Schön an einem Gang ins Restaurant ist, dass man dabei eigentlich nichts richtig machen kann. Es ist deshalb eine weitere ideale Übung für unser Gewissenstraining. Schön ist dabei auch, dass man in ein beliebiges Restaurant seiner Wahl gehen kann, denn jede Nationalität hält für unser Schuldgefühl ganz spezielle Gefährdungen bereit. Selbst der Gang in ein deutsches Wirtshaus kann einen nicht davor bewahren – denn wer Deutsch essen geht, setzt sich dem Vorwurf aus, feige immer nur das Vertraute zu suchen, wie jene Landsleute, die sich in Spanien erst dann richtig wohl fühlen, wenn sie Ritter Sport Vollmilch-Nuss im Supermarktregal finden. Wer Deutsch essen geht, scheint zudem misstrauisch gegenüber der ausländischen Küche zu sein, wenn nicht gar grundsätzlich misstrauisch gegenüber allem Ausländischen. Aber jenseits dieses dumpfen Basisschuldgefühls bleibt ein Gang in ein deutsches Restaurant für unser Training recht unergiebig. Man sollte also doch lieber in ein ausländisches Restaurant gehen, nur dort kann man das schlechte Gewissen in seiner ganzen Fülle auskosten.
Für den Anfang empfiehlt sich ein chinesisches Lokal. Dort wird man bereits am Eingang von einer Dame begrüßt, die sich so devot niederbeugt und einen mit so vielen Ells statt Errs begrüßt, dass ich eigentlich schmunzeln möchte, mich aber sofort für diese Gemütsbewegung zu schämen beginne. Die Gewissensqual setzt sich dann fort, wenn die Kellnerin mich fragt, ob ich mit Stäbchen essen wolle. Da mir inzwischen zu viele polyglotte Menschen erzählt haben, als welche Beleidigung es Chinesen empfinden, wenn man ihre Chopsuey mit Messer und Gabel isst, nehme ich jedes Mal Stäbchen und hoffe klammheimlich, dass ich dennoch dazu Messer und Gabel gereicht bekomme. Ist dies nicht der Fall, muss ich dann, nachdem mir der Reis beim dauernden Runterfallen von den Plastikstäbchen bereits völlig erkaltet ist, die Bedienung schamhaft darum bitten, vielleicht doch Messer und Gabel zu bekommen – selbstverständlich nur ›zusätzlich‹.
Aber der für das Gewissen komplizierteste Akt beim Chinesen ist nicht das Essen selbst, sondern die Bestellung davor. Die Speisekarten sind immer unendlich lang, jedes Tier auf Gottes Erdboden findet sich dort kombiniert mit allem, was sich für deutsche Ohren zwischen Bambussprossen und Morcheln chinesisch anhört. Die Speisen haben immer sehr hübsche chinesische Bandwurm-Namen. Doch meist hat man sie wieder vergessen, wenn man die Speisekarte zugeklappt oder die Getränke bestellt hat, man schlägt die Speisekarte also noch einmal rasch auf und kapituliert vor dem chinesischen Vokalungetüm. Voller Scham und Selbstverachtung sagt man dann: »Einmal die 15 bitte.« Doch wie sollen sich diese Menschen in Deutschland je akzeptiert fühlen, wenn ich ihre wunderbaren Gerichte nur bei der Nummer nenne? Und merkwürdigerweise lässt man sich von diesen Gewissensqualen auch nicht dadurch abhalten, dass jedes Mal, noch während man versuchte, Chopsuey Begari korrekt auszusprechen, die chinesische Bedienung nachfragte: »Welche Nummer bitte?« Menschen, deren schlechtes Gewissen bereits ausreichend trainiert ist, werden nicht so naiv sein, zu glauben, auch für die chinesische Bedienung sei es einfacher, sich nur die Nummern zu merken. Nein, nein, ganz falsch: Die Tatsache, dass inzwischen selbst die Bedienung nur noch die Nummern sagt und nicht mehr die wundervollen chinesischen Naturprodukte benennt, ist nur ein Zeichen dafür, wie unsere westliche Kultur offenbar die chinesische Immigrantenkultur unterdrückt. So gebrochen ist das chinesische Selbstbewusstsein durch unser einfältiges deutsches Wesen, dass sie selbst das unsinnliche Nummerngestammel ihrer Gastgeber angenommen haben.
Ebenfalls für Anfänger ideal geeignet ist der Besuch in einem französischen Restaurant. Und wer die Wucht der Peinlichkeiten und der unguten Gefühle ohne Abfederung genießen möchte, dem sei empfohlen, alleine ins Restaurant zu gehen. Alleine an seinem Tisch sitzend, kann man nicht nur einen ganzen Abend darüber nachdenken, was die anderen wohl denken, warum man alleine essen gehen muss, man hat auch, durch keinerlei Tischgespräche abgelenkt, Muße, sich voll auf die Entstehung und Vermeidung von Schuldgefühlen zu konzentrieren. Alleine in einem teuren französischen Restaurant – das ist eine der Vorstufen der Hölle. Aber auch zu zweit ist es gar nicht schlecht.
Der Vorteil ist, dass ich bereits ein ungutes Gefühl bekomme, wenn ich meiner Verabredung das Restaurant mitteile, in dem wir uns treffen wollen. Denn schon das Benennen des Ortes erfordert volle Konzentration, damit man alle Accents richtig rum und alle Us als Ü ausspricht. Sitzt man dann endlich am Tisch, nimmt das sprachliche Unheil weiter seinen Lauf. Anders als die Chinesen neigen Franzosen nicht dazu, ihren deutschen Gästen die Auswahl durch eine Übersetzung zu erleichtern. Ihre Speisekarten demonstrieren nicht nur durch den geschwungenen Strich den durch 1918 und 1945 wohl gestählten Nationalstolz. Auch verheddert man sich bereits bei den Vorspeisen hoffnungslos in den Fängen der fremden Sprache. Da es in den französischen Restaurants leider keine Nummern gibt, mit denen man das gewünschte Essen bezeichnen kann, bleibt einem nichts anderes übrig, als zu versuchen, Amuse-Gueule korrekt auszusprechen. Einmal für uns beide »Amuuuhs-Gäul«, sage ich siegesgewiss. Doch das gute Gewissen, das ich dabei empfinde, das Gewünschte (was auch immer sich dahinter Essbares verbirgt) in der Originalsprache bestellt zu haben, schlägt sofort in tiefe Scham um, wenn der Kellner näselnd korrigiert: »Zweimal Amüühs-Geulll, sehr gerne, Monsieur.« Falls man gar nicht weiterweiß, kann man sein schlechtes Gewissen angesichts mangelhafter Sprachkenntnis auch öffentlich dadurch demonstrieren, dass man dem Kellner die Karte schräg hinhält und mit dem Finger bekräftigend auf jene Speise deutet, die man gleichzeitig eher leise hinzunuscheln versucht.
Das eigentliche, große Problemthema jedoch ist der Wein. Es ist ein Problem in jeder Art von Restaurant, doch Pizzerien und Chinesen und Bistros machen es einem leicht, da sich die Auswahl der offenen weißen und roten Weine meist nur auf zwei Sorten beschränkt. Äußert man dann bei der Bestellung möglichst ohne Zögern den entschiedenen Wunsch nach einem halben Liter von der einen der beiden Alternativen, so kann man bei mancher Begleitung Souveränitätspunkte sammeln. Französische Restaurants hingegen zeichnen sich leider meist durch sehr gute und lange Weinkarten aus. Ein erstes blümerantes Gefühl stellt sich ein, wenn man einen offenen Wein bestellt, obwohl das Angebot an Flaschen ungefähr zwölf Seiten auf der Weinkarte ausmacht. Man denkt dann, dass der Kellner spätestens jetzt erkannt hat, dass man ein Banause ist. Ein wirklich schöner Auftakt wird es aber erst, wenn man einen offenen Wein ordert, vorzugsweise einen Bordeaux, weil man allein den fehlerfrei aussprechen kann, dieser Bordeaux aber ausgetrunken ist. In diesem Moment der Unsicherheit greift man dann gerne zu jenem Wein, den man am zweitbesten aussprechen kann. Doch messerscharf bohrt sich die Rückfrage des Kellners in unser Gehirn: »Das ist aber, anders als der Bordeaux, ein besonders lieblicher Wein, wollen Sie den wirklich?«
Wahrscheinlich, so ahnt man, hat man beim Wechsel von dem einen zu dem anderen Wein ohnehin längst seine weintechnische Orientierungslosigkeit demonstriert. Um nicht jeglichen Respekt des Kellners (und der Begleitung) zu verlieren, hilft in solchen Fällen nur ein sehr bestimmtes: »Ja, sehr gerne.« Man muss dann so tun, als sei man im Grunde sehr froh, dass der Bordeaux gerade ausgegangen ist, ja, als habe man sich fast geschämt, solch einen volkstümlichen Wein zu wählen, der nun gewählte jedoch genau das sei, was dem eigenen, speziellen Geschmack eigentlich am besten entspräche. Einige Sekunden lang wird man sich unglaublich ärgern, kein Weinkenner zu sein, man wird sich fragen, ob man es noch lernen kann, man wird sich ärgern, dass man es zu Hause nicht gelernt hat, man wird sich fragen, wie es all die anderen gelernt haben, die so tun, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, zu wissen, ob der Jahrgang 1985 ein guter oder schlechter war. Ist diese Seite des männlichen Selbstbewusstseins bereits auf diese schöne Weise angeknackst, muss nur noch aus dem Lautsprecher des Restaurants sanfte Schmusemusik ertönen, damit man voll des schlechten Gewissens innerlich ergänzt: Und gut tanzen kann ich auch nicht. Warum nur wollen alle Frauen heutzutage, dass man Weine kennt, tanzen kann und wunderbar kocht? Wollen die Frauen eigentlich, dass wir nur noch aus schlechtem Gewissen bestehen? Sollte ich nicht eigentlich sogar ein schlechtes Gewissen dafür haben, dass ich sie zum Essen ausführe, anstatt für sie zu kochen? Und vielleicht isst sie gar nicht gerne Französisch?
Kommen wir nun zu einer verschärften Übungseinheit: Das Bestellen einer ganzen Flasche Wein. Wie sehr ärgere ich mich in diesem Moment, dass ich den Weinführer, den mir Onkel Fritz vor vier Jahren zu Weihnachten schenkte, nicht gelesen habe, ich fühle mich schlecht, Onkel Fritz gegenüber, mir selbst gegenüber, weil ich keine Ahnung habe, und der Freundin gegenüber, weil sie das offenbar längst gemerkt hat. Anders als bei einem offenen Wein ist es nämlich bei einer Flasche unweigerlich notwendig, sich mit seiner Begleitung auf eine Sorte zu einigen. Da eine solche Einigung nicht nur wegen der unterschiedlichen Geschmäcker, sondern auch wegen der unterschiedlichen Essensbestellungen eigentlich völlig unmöglich ist, bietet sich hier dem schlechten Gewissen ein fast unendliches Betätigungsfeld. Es beginnt mit dem Basisschuldgefühl gegenüber der Haute Cuisine...