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Per Anhalter durch Südamerika

Zwei Jahre, 56.000 Kilometer, ein Kontinent

AutorMorten Hübbe, Rochssare Neromand-Soma
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl432 Seiten
ISBN9783492965927
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Eigentlich als Sprachreise nach Argentinien und Chile geplant, trampen Morten und Rochssare von den Gletschern Patagoniens bis an die karibischen Traumstrände Kolumbiens und Venezuelas. Sie treiben einen Monat mit Marktbooten den Amazonas hinunter, klettern hinab in die Silberminen Boliviens und besuchen die Mennoniten in Paraguay. Sie couchsurfen durch Studenten-WGs, teilen das Landleben der einfachen Bevölkerung und den Luxus in bewachten Wohnvierteln der Metropolen. Sie schließen Freundschaften mit LKW-Fahrern und tauchen mit Seelöwen vor Galapagos. Erst nach zwei Jahren und 246 Mitfahrgelegenheiten können sie sich von diesem fernen Kontinent lösen.

Nach dem Master in Literatur und Medien zog es Morten Hübbe (geboren 1984) gemeinsam mit seiner Freundin Rochssare Neromand-Soma 2011 für zwei Jahre nach Südamerika. Seitdem haben sich die beiden Reiseenthusiasten und -blogger ganz dem Unterwegssein verschrieben. Derzeit erkunden sie, wieder per Anhalter, Asien.

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Leseprobe

ARGENTINIEN


Buenos Aires — La Boca und die Begeisterung


Und da kommen sie: Die Mannschaften betreten den Rasen. War die Stimmung auf den Rängen bisher lediglich eindrucksvoll, so steigert sie sich nun in pure Ekstase. Die rhythmischen Fangesänge, die aus dem wogenden blau-gelben Fahnenmeer zu hören sind, wandeln sich in Sekundenbruchteilen in eine gefährlich brodelnde Brandung, die alles zu verschlingen droht.

Heute ist ein besonderes Spiel, spätestens jetzt ist es allen klar. Ein neuer Spieler steht im Aufgebot: ein talentierter Junge von gerade einmal 20 Jahren und dennoch schon ein hochdekorierter Sportler. Im letzten Jahr gewann er mit der U20 Argentiniens die Juniorenweltmeisterschaft, wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt und trägt nebenbei auch noch die Auszeichnung als bester Fußballer seines Landes und Südamerikas. Doch all das scheint ihn nicht weiter zu interessieren. Völlig ungehemmt spielt er in seinem ersten Spiel für die Boca Juniors in der »Bombonera« auf, erzielt zwei Tore und wird Jahre später als »die Hand Gottes« Weltruhm erreichen. Sein Name: Diego Armando Maradona. Für viele Argentinier der einzig wahre Fußballer auf dem Planeten.

Auch heute, mehr als 30 Jahre nach diesem denkwürdigen ersten Auftritt im Boca-Trikot, ist die Begeisterung für den Fußballer des 20. Jahrhunderts ungebrochen. Das Bild Maradonas prangt beinahe an jeder Häuserwand im Hafenviertel La Boca, der Heimstätte des Vereins. Hier im sozial schwachen Stadtteil steht nämlich die »Bombonera«, das Stadion der Boca Juniors. Gegründet als Arbeiterverein, symbolisiert der erfolgreichste argentinische Fußballklub heute das Ideal eines gelungenen Aufstiegs innerhalb der Gesellschaft, weshalb viele seiner Anhänger vor allem in der armen Bevölkerungsschicht zu finden sind. Weder der Prunk des schicken Palermos im Norden Buenos Aires’ noch der Charme des benachbarten San Telmos sind hier zu spüren. Selbst Argentinier raten davon ab, La Boca zu betreten: Überfälle seien an der Tagesordnung.

Die einzige Ausnahme bildet der »Caminito«. Im »Sträßchen«, der touristischen Hauptattraktion La Bocas, reihen sich bunte Wellblechhäuser wie die Perlen einer Halskette aneinander und vermitteln das Bild eines fröhlichen und farbenfrohen Viertels, das es so wahrscheinlich nie gegeben hat. Ängstliche Touristen werden in Reisebussen direkt hierhergefahren und trauen sich kaum einen Schritt aus der Gasse heraus. Hier grüßt Diego Maradona gleich mehrfach als Figur aus Pappmaschee von den Balkonen. Vom ersten Stock winkt er mit den anderen Nationalhelden Argentiniens: Che Guevara, Evita Duarte de Perón und Carlos Gardel. Unten verkaufen fahrende Händler Kunsthandwerk, und Europäer, die ihren Rucksack fest umklammert auf dem Bauch tragen, lassen sich in verführerischer Tangopose fotografieren.

Alles wirkt hier unauthentisch: die Kellner, die vor den unzähligen Restaurants in dieser kurzen Gasse um zahlende Kunden werben, die Tangotänzer auf den Terrassen der Gaststätten, die ihre Leidenschaft für diesen stolzen Tanz schon vor langer Zeit verloren haben und nur noch gelangweilt in die Weite starren, der Maradona-Doppelgänger, der lediglich dann freundlich lacht, wenn eine Kamera auf ihn gerichtet ist. Sie alle verdienen ihr Geld an den Touristen, die in Scharen hierhergekarrt werden, um drei Fotos zu machen und zusammen mit 500 anderen hungrigen Mäulern mittagzuessen. Dann geht es zurück in den Bus, und was bleibt, sind Lügen der Erinnerung. Weder das gestellte Tangofoto noch die Umarmung mit Maradona waren echt.

Doch La Boca ist weit mehr als eine kleine betrügerische Straße. La Boca ist Begeisterung, ist Leidenschaft, ist Identifikation – zumindest wenn es um Fußball geht. Das blau-gelbe Trikot der Boca Juniors ist die Arbeitsuniform, der Paradeanzug und wahrscheinlich auch das Nachthemd jedes einzelnen Bewohners dieses Viertels. Es macht den Anschein, als ob jeden Tag ein Heimspiel wäre, so omnipräsent sind die Farben des Vereins. Doch was passiert, wenn Boca wirklich einmal zu Hause spielt, ist fast nicht in Worte zu fassen. Von überall pilgern Tausende und Abertausende Fans in Richtung des Stadions. Wenn in einem der Stadtbusse mit 22 Sitzplätzen plötzlich 80 Boca Juniors-Fans überschwänglich ihre Lieder singen, gegen die Innenwände trommeln, sich weit aus den Fenstern lehnen, auf und ab hüpfen und so den Bus bei voller Fahrt zum Schaukeln bringen, dann passiert ganz offensichtlich etwas Besonderes – Boca spielt.

Rund um die »Bombonera« geht es etwas beschaulicher, aber nicht weniger enthusiastisch zu. An jeder Ecke finden Expertengespräche statt, und diejenigen, die es nicht bis ins Stadion geschafft haben, schauen in einer großen Traube die Liveübertragung auf einem Fernseher, den jemand zur Freude aller vor die Tür gestellt hat. Ich stelle mich einen Augenblick lang in die Menge und schaue dem Spielgeschehen zu. Boca greift an, ein Alleingang, ein Schuss – weit vorbei. Alle um mich herum stöhnen entsetzt über die vergebene Chance auf. »No es Maradona, lamentablemente« – »Leider ist er nicht Maradona«, ächzt jemand hinter mir. Der hätte den Ball nämlich reingemacht.

Sofort ist der Diego-Effekt da. Jeder hat eine eigene Geschichte zu erzählen, eine eigene Erinnerung, einen eigenen Diego-Moment. Die ehemalige Nummer 10 ist eine lebende Legende, an deren Nimbus ganz Argentinien arbeitet. So werden zehn Prozent umgangssprachlich »Diego« genannt, und der Code für Marihuana im Wert von zehn Pesos heißt – wie sollte es anders sein – »Diego«.

Der Personenkult wird auch nicht durch Drogenskandale und kolossale Misserfolge als Trainer geschwächt. Diego ist und bleibt Diego – der mit Abstand beste Fußballer der Welt. Und so wird es auch weiterhin einen Doppelgänger im Caminito geben, Touristen werden weiterhin T-Shirts, Tassen und Schlüsselanhänger mit seinem Konterfei kaufen, und irgendwann wird Diego vom Zehn-Peso-Schein lächeln. Ich glaube fest daran.

Gottes Segen und geschlossene Welten in Rosario


Mit einem klapprigen Zug verlassen wir Buenos Aires. Langsam rattern wir durch die Vororte der Megametropole, bis wir an der Endstation Zárate ankommen. Zárate ist klein, wie klein, weiß ich nicht, aber Menschen mit Rucksäcken scheinen selten zu sein. Im Bus in Richtung Autobahn werden wir neugierig beäugt. Eine ältere Dame kann sich nicht zurückhalten, spricht uns an, fragt uns aus.

Am Ende des Gespräches haben wir ihren und Gottes Segen und den Ratschlag: »Kinder, passt auf euch auf! Die Zeiten sind nicht einfach!« Das macht Mut. Auf den letzten Metern zur Autobahn, die wir zu Fuß zurücklegen, ein ähnliches Bild. Der ältere Herr, der stolz zu erkennen gibt, dass er unseren Akzent grob als »europäisch« einstufen kann, gibt uns zwar Auskunft, schlägt aber, als er von unseren Plänen erfährt, per Anhalter durch das Land zu reisen, die Hände über dem Kopf zusammen, den er dabei gleichzeitig heftig schüttelt. Auch er schenkt uns Gottes Segen.

Bei so viel göttlichem Segen kann ja gar nichts mehr schiefgehen. Wir gehen weiter. Und tatsächlich: An der Autobahn Richtung Rosario hält nach unglaublichen zwei Minuten Carlos an. Ich habe mehr Zeit damit verbracht, liebevoll unser Pappschild zu beschriften, als wir auf eine Mitfahrgelegenheit warten müssen. Wir steigen ein. Carlos ist 30 und hat ein sehr rundes, aber nicht minder nettes Gesicht. Nur sein Auto macht mir Sorgen. Es klappert verdächtig, die Sicherheitsgurte funktionieren nicht, und die beiden Seitenspiegel sind auch nicht vorhanden. Auf meinem inneren Notizzettel füge ich hinzu: »Nicht nur Zustand des Fahrers, sondern auch des Fahrzeuges begutachten.« Auf den 250 Kilometern bis nach Rosario müssen wir viermal tanken. Warum wir dabei jedes Mal aus dem Auto aussteigen müssen, bleibt uns jedoch ein Rätsel.

Nichtsdestotrotz erreichen wir am frühen Abend Rosario, die drittgrößte Stadt des Landes. Direkt am Rio Paraná gelegen, sagt man Rosario nach, dass es die Stadt mit der höchsten Lebensqualität in Argentinien sei. Die für argentinische Verhältnisse beschauliche Einwohnerzahl von einer Million lässt dabei beinahe eine gemütliche Kleinstadtatmosphäre aufkommen.

Kurz nachdem wir von der Autobahn abfahren, sehen wir das größte Casino des Landes, welches dem mittlerweile verstorbenen Expräsidenten Néstor Kirchner gehörte. Direkt neben dem Casino, wie paradox, ein Armenviertel, ein »Villa«. Die verschwenderische Beleuchtung des Casinos macht Kinder sichtbar, die in der Dämmerung barfuß im Müll spielen. Nach der Busfahrt ins Zentrum werden wir von unseren Couchsurfing-Hosts Flor und Pedro empfangen. Die beiden sind selbst ein Jahr lang per Anhalter und mit Couchsurfing durch Südamerika gereist und nehmen als Dank nun selbst fleißig Reisende bei sich auf. Die Wohnung der beiden begeisterten Musikstudenten und Musiklehrer ist übersät mit Instrumenten aus aller Herren Länder.

Am selben Abend werden wir direkt zu einer kleinen Feier des Karnevalvereins eingeladen, in dem Pedro singt. Die junge Gruppe bringt politische Satire in melodischer Form unters bereits karnevalverrückte Volk.

Am nächsten Tag sind wir gegen Mittag bei Flors Vater und seiner Frau zum Grillen eingeladen. Flors Vater wohnt in einem »Country«. Das ist genau das Gegenteil einer Villa. In einem Country wohnen die Reichen unter sich – mit »mehr Sicherheit«, wie sie selbst betonen. Diese Art zu leben sei eher der neuen Frau ihres Vaters zuzuschreiben, erzählt uns Flor. Lorena sei »sehr speziell«. Ein Country, das sind etwa 200 große Villen...

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