haben sich gerne diesen Horrorszenarien angeschlossen und sich in den Ängsten festgebissen.
Wer es damals gewagt hat, sich in eine Eisenbahn zu setzen und lebend wieder ausgestiegen ist, hat erfahren: Es hat sich gelohnt, etwas zu wagen, sich etwas zu trauen und sich Unvertrautes zu Vertrautem zu machen, also Vertrauen in die neue Technik zu setzen.
Als in Stuttgart der Fernsehturm gebaut wurde, gab es riesige Proteste: »Der Turm wird umstürzen und viele Tote verursachen.« Die Stadt Stuttgart zögerte die Verhandlungen immer weiter hinaus, bis schließlich der Verwaltungsrat des SDR beschloss, den Turm aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Heute ist er das beliebteste Wahrzeichen Stuttgarts – und er steht noch immer.
Die Angst vor Fremdem oder Störendem hat ihren Ursprung unter anderem darin, dass wir Menschen in ganz vielen Handlungsabläufen oder Entscheidungen auf automatisierte Handlungen und damit auf vertraute Abläufe zurückgreifen. Wie wir essen, trinken, Auto fahren, gehen oder uns waschen, geschieht nicht bewusst, sondern ist so gelernt, dass wir unbewusst, automatisiert handeln. Das alltägliche Leben basiert auf ganz vielen solchen mehr oder weniger mechanisch ablaufenden vertrauten Handlungsabfolgen. Sobald etwas Neues in unser Leben eintritt, werden diese vertrauten Abläufe gestört. »Wir geraten aus dem Konzept«, sagen wir.
Alles Neue kann eben auch ein Durcheinander anrichten. Alles, was wir nicht kennen, verunsichert uns zunächst. Denn es verlangt eine erhöhte Konzentration und mehr Anstrengung als das Vertraute. Darum wirkt es auf uns zunächst eher unangenehm oder bedrohlich oder macht sogar Angst:
Das dauert mir zu lange. Ich verstehe es nicht. Es verunsichert mich.
Im Hintergrund tauchen dann vielleicht auch Fragen auf:
• Wie funktioniert das Leben oder dieser Ablauf jetzt?
• Was muss ich jetzt tun, um angemessen zu reagieren?
• Werde ich dem gewachsen sein?
• Was kommt auf mich zu?
• Wie gehe ich mit dieser Herausforderung um?
• Kann ich das?
• Werde ich mich...