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Was ist Anorganische Chemie?
In diesem Kapitel
Anorganische Chemie im Alltag
Entwicklung der Anorganischen Chemie
Die Sprache der Chemiker
Das Periodensystem kennen lernen
Wenn Sie demnächst eine Prüfung in Anorganischer Chemie vor sich haben, kann es sein, dass Sie dieses Kapitel überspringen und stattdessen etwas zu dem Thema lesen, mit dem Sie gerade Schwierigkeiten haben. Wenn Sie etwas mehr über den Hintergrund der Anorganischen Chemie erfahren wollen und vielleicht die vielfältigen, ganz alltäglichen und auch großartigen Einsatzgebiete der Anorganischen Chemie kennen lernen wollen, dann fangen Sie am besten mit diesem Kapitel an! Chemische Prozesse umgeben uns in unserem täglichen Leben, häufig wenden wir im Alltag Stoffumwandlungen an oder nutzen die Produkte chemischer Synthesen. Sie erhalten in diesem Kapitel einen kleinen Einblick in die Vielfalt chemischer Prozesse.
Danach erkläre ich Ihnen etwas die Sprache und Formelwelt der Chemiker, und wir werfen einen Blick auf das »berüchtigte« Periodensystem der Elemente.
Anorganische Chemie im Alltag
Anorganische Verbindungen begegnen uns heute in allen Lebensbereichen. Nachfolgend habe ich für Sie einige Beispiele zusammengestellt. Damit möchte ich Ihnen etwas Appetit machen, Ihr Interesse wecken und Ihnen zeigen, dass dieses seltsame Fachgebiet durchaus spannend sein kann.
Anorganische Chemie in der Küche
Kochsalz ist aus unserer Küche nicht wegzudenken. Leicht gesalzene Speisen schmecken nicht nur besser als völlig ungesalzene Kost, sondern das Kochsalz (Natriumchlorid) hat auch wichtige physiologische Funktionen (physiologisch = die Lebensvorgänge im Organismus betreffend). Natriumchlorid ist essenzieller (lebenswichtiger) Bestandteil des Blutplasmas und anderer Körperflüssigkeiten. Natrium (Na+) und andere Kationen stabilisieren über elektrostatische Wechselwirkungen Zellmembranen und die Konformation von Enzymen und anderen Biomolekülen wie z.B. DNA oder RNA. Die Aufnahme von zu viel oder zu wenig Natriumchlorid mit der Nahrung hat drastische Folgen für die Gesundheit. Wenn man nur destilliertes Wasser trinken würde, so würde man daran sterben. Dasselbe Schicksal erleidet man, wenn man nur Salzwasser trinkt. Oder wie Paracelsus bereits im 16. Jahrhundert erkannte: »All Ding’ sind Gift und nichts ohn’ Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.«
Ohne Backtriebmittel würde man keinen lockeren Kuchen bekommen und es gäbe am Nachmittag zum Kaffee nur feste Teigfladen zu essen. Natriumhydrogencarbonat und Ammonium-hydrogencarbonat ("Hirschhornsalz") sind in Backpulvern enthalten. Wenn der Teig erhitzt wird, zersetzen sich diese Verbindungen und setzen Kohlendioxid frei. Dieses Gas macht den Teig schön locker und fluffig.
Falls der Abfluss in der Küche mal verstopft sein sollte, greifen Sie bestimmt zum Abflussreiniger. Dabei handelt es sich meist um die gefährlichsten Chemikalien, die im Haushalt zu finden sind. Zur Beseitigung von Fetten, Proteinen und Essensresten im Abfluss braucht man schon ein aggressives Mittel. Deshalb enthalten viele Abflussreiniger starke Laugen (Kaliumhydroxid oder Natriumhydroxid) und häufig noch ein Oxidationsmittel (z. B. Natriumhypochlorit). Die Lauge soll die Fette und Proteine hydrolysieren und das Oxidationsmittel soll die Verunreinigungen oxidieren und damit zerstören. Aber Achtung: Wenn Sie es mit dem Reiniger zu gut meinen oder die falschen Mittel mischen, reagieren sie im Abfluss, werden sehr heiß, setzen Gase frei oder verbacken sich zu einer Art Zement.
Bauchemie und Geschirr
Auch beim Hausbau spielen grundlegende chemische Prozesse eine tragende Rolle. Mischungen von Gips mit Wasser müssen sehr schnell verarbeitet werden, da der Gips sonst aushärtet und nicht mehr zu gebrauchen ist. Eine Kalkbrühe darf man auf keinen Fall in die Augen bekommen – man könnte erblinden, da Kalklösungen starke Basen sind. Beton und Kalkmörtel haben unterschiedliche Aushärtezeiten, die auf unterschiedlichen chemischen Prozessen beruhen. Mehr dazu erfahren Sie im Kapitel 3.
Der größte Teil der Minerale auf der Erde besteht aus Silikaten, also aus Verbindungen, die Silicium, Sauerstoff und andere Elemente enthalten. Dem entsprechend werden bei jedem Hausbau Silikate verbaut. Jeder Ziegel enthält Silikate. Andererseits gibt es auch High-Tech-Werkstoffe, die Siliciumverbindungen enthalten. Die bekannteste Stoffklasse sind die Silikone. Viele Fugen im Badezimmer oder in anderen Feuchträumen werden heute mit Silikonen abgedichtet. Silikone dienen außerdem zur Hydrophobierung (also wasserabweisend machen) von Sandstein und anderen Natursteinmaterialien im Außenbereich. Geschirr, Glas und Porzellan bestehen ebenfalls zu einem großen Teil aus Siliciumdioxid. Mehr über Silikate, Silikone und andere Siliciumverbindungen werde ich Ihnen in Kapitel 4 erklären. Reduziert man die Silikate zu elementarem Silizium (dem reinen Halbmetall), so kann man sich daraus mit ein paar Tricks Solarzellen für sein Dach herstellen.
Dünger und Sprengstoffe
Anfang des 20. Jahrhunderts waren Nitrate knapp und teuer. Die einzig nennenswerten Vorkommen fand man in Chile (Chilesalpeter = Natriumnitrat), und es war damals bereits abzusehen, dass die Vorkommen bald erschöpft sein würden. Zur Herstellung von Düngern und Sprengstoffen brauchte man dringend ein technisches Verfahren. Haber und Bosch entwickelten gemeinsam ein Verfahren zur Herstellung von Ammoniak (NH3) aus Luftstickstoff. Um den reaktionsträgen Stickstoff aus der Luft zu überreden, mit Wasserstoff zu reagieren, braucht man gewaltige Drücke, Temperaturen von 400–500 °C und einen geeigneten Katalysator. Die ersten Versuchsreaktoren explodierten meist nach wenigen Tagen, da der Wasserstoff aus dem Reaktor entwich. Wie diese Schwierigkeiten bewältigt wurden und wie man aus dem Ammoniak dann Dünger und Sprengstoffe herstellt, erzähle ich Ihnen im Kapitel 5.
Edelsteine und Zahnpaste
Die beiden Dinge haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam, aber es gibt anorganische Verbindungen, die durchaus beides sein können: wertvoller Edelstein oder Mittel zum Zähne reinigen! Wichtig für die jeweilige Anwendung ist aber nicht nur die chemische Zusammensetzung, sondern auch in welcher Form die Verbindung vorliegt. So ist fein verteiltes amorphes Siliciumdioxid z. B. Bestandteil der meisten Zahnpasten. Die fein verteilten Silicium-dioxid-Partikel verdicken die flüssige Zahnputzmischung und verwandeln diese in eine schöne cremige Paste. Wenn das Siliciumdioxid jedoch schöne Kristalle bildet, die noch Spuren anderer Elemente enthalten können, so hat man Halbedelsteine und Edelsteine wie z. B. Achat, Amethyst, Citrin, Chrysopras, Rauchquarz, Rosenquarz und Onyx.
Pigmente und Farbstoffe
Ohne Pigmente und Farbstoffe wäre unser Alltag grau und langweilig. Zum Glück gibt es organische und anorganische Pigmente. Die letzteren zeichnen sich häufig durch sehr hohe Beständigkeit aus. Bereits vor mehr als 20 000 Jahren benutzten die Menschen der Eiszeit Naturfarbstoffe wie Ocker, Hämatit, Manganbraun und verschiedene Tone für Höhlenzeichnungen, deren Farben bis heute erhalten sind. Zinnober, Azurit, Malachit und Lapislazuli waren schon im 3. Jahrtausend vor Christus in China bzw. Ägypten bekannt. Um etwa 2000 vor Christus stellte man bereits durch Brennen von natürlichem Ocker rote und violette Pigmente für Töpferwaren her. Anorganische Pigmente sind heute aus unserem Alltag nicht wegzudenken. Nahezu alle Anstrichstoffe für draußen enthalten anorganische Pigmente, die dafür lichtecht (= beständig im Sonnenlicht) und wetterbeständig sein müssen.
Anorganische Chemie früher und heute
Wir sprachen gerade die Höhlenmalereien an. Das sind sozusagen die ersten Anwendungen der anorganischen Chemie, wobei man sicher durch einfaches Probieren herausgefunden hatte, welcher farbige Brei sich als Malfarbe eignet.
Im Mittelalter hatte man beim Durchführen »alchymischer Experimente« die großartigsten Ziele im Auge. Die Suche nach dem Stein der Weisen, der ewiges Leben versprach oder mit dessen Hilfe man unedle Metalle in Gold zu verwandeln hoffte. Diese beiden Ziele erreichten die Alchimisten nicht, aber als Nebenprodukt dieser verbissenen Forschung wurde zum Beispiel das europäische Porzellan entwickelt oder das Element Phosphor entdeckt.
Heute beruht die Anorganische Chemie weitgehend auf naturwissenschaftlichen Grundlagen. Die Physik liefert uns die Schrödinger-Gleichung und die Wellenfunktion zur Beschreibung der Elektronenbewegungen in den Molekülen. Die Mathematik und die Computertechnologie ermöglichen uns, dass wir die Wellenfunktion – mit einigen Vereinfachungen – berechnen können und somit Eigenschaften und Reaktivität von Molekülen...