Einleitung
»Frankfurter Schule« und »Kritische Theorie« – das löst, wenn es mehr wachruft als den Gedanken an ein sozialwissenschaftliches Paradigma, die Vorstellung einer Reihe von Namen aus, allen voran Adorno, Horkheimer, Marcuse, Habermas – und Assoziationen auf der Linie: Studentenbewegung, Positivismusstreit, Kulturkritik – und vielleicht auch: Emigration, Drittes Reich, Juden, Weimar, Marxismus, Psychoanalyse. Es geht, wird sogleich deutlich, um mehr als bloß eine theoretische Richtung, um mehr als ein Stück Wissenschaftsgeschichte.
Inzwischen ist es üblich geworden, von einer ersten und einer zweiten Generation kritischer Theoretiker zu sprechen (siehe z.B. Habermas, Drei Thesen zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule; van Reijen, Philosophie als Kritik) und die ältere Frankfurter Schule von dem zu unterscheiden, was danach kam, also seit den 70er Jahren. Das enthebt vorläufig der Frage nach dem Weiterleben der Frankfurter Schule und nach Kontinuität und Diskontinuität und erleichtert es, der Darstellung der Geschichte der Frankfurter Schule eine zeitliche Grenze zu setzen, die nicht allzu willkürlich ist: der Tod Adornos und damit des letzten in Frankfurt und am Institut für Sozialforschung wirkenden Vertreters der älteren kritischen Theorie.
Der Ausdruck »Frankfurter Schule« ist ein in den 60er Jahren von außen angeheftetes Etikett, das Adorno zuletzt selber mit unverkennbarem Stolz gebrauchte. Gemeint war damit zunächst eine kritische Soziologie, die in der Gesellschaft eine antagonistische Totalität sah und Hegel und Marx nicht aus ihrem Denken verbannt hatte, sondern sich als deren Erben begriff. Längst ist dieses Etikett zu einem umfassenderen und vagen Begriff geworden. Der Ruhm Herbert Marcuses als – wie damals die Medien meinten – Idol der rebellierenden Studenten neben Marx, Mao Zedong und Ho Chi Minh ließ die Frankfurter Schule zum Mythos werden. Der US-amerikanische Historiker Martin Jay hat in den frühen 70er Jahren diesen Mythos auf den Boden geschichtlicher Tatsachen heruntergeholt und deutlich gemacht, was für eine vielgestaltige Realität sich hinter dem Etikett Frankfurter Schule verbirgt, das längst zu einem Bestandteil der Wirkungsgeschichte des damit Bezeichneten geworden ist und unverzichtbar geworden ist, unabhängig davon, wie weit man im strengen Sinn von einem Schulzusammenhang sprechen kann.
Allerdings waren wesentliche Merkmale einer Schule teils zeitweise, teils ständig oder wiederkehrend vorhanden: ein institutioneller Rahmen (das Institut für Sozialforschung, das, wenn auch zeitweise bloß rudimentär, durchgängig existierte); eine intellektuelle charismatische Persönlichkeit, die von dem Glauben an ein neues theoretisches Programm erfüllt und zur Zusammenarbeit mit qualifizierten Wissenschaftlern bereit und fähig war (Max Horkheimer als »managerial scholar«, der seinen Mitarbeitern immer wieder vor Augen hielt, sie gehörten zu den wenigen, in deren Händen die Weiterentwicklung »der Theorie« liege); ein Manifest (Horkheimers Antrittsrede von 1931 über Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, auf die in den späteren Selbstdarstellungen des Instituts immer wieder zurückgegriffen wurde und auf die Horkheimer sich auch bei der Feier zur Wiedereröffnung des Instituts in Frankfurt im Jahre 1951 wieder berief); ein neues Paradigma (die »materialistische« bzw. »kritische« Theorie des gesamtgesellschaftlichen Lebensprozesses, die im Zeichen der Kombination von Philosophie und Sozialwissenschaften systematisch die Psychoanalyse und gewisse Denkmotive Vernunft- und metaphysikkritischer Denker wie Schopenhauer, Nietzsche und Klages in den historischen Materialismus integrierte; und das Etikett »kritische Theorie« wurde dann einigermaßen durchgängig beibehalten, obwohl die sich seiner Bedienenden Unterschiedliches darunter verstanden und auch Horkheimer seine ursprünglich damit verbundenen Vorstellungen änderte); eine Zeitschrift und andere Medien für die Veröffentlichung der Forschungsarbeiten der Schule (die als Organ des Instituts fungierende Zeitschrift für Sozialforschung und die Schriften des Instituts für Sozialforschung, erschienen in renommierten wissenschaftlichen Verlagen: zunächst Hirschfeld in Leipzig, später Felix Alcan in Paris).
Aber die meisten dieser Merkmale trafen nur für das erste Jahrzehnt der Horkheimer-Ära des Instituts zu, also für die 30er Jahre und besonders für die New Yorker Zeit. In dieser Zeit arbeitete jedoch das Institut andererseits in einer Art splendid Isolation gegenüber seiner US-amerikanischen Umgebung. Nach Deutschland kehrten 1949/50 nur Horkheimer, Pollock und Adorno zurück. Von diesen dreien war lediglich Adorno weiterhin theoretisch produktiv, und bloß von ihm erschienen Bücher mit neuen wie alten Arbeiten. Eine Zeitschrift gab es nicht mehr, nur eine Reihe Frankfurter Beiträge zur Soziologie, der aber das unverkennbare Profil der einstigen Zeitschrift fehlte und in der von Adorno und Horkheimer selber nur einmal, Anfang der 60er Jahre, eine Sammlung von Vorträgen und Reden erschien. »Für mich gab es keine zusammenhängende Lehre. Adorno schrieb kulturkritische Essays und machte im übrigen Hegel-Seminare. Er vergegenwärtigte einen bestimmten marxistischen Hintergrund – das war es.« (»Dialektik der Rationalisierung«, Jürgen Habermas im Gespräch mit Axel Honneth, Eberhardt Knödler-Bunte und Arno Widmann, in: Ästhetik und Kommunikation 45/46, Oktober 1981, 128) So im Rückblick Jürgen Habermas, der in der zweiten Hälfte der 50er Jahre Mitarbeiter Adornos und des Instituts für Sozialforschung war. Als in den 60er Jahren tatsächlich das Image einer Schule aufkam, vermischte sich darin die Vorstellung einer in Frankfurt vertretenen Konzeption kritischer Soziologie, deren Exponenten Adorno und Habermas waren, mit der Vorstellung einer radikal gesellschaftskritischen, freudomarxistischen frühen Phase des Instituts unter Horkheimers Leitung.
Bereits diese schon von den äußeren Umständen her höchst ungleichartige Geschichte läßt es ratsam erscheinen, den Ausdruck Frankfurter Schule nicht allzu streng zu nehmen. Dafür sprechen noch zwei weitere Dinge. Zum einen die Tatsache, daß gerade die »charismatische Figur«, Horkheimer, eine zunehmend weniger entschiedene und weniger zur Schulbildung geeignete Position vertrat. Zum anderen der damit eng zusammenhängende folgende Umstand. Betrachtet man die vier Jahrzehnte der älteren Frankfurter Schule in ihrer Gesamtheit, dann zeigt sich: es gab kein einheitliches Paradigma, auch keinen Paradigmawandel, dem sich alles zuordnen ließ, was dazugehört, wenn man von Frankfurter Schule spricht. Die beiden Hauptfiguren, Horkheimer und Adorno, arbeiteten von zwei deutlich unterschiedenen Positionen aus an gemeinsamen Themen. Der eine, angetreten als Inspirator einer fortschrittsfreudigen interdisziplinären Gesellschaftstheorie, resignierte zum Ankläger einer verwalteten Welt, in der die aus der Geschichte einer mißlungenen Zivilisation herausragende Insel des liberalistischen Kapitalismus außer Sicht zu geraten drohte. Für den anderen, angetreten als Kritiker des Immanenzdenkens und Fürsprecher einer befreiten Musik, wurde die Geschichtsphilosophie mißlungener Zivilisation zur Basis einer vielgestaltigen Theorie des Nichtidentischen bzw. der Formen, in denen auf paradoxe Art das Nichtidentische Berücksichtigung fand. Adorno vertrat ein mikrologisch-messianisches Denken, das ihn eng mit Walter Benjamin, der durch seine Vermittlung ebenfalls Mitarbeiter der Zeitschrift für Sozialforschung und schließlich des Instituts für Sozialforschung geworden war, und mit Siegfried Kracauer und auch noch Ernst Bloch verband. Die Vernunftkritik der gemeinsam mit Horkheimer in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs verfaßten Dialektik der Aufklärung ließ jenes Denken unbehelligt. Horkheimer aber, der sich in den Jahren vor der gemeinsamen Arbeit an diesem Werk von dem Sozialpsychologen Erich Fromm und von den Rechts- und Staatstheoretikern Franz Neumann und Otto Kirchheimer getrennt hatte und damit sein Programm einer interdisziplinären Theorie der Gesamtgesellschaft praktisch aufgegeben hatte, stand nach der Dialektik der Aufklärung mit leeren Händen da. Wie er als Soziologe den Blick zurück auf die selbständigen Unternehmer des liberalistischen Zeitalters richtete, so richtete er als Philosoph den Blick zurück auf die großen Philosophen einer objektiven Vernunft. Während Horkheimer in den 60er Jahren, in der Zeit der Studentenbewegung, zu seiner Bestürzung wegen der aggressiv marxistischen Töne seiner frühen Aufsätze zu Bedeutung gelangte und sich auf einmal in die Nähe von Marcuses offensiv gewordener Position der Großen Weigerung gerückt sah, verfaßte Adorno die beiden großen Zeugnisse seines mikrologisch-messianischen Denkens: die Negative Dialektik und die Ästhetische Theorie. Sie waren damals wenig zeitgemäß. Dagegen wurde der »marxistische« Benjamin entdeckt und zur Schlüsselfigur einer materialistischen Kunst- und Medientheorie. Anderthalb Jahrzehnte nach dem Tod Adornos meinte einer der Bedeutendsten unter den Poststrukturalisten, Michel Foucault: »Wenn ich die Frankfurter Schule rechtzeitig gekannt hätte, wäre mir viel Arbeit erspart geblieben. Manchen Unsinn hätte ich nicht gesagt und viele Umwege nicht gemacht, als ich versuchte, mich nicht...