Sie sind hier
E-Book

Anleitung zum Unschuldigsein

AutorFlorian Illies
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783104037028
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Du musst kein schlechtes Gewissen haben? Von wegen. Wenn ?Generation Golf? das Tagebuch einer vergangenen Kindheit und Jugend war, dann ist ?Anleitung zum Unschuldigsein? die Reise in unser inneres Absurdistan, in dem uns die Gewissensbisse täglich lustvoll quälen. Dieses Buch zeigt Wege zurück in die Unschuld. Mit vielen tollen Übungen! Bildlegende: Ich sollte mehr Sport machen. Ich sollte mein Fahrrad reparieren. Ich sollte nicht immer nur Gutscheine verschenken. Ich sollte mal wieder meine Mutter anrufen. Ich sollte mit dem Rauchen aufhören. Ich sollte mal wieder zum Zahnarzt gehen. Ich sollte weniger Geld für Kleidung ausgeben. Ich sollte mehr Obst essen. Ich sollte mal wieder die leeren Flaschen wegbringen. Florian Illies' Buch ?Generation Golf? (Band 15065) erschien 2001 im Fischer Taschenbuch Verlag.

Florian Illies, der »große Geschichtenerzähler« (»Süddeutsche Zeitung«), verwandelt die Vergangenheit in seinen Büchern in lebendige Gegenwart. Er verwebt in seinem mitreißenden und humorvollen Stil kurze Miniaturen zu großen historischen Panoramen und Epochenporträts. Mit seinem Welterfolg »1913. Der Sommer des Jahrhunderts« begründete Illies ein neues Genre. Illies, geboren 1971, studierte Kunstgeschichte in Bonn und Oxford. Er war Feuilletonchef der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, leitete das Auktionshaus Grisebach und ist jetzt Mitherausgeber der »ZEIT«. Bei S. FISCHER erschien zuletzt das inzwischen in 18 Sprachen übersetzte Buch über die 1920er und 1930er Jahre »Liebe in Zeiten des Hasses«. Sein Kunst-Podcast »Augen zu« (gemeinsam mit Giovanni di Lorenzo) gehört zu den meistgehörten Podcasts deutscher Sprache.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Schön an einem Gang ins Restaurant ist, dass man dabei eigentlich nichts richtig machen kann. Es ist deshalb eine weitere ideale Übung für unser Gewissenstraining. Schön ist dabei auch, dass man in ein beliebiges Restaurant seiner Wahl gehen kann, denn jede Nationalität hält für unser Schuldgefühl ganz spezielle Gefährdungen bereit. Selbst der Gang in ein deutsches Wirtshaus kann einen nicht davor bewahren – denn wer Deutsch essen geht, setzt sich dem Vorwurf aus, feige immer nur das Vertraute zu suchen, wie jene Landsleute, die sich in Spanien erst dann richtig wohl fühlen, wenn sie Ritter Sport Vollmilch-Nuss im Supermarktregal finden. Wer Deutsch essen geht, scheint zudem misstrauisch gegenüber der ausländischen Küche zu sein, wenn nicht gar grundsätzlich misstrauisch gegenüber allem Ausländischen. Aber jenseits dieses dumpfen Basisschuldgefühls bleibt ein Gang in ein deutsches Restaurant für unser Training recht unergiebig. Man sollte also doch lieber in ein ausländisches Restaurant gehen, nur dort kann man das schlechte Gewissen in seiner ganzen Fülle auskosten.

Für den Anfang empfiehlt sich ein chinesisches Lokal. Dort wird man bereits am Eingang von einer Dame begrüßt, die sich so devot niederbeugt und einen mit so vielen Ells statt Errs begrüßt, dass ich eigentlich schmunzeln möchte, mich aber sofort für diese Gemütsbewegung zu schämen beginne. Die Gewissensqual setzt sich dann fort, wenn die Kellnerin mich fragt, ob ich mit Stäbchen essen wolle. Da mir inzwischen zu viele polyglotte Menschen erzählt haben, als welche Beleidigung es Chinesen empfinden, wenn man ihre Chopsuey mit Messer und Gabel isst, nehme ich jedes Mal Stäbchen und hoffe klammheimlich, dass ich dennoch dazu Messer und Gabel gereicht bekomme. Ist dies nicht der Fall, muss ich dann, nachdem mir der Reis beim dauernden Runterfallen von den Plastikstäbchen bereits völlig erkaltet ist, die Bedienung schamhaft darum bitten, vielleicht doch Messer und Gabel zu bekommen – selbstverständlich nur ›zusätzlich‹.

Aber der für das Gewissen komplizierteste Akt beim Chinesen ist nicht das Essen selbst, sondern die Bestellung davor. Die Speisekarten sind immer unendlich lang, jedes Tier auf Gottes Erdboden findet sich dort kombiniert mit allem, was sich für deutsche Ohren zwischen Bambussprossen und Morcheln chinesisch anhört. Die Speisen haben immer sehr hübsche chinesische Bandwurm-Namen. Doch meist hat man sie wieder vergessen, wenn man die Speisekarte zugeklappt oder die Getränke bestellt hat, man schlägt die Speisekarte also noch einmal rasch auf und kapituliert vor dem chinesischen Vokalungetüm. Voller Scham und Selbstverachtung sagt man dann: »Einmal die 15 bitte.« Doch wie sollen sich diese Menschen in Deutschland je akzeptiert fühlen, wenn ich ihre wunderbaren Gerichte nur bei der Nummer nenne? Und merkwürdigerweise lässt man sich von diesen Gewissensqualen auch nicht dadurch abhalten, dass jedes Mal, noch während man versuchte, Chopsuey Begari korrekt auszusprechen, die chinesische Bedienung nachfragte: »Welche Nummer bitte?« Menschen, deren schlechtes Gewissen bereits ausreichend trainiert ist, werden nicht so naiv sein, zu glauben, auch für die chinesische Bedienung sei es einfacher, sich nur die Nummern zu merken. Nein, nein, ganz falsch: Die Tatsache, dass inzwischen selbst die Bedienung nur noch die Nummern sagt und nicht mehr die wundervollen chinesischen Naturprodukte benennt, ist nur ein Zeichen dafür, wie unsere westliche Kultur offenbar die chinesische Immigrantenkultur unterdrückt. So gebrochen ist das chinesische Selbstbewusstsein durch unser einfältiges deutsches Wesen, dass sie selbst das unsinnliche Nummerngestammel ihrer Gastgeber angenommen haben.

Ebenfalls für Anfänger ideal geeignet ist der Besuch in einem französischen Restaurant. Und wer die Wucht der Peinlichkeiten und der unguten Gefühle ohne Abfederung genießen möchte, dem sei empfohlen, alleine ins Restaurant zu gehen. Alleine an seinem Tisch sitzend, kann man nicht nur einen ganzen Abend darüber nachdenken, was die anderen wohl denken, warum man alleine essen gehen muss, man hat auch, durch keinerlei Tischgespräche abgelenkt, Muße, sich voll auf die Entstehung und Vermeidung von Schuldgefühlen zu konzentrieren. Alleine in einem teuren französischen Restaurant – das ist eine der Vorstufen der Hölle. Aber auch zu zweit ist es gar nicht schlecht.

Der Vorteil ist, dass ich bereits ein ungutes Gefühl bekomme, wenn ich meiner Verabredung das Restaurant mitteile, in dem wir uns treffen wollen. Denn schon das Benennen des Ortes erfordert volle Konzentration, damit man alle Accents richtig rum und alle Us als Ü ausspricht. Sitzt man dann endlich am Tisch, nimmt das sprachliche Unheil weiter seinen Lauf. Anders als die Chinesen neigen Franzosen nicht dazu, ihren deutschen Gästen die Auswahl durch eine Übersetzung zu erleichtern. Ihre Speisekarten demonstrieren nicht nur durch den geschwungenen Strich den durch 1918 und 1945 wohl gestählten Nationalstolz. Auch verheddert man sich bereits bei den Vorspeisen hoffnungslos in den Fängen der fremden Sprache. Da es in den französischen Restaurants leider keine Nummern gibt, mit denen man das gewünschte Essen bezeichnen kann, bleibt einem nichts anderes übrig, als zu versuchen, Amuse-Gueule korrekt auszusprechen. Einmal für uns beide »Amuuuhs-Gäul«, sage ich siegesgewiss. Doch das gute Gewissen, das ich dabei empfinde, das Gewünschte (was auch immer sich dahinter Essbares verbirgt) in der Originalsprache bestellt zu haben, schlägt sofort in tiefe Scham um, wenn der Kellner näselnd korrigiert: »Zweimal Amüühs-Geulll, sehr gerne, Monsieur.« Falls man gar nicht weiterweiß, kann man sein schlechtes Gewissen angesichts mangelhafter Sprachkenntnis auch öffentlich dadurch demonstrieren, dass man dem Kellner die Karte schräg hinhält und mit dem Finger bekräftigend auf jene Speise deutet, die man gleichzeitig eher leise hinzunuscheln versucht.

Das eigentliche, große Problemthema jedoch ist der Wein. Es ist ein Problem in jeder Art von Restaurant, doch Pizzerien und Chinesen und Bistros machen es einem leicht, da sich die Auswahl der offenen weißen und roten Weine meist nur auf zwei Sorten beschränkt. Äußert man dann bei der Bestellung möglichst ohne Zögern den entschiedenen Wunsch nach einem halben Liter von der einen der beiden Alternativen, so kann man bei mancher Begleitung Souveränitätspunkte sammeln. Französische Restaurants hingegen zeichnen sich leider meist durch sehr gute und lange Weinkarten aus. Ein erstes blümerantes Gefühl stellt sich ein, wenn man einen offenen Wein bestellt, obwohl das Angebot an Flaschen ungefähr zwölf Seiten auf der Weinkarte ausmacht. Man denkt dann, dass der Kellner spätestens jetzt erkannt hat, dass man ein Banause ist. Ein wirklich schöner Auftakt wird es aber erst, wenn man einen offenen Wein ordert, vorzugsweise einen Bordeaux, weil man allein den fehlerfrei aussprechen kann, dieser Bordeaux aber ausgetrunken ist. In diesem Moment der Unsicherheit greift man dann gerne zu jenem Wein, den man am zweitbesten aussprechen kann. Doch messerscharf bohrt sich die Rückfrage des Kellners in unser Gehirn: »Das ist aber, anders als der Bordeaux, ein besonders lieblicher Wein, wollen Sie den wirklich?«

Wahrscheinlich, so ahnt man, hat man beim Wechsel von dem einen zu dem anderen Wein ohnehin längst seine weintechnische Orientierungslosigkeit demonstriert. Um nicht jeglichen Respekt des Kellners (und der Begleitung) zu verlieren, hilft in solchen Fällen nur ein sehr bestimmtes: »Ja, sehr gerne.« Man muss dann so tun, als sei man im Grunde sehr froh, dass der Bordeaux gerade ausgegangen ist, ja, als habe man sich fast geschämt, solch einen volkstümlichen Wein zu wählen, der nun gewählte jedoch genau das sei, was dem eigenen, speziellen Geschmack eigentlich am besten entspräche. Einige Sekunden lang wird man sich unglaublich ärgern, kein Weinkenner zu sein, man wird sich fragen, ob man es noch lernen kann, man wird sich ärgern, dass man es zu Hause nicht gelernt hat, man wird sich fragen, wie es all die anderen gelernt haben, die so tun, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, zu wissen, ob der Jahrgang 1985 ein guter oder schlechter war. Ist diese Seite des männlichen Selbstbewusstseins bereits auf diese schöne Weise angeknackst, muss nur noch aus dem Lautsprecher des Restaurants sanfte Schmusemusik ertönen, damit man voll des schlechten Gewissens innerlich ergänzt: Und gut tanzen kann ich auch nicht. Warum nur wollen alle Frauen heutzutage, dass man Weine kennt, tanzen kann und wunderbar kocht? Wollen die Frauen eigentlich, dass wir nur noch aus schlechtem Gewissen bestehen? Sollte ich nicht eigentlich sogar ein schlechtes Gewissen dafür haben, dass ich sie zum Essen ausführe, anstatt für sie zu kochen? Und vielleicht isst sie gar nicht gerne Französisch?

Kommen wir nun zu einer verschärften Übungseinheit: Das Bestellen einer ganzen Flasche Wein. Wie sehr ärgere ich mich in diesem Moment, dass ich den Weinführer, den mir Onkel Fritz vor vier Jahren zu Weihnachten schenkte, nicht gelesen habe, ich fühle mich schlecht, Onkel Fritz gegenüber, mir selbst gegenüber, weil ich keine Ahnung habe, und der Freundin gegenüber, weil sie das offenbar längst gemerkt hat. Anders als bei einem offenen Wein ist es nämlich bei einer Flasche unweigerlich notwendig, sich mit seiner Begleitung auf eine Sorte zu einigen. Da eine solche Einigung nicht nur wegen der unterschiedlichen Geschmäcker, sondern auch wegen der unterschiedlichen Essensbestellungen eigentlich völlig unmöglich ist, bietet sich hier dem schlechten Gewissen ein fast unendliches Betätigungsfeld. Es beginnt mit dem Basisschuldgefühl gegenüber der Haute Cuisine...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Lebensführung - Motivation - Coaching

PS: Glücklich sein

E-Book PS: Glücklich sein
Format: PDF

Glücklich sein beinhaltet nicht nur Gesundheit, eine gesunde Ernährung und eine sportliche Betätigung. Glücklich sein kann von jedem von uns anders empfunden werden.In dem hier vorliegenden Buch "PS…

Simplify your life

E-Book Simplify your life
Küche, Keller, Kleiderschrank entspannt im Griff Format: ePUB/PDF

»Das bisschen Haushalt …« kann leider ganz schön anstrengend sein, wenn in der Sockenschublade ein undurchdringbares Chaos herrscht, sich in der Küche vor lauter…

Das Pippilotta-Prinzip

E-Book Das Pippilotta-Prinzip
Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt Format: ePUB/PDF

Frech, respektlos, mutig – und viel Spaß dabei! Jeder kennt sie aus der Kindheit: Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter, kurz: Pippi Langstrumpf. Und fast jedes M…

Das Pippilotta-Prinzip

E-Book Das Pippilotta-Prinzip
Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt Format: ePUB/PDF

Frech, respektlos, mutig – und viel Spaß dabei! Jeder kennt sie aus der Kindheit: Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter, kurz: Pippi Langstrumpf. Und fast jedes M…

Das Pippilotta-Prinzip

E-Book Das Pippilotta-Prinzip
Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt Format: ePUB/PDF

Frech, respektlos, mutig – und viel Spaß dabei! Jeder kennt sie aus der Kindheit: Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter, kurz: Pippi Langstrumpf. Und fast jedes M…

Das Pippilotta-Prinzip

E-Book Das Pippilotta-Prinzip
Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt Format: ePUB/PDF

Frech, respektlos, mutig – und viel Spaß dabei! Jeder kennt sie aus der Kindheit: Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter, kurz: Pippi Langstrumpf. Und fast jedes M…

Simplify your love

E-Book Simplify your love
Gemeinsam einfacher und glücklicher leben Format: ePUB/PDF

Gemeinsam einfacher und glücklicher lebenEgal ob Single, frisch verliebt oder schon in einer festen Beziehung: Fast alle Menschen wünschen sich eine stabile und glückliche Partnerschaft. Doch…

Simplify your love

E-Book Simplify your love
Gemeinsam einfacher und glücklicher leben Format: ePUB/PDF

Gemeinsam einfacher und glücklicher lebenEgal ob Single, frisch verliebt oder schon in einer festen Beziehung: Fast alle Menschen wünschen sich eine stabile und glückliche Partnerschaft. Doch…

Simplify your love

E-Book Simplify your love
Gemeinsam einfacher und glücklicher leben Format: ePUB/PDF

Gemeinsam einfacher und glücklicher lebenEgal ob Single, frisch verliebt oder schon in einer festen Beziehung: Fast alle Menschen wünschen sich eine stabile und glückliche Partnerschaft. Doch…

Weitere Zeitschriften

Arzneimittel Zeitung

Arzneimittel Zeitung

Die Arneimittel Zeitung ist die Zeitung für Entscheider und Mitarbeiter in der Pharmabranche. Sie informiert branchenspezifisch über Gesundheits- und Arzneimittelpolitik, über Unternehmen und ...

Computerwoche

Computerwoche

Die COMPUTERWOCHE berichtet schnell und detailliert über alle Belange der Informations- und Kommunikationstechnik in Unternehmen – über Trends, neue Technologien, Produkte und Märkte. IT-Manager ...

küche + raum

küche + raum

Internationale Fachzeitschrift für Küchenforschung und Küchenplanung. Mit Fachinformationen für Küchenfachhändler, -spezialisten und -planer in Küchenstudios, Möbelfachgeschäften und den ...

EineWelt

EineWelt

Lebendige Reportagen, spannende Interviews, interessante Meldungen, informative Hintergrundberichte. Lesen Sie in der Zeitschrift „EineWelt“, was Menschen in Mission und Kirche bewegt Man kann ...