2 Diagnostische Einteilung von Angststörungen
Andrea Dlugos, Peter Zwanzger
2.1 Einleitung
Angst zählt als sogenannte Basisemotion zu den Primäraffekten und ist als solche bereits zu Beginn der ontogenetischen Entwicklung vorhanden (Cyrulnik et al. 1998). Als biosoziales Signal trägt Angst zu einer risikobewussten Auseinandersetzung mit der Umwelt bei, und spielt darüber hinaus eine Rolle für die Modulation zwischenmenschlicher Beziehungen. Angst ist die Reaktion des Organismus auf eine tatsächliche oder auch vermeintliche Bedrohung durch eine spezifische Gefahr. Der differenzierte Umgang mit inneren und äußeren Gefahren wird dabei durch eine Vielzahl von Lernprozessen determiniert. Die individuelle Bewertung der jeweiligen, als gefährlich erlebten Situation beeinflusst das Ausmaß des tolerierten Angstgrads und prägt Verhaltensstile, die auf Herstellung von Sicherheit sowie Aktivierung von Schutzsystemen abzielen. Hierdurch stärkt Angst als normalpsychologisches Phänomen somatische und psychische Abwehrfunktionen und ist als adaptives, präattentives Alarmsystem evolutionsbiologisch wichtig für das Überleben (Hofer 1995). Von pathologischer Angst spricht man, wenn Angst – gemessen an der Auslösesituation – zu intensiv auftritt bzw. keine objektivierbare Gefahrensituation besteht.
Als einzelnes Symptom ist Angst zunächst nosologisch unspezifisch und kann integrales Symptom fast jeder psychischen Erkrankung sein. Neben anderen Symptomen findet sich Angst insbesondere bei Depressionen und Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, bei organisch psychischen Störungen, bei Suchterkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen.
Bei der eigentlichen Angststörung ist Angst als zentrales und führendes Symptom repräsentiert und dabei durch ein überhöhtes, der Situation nicht angemessenes Ausmaß charakterisiert. Eine real existierende Gefahr ist dabei in der Regel nicht erkennbar. Symptomatisch betrifft Angst den gesamten Organismus und manifestiert sich sowohl auf psychischer als auch auf somatischer Ebene (Abb. 2.1).
Die subjektive Wahrnehmung von Angst ist vor allem durch ein unangenehmes Gefühl von Bedrohung und Besorgnis charakterisiert. Während auf psychischer Ebene vorwiegend kognitive Momente eine wichtige Rolle spielen, sind auf somatischer Ebene im Wesentlichen Aspekte motorischer Anspannung und anderer psychovegetativer Funktionen bedeutsam. Begrifflich unterschieden wird zwischen dem Gefühl allgemeiner Angst (»frei flottierend«), deren Inhalt in der Regel unfokussiert ist und deren Auslöser meist nicht oder nicht direkt benannt werden kann, und der objektspezifischen bzw. konkreten Furcht, die meist akut und situationsbezogen eintritt (Essau 2003; Stein 2005).
Abb. 2.1: Psychische und somatische Symptome der Angst
Angststörungen zählen mit einer Gesamtlebenszeitprävalenz von 25–30 % zu den häufigsten psychischen Erkrankungen (Kessler et al. 2005). Allerdings bleiben Angststörungen immer noch vielfach unerkannt. Unbehandelt verlaufen Angststörungen häufig chronisch. Antizipatorische Angst, die sogenannte »Angst vor der Angst« oder Erwartungsangst führt im Verlauf zu Vermeidungsverhalten bis zur vollständigen Isolation. Aufgrund des sich selbst verstärkenden Charakters der Erkrankung fällt es den einzelnen Patienten schwer, selbstständig und ohne professionelle Hilfe wieder aus ihrer Situation herauszufinden (Abb. 2.2). Eine sorgfältige und gezielte Diagnostik verbunden mit einer umfassenden Aufklärung der Betroffenen und Angehörigen ist daher der entscheidende erste Schritt vor Einleitung einer differenzierten störungsspezifischen Therapie.
Abb. 2.2: Kreislauf bei Angststörungen mit selbstverstärkenden Komponenten
2.2 Diagnostik
Zentral für die Diagnosestellung ist neben einer gründlichen Anamneseerhebung unter Einbeziehung krankheitsbezogener, biografischer, persönlichkeitsbezogener und somatischer Gesichtspunkte eine differenzierte psychopathologische Befunderhebung. Zudem muss gleichzeitig eine somatische Genese der Beschwerden sorgfältig ausgeschlossen werden. Zur differentialdiagnostischen Einordnung sind dabei je nach im Vordergrund stehenden Beschwerden kardiovaskuläre, pulmonale, endokrinologische, metabolische, gastrointestinale, neurologische und immunologische Erkrankungen auszuschließen (siehe Tab. 2.1). Hierzu sind zunächst eine sorgfältige körperlich-internistische Untersuchung sowie eine klinisch-neurologische Untersuchung notwendig. Im Anschluss daran sollte eine entsprechende weiterführende Routinediagnostik vorgenommen werden (Tab. 2.2). Eine umfassende Medikamenten- und Suchtanamnese ist ebenso notwendig, um eine substanzinduzierte Symptomatik auszuschließen (Tab. 2.3).
Tab. 2.1:
Somatische Differentialdiagnosen bei Angststörungen |
Kardiovaskuläre Ursachen | Angina pectoris Arryhthmie Herzklappenfehler Hypotonie Myokardinfarkt Orthostase |
Pulmonale Ursachen | Asthma bronchiale COPD Lungenembolie Pneumothorax |
Endokrinologische Ursachen | Hyper-/Hypokalzämie Hyperkortisolismus Hyper-/Hypothyreoidismus Phäochromozytom |
Metabolische Ursachen | Hyperkaliämie Hypoglykämie Hyponatriämie Hypoxie |
Immunologische Ursachen | Anaphylaxie |
Neurologische Ursachen | Chorea Huntington Enzephalopathie Epilepsie Hirndruckerhöhung Multiple Sklerose Migräne Postkontusionelles Syndrom Schlaganfall Temporallappenepilepsie Vestibuläre Erkrankungen |
Tab. 2.2: Somatische Untersuchungen bei der Diagnostik von Angststörungen
Laborchemisch Funktional Bildgebung Konsiliarisch | Elektrolyte, Leberwerte, Retentionsparameter und Nierenwerte, Schilddrüsenparameter, Blutbild, Differentialblutbild, Gerinnungsparameter, Urinuntersuchungen Vitalzeichen, EKG, EEG, ggf. 24h-EKG und -RR CT oder MRT des Schädels Abgestimmt auf die körperlichen Symptome. Häufig: Kardiologie, Pulmologie, Neurologie, HNO |
Tab. 2.3: Ursachen substanz-induzierter Angststörungen
Medikamente | Alkohol Amphetamin Anästhetika und Analgetika Antibiotika Anticholinergika Antidepressiva Antihistaminika Antihypertensiva Bronchodilatoren Cannabis Digitalis Halluzinogene Insulin Kalziumkanalblocker Koffein Kokain Levodopa Neuroleptika Nichtsteroidale Antiphlogistika Nikotin Östrogen Schilddrüsenhormone Theophyllin |
Entzug von | Alkohol Anxiolytika Cannabis Opiaten |
Nicht selten stellt es dabei für den behandelnden Arzt eine Herausforderung dar, dem Patienten einerseits den Sinn und die Notwendigkeit somatischer Diagnostik zu vermitteln ohne ihn unnötig zu verunsichern, den Patienten aber andererseits aus seiner meist fehlgeleiteten somatischen Fixierung zu lösen.
2.3 Diagnostische Einteilung und Klassifikationssysteme
Um eine standardisierte Klassifikation und Diagnostik von Angststörungen zu ermöglichen, werden die Klassifikationssysteme DSM-IV und ICD-10 zur Störungseinteilung am häufigsten angewandt. Beide Klassifikationssysteme orientieren sich in der Darstellung der Angststörungen an einem deskriptiven Ordnungsprinzip, welches die Symptomatologie, die Manifestationshäufigkeit, den Verlauf und den Schweregrad der Erkrankungen einschließt.
In der ICD-10 sind die...