Wohin führt der Weg der Kirche?
Der schmerzhafte Abschied von der Volkskirche
Die katholische Kirche in Deutschland ist unbestreitbar in einer schweren Krise. Der Abschied von der Volkskirche und ihren Milieus fällt schwer. Bei vielen Seelsorgern und Bischöfen ist Resignation spürbar. Wie wird sich aus Ihrer Sicht die Situation in zehn oder zwanzig Jahren darstellen?
Ganz offensichtlich wird die Gestalt der Kirche eine grundlegend andere sein. Die Zahl der Kirchgänger ist zwar kein hinreichendes Kriterium für Kirchenbindung. Trotzdem kann es nicht folgenlos bleiben, dass bereits heute kaum noch Kinder und Jugendliche, junge Erwachsene und Familien im Gottesdienst vertreten sind. Da die Kirche nicht Menschenwerk ist und Zukunftswege generell nicht immer linear verlaufen, wird man keine präzisen Voraussagen mit Erfüllungsgarantie treffen können. Aber die Wahrscheinlichkeit eines weiteren massiven demografischen Abbruchs ist sehr hoch. In der wechselvollen Geschichte unserer Kirche ist das nichts völlig Ungewöhnliches, aber wir müssen uns damit auseinandersetzen.
Welche Lehren hält die Kirchengeschichte aus Ihrer Sicht für die Gegenwart bereit?
Dafür möchte ich auf die Einschätzung von Kardinal Walter Kasper verweisen, der in der Katholischen Akademie in Bayern die augenblicklichen Veränderungen im November 2011 so beschrieben hat: »Was wir gegenwärtig erleben, ist das ZuEnde-Gehen einer Epoche der Kirchengeschichte. Man kann diese Situation bis zu einem gewissen Grade vergleichen mit dem Ende der alten Reichskirche in den napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress (1814/15). Damals kam es zur Säkularisierung des Kirchengutes und damit zum Ende der feudalen Reichskirche. Das wurde als Unrecht empfunden und war es auch; es war der Zusammenbruch des gesamten damaligen Kirchensystems, der Verlust politischer und wirtschaftlicher Macht, was in manchen Gebieten zu einer materiellen wie kulturellen Verarmung führte.
Es war ein schmerzlicher Umbruch, der aber zu einem neuen Anfang und zu einem neuen Aufbruch, zu einer neuen Gestalt der Kirche wurde, nämlich zu der Volkskirche, wie die Älteren von uns sie bis 1933 und dann in einer kurzen Phase nach dem Zweiten Weltkrieg kannten. Die Kirche hatte ihre politische und wirtschaftliche Macht verloren, sie hatte dafür aber moralische Autorität gewonnen. Das war dadurch möglich, dass sie sich auf ein konsistentes katholisches Milieu und auf bedeutende Laienverbände stützen konnte; aus der feudalen Reichskirche war eine milieugestützte Volkskirche geworden.«
Das ist in weiten Teilen eine Paraphrase eines Motivs, das Papst Benedikt XVI. bei seinem Deutschlandbesuch in der »Freiburger Rede« vorgetragen hat. Greifen wir Kaspers Beobachtung heraus, dass sich die Kirche im Umbruch einst auf ein »konsistentes katholisches Milieu und auf bedeutende Laienverbände stützen« konnte. Gerade dieses Milieu ist im Schwinden begriffen, und die Laienverbände werden mindestens in dem Maß schwächer, in dem die Kirche insgesamt an Kraft verliert. In dieser Situation ist die Kirche offensichtlich sehr stark mit sich selbst beschäftigt. Sie hält anscheinend immer weniger Ressourcen vor, sich in Gesellschaft und Staat zu engagieren. Nun gibt es aber auch sehr unterschiedliche Meinungen, ob dies überhaupt auf Dauer noch sinnvoll wäre. Wie sehen Sie das?
Als katholische Kirche in Deutschland stehen wir vor einem »Kreisverkehr« mit Abzweigungen in drei Richtungen:
- Resignation
- Zurück zur kleinen Herde
- Einen neuen Aufbruch wagen
Laufen wir nun unentschlossen im Kreis? Entscheiden wir uns für eine Richtung? Und wenn ja, für welche? Nicht wenige sind bereits auf den Weg zur Resignation eingebogen, darunter viele, die sich über Jahre hinweg in der Kirche und für die Kirche engagiert haben und nun frustriert aufgeben. Sie glauben nicht mehr an die Reformfähigkeit der Kirche. Einige zögern dabei und schauen hoffnungsvoll nach Rom, im Schwanken zwischen Hoffen und Zweifel.
Dann gibt es jedoch auch eine starke Strömung, die für den Weg zur kleinen Herde plädiert. Sie versprechen sich davon eine größere Anziehungskraft, eine authentischere, christlichere Kirche. Der emeritierte Papst Benedikt XVI. wird damit immer wieder in Verbindung gebracht.
In der Tat plädiert eine durchaus starke Strömung für eine Konzentration der Kräfte auf die Menschen mit starker Kirchenbindung. Sie argumentiert: Unsere Ressourcen schrumpfen. Die Zahl der Gläubigen geht zurück, erst recht die Zahl der Priester, und mittelfristig müssen wir uns auch auf schwindende Finanzerträge einstellen. Konzentrieren wir uns deshalb auf unser »Kerngeschäft«, als da wäre: Gebet, Gottesdienst, die Pflege der geistlichen Gemeinschaft. Insgesamt lässt sich in dieser Gruppe eine starke Binnenorientierung feststellen. »Die Welt da draußen« ist für sie ohnehin Feindesland, jedenfalls eine Gefahr.
Liturgie, Gottesdienst, Gebet gehören aber doch unzweifelhaft zu den grundlegenden Selbstvollzügen der Kirche. Ist deren Betonung dann nicht mindestens so legitim wie Ihr Pochen auf dem sozial-karitativen wie dem politischen Engagement?
Natürlich gehören das Gebet, die Besinnung, die Pflege des Kontakts und der Beziehung zu Gott zum Glauben, ja, sind Voraussetzung dafür. Für die anhaltende Gottesbeziehung gilt, was auch für jede menschliche Beziehung, was für die Partnerschaft gilt: Es braucht Aufmerksamkeit, es braucht die bewusste Pflege der Beziehung und auch die Ausdauer, um »Trockenzeiten« durchzustehen. Ohne diesen Willen zur Pflege der Gottesbeziehung, zum Hören und zum Beten, wird es auf Dauer keinen Glauben geben.
Ich plädiere ganz eindringlich für das Ja zur Vielfalt der Glaubenswege und der Frömmigkeitsformen. Was ich ablehne, ist die Ansicht, dass nur bestimmte Formen katholisch seien. Ich halte es für fatal, wenn bestimmte Prägungen der Frömmigkeit und des Gemeinschaftslebens die Deutungshoheit darüber beanspruchen, was richtig und was falsch, was katholisch und was nicht mehr katholisch ist.
Die Vielfalt der Glaubenswege und der Frömmigkeitsformen ist für das Christentum konstitutiv. Das zeigt schon die Bandbreite spiritueller Traditionen in der Geschichte des Mönchtums und der Ordensgemeinschaften. Kontemplativ ausgerichtete Orden, die sich in strenger Klausur vor allem dem Gebet widmen, sind nach meinem Verständnis genauso wichtig und wertvoll wie sozial ausgerichtete. Es ist grundfalsch, die verschiedenen Wege christlichen Lebens gegeneinander auszuspielen.
Das kann man aber gegenwärtig in vielen Diskussionen beobachten.
Bei manchen Bischöfen und Klerikern spielt wohl dabei auch mit, dass die sogenannten »Frommen« nicht gar so kirchenkritisch und damit unbequem sind. Sie orientieren sich in der Regel nach den Aussagen und Vorgaben der Hierarchie.
Wie haben sich die Kräfteverhältnisse nach Ihrer Wahrnehmung verschoben?
Nach meinen Erfahrungen in den letzten Jahrzehnten hatte der Weltauftrag der Christen in der kirchlichen Verkündigung früher einen viel höheren Stellenwert. Papst Franziskus setzt neuerdings wieder diesen Akzent. Für ihn folgt aus dem Glauben unmittelbar die Hinwendung zu den Menschen, sodass nicht mehr das »Rette deine Seele!« im Mittelpunkt steht, was letztlich auch die Gefahr eines egozentrischen Glaubensverständnisses birgt. Jede Frömmigkeit hat ihre schmerzhafte Gefährdung. Im »Christentum der Tat« liegt diese in einem blinden Aktionismus.
Warum ist Ihnen das gesellschaftliche und politische Engagement der Katholiken so wichtig? Weil es dafür in Deutschland eine lange und große Tradition gibt? Oder sehen Sie für uns als Christen eine Verpflichtung, unseren Beitrag für die Menschen unserer Zeit zu leisten?
Hier entscheidet es sich, ob und in welchem Umfang wir als Katholikinnen und Katholiken zur Gestaltung des Zusammenlebens im eigenen Land und international beitragen, das heißt, ob wir durch Handeln gestalten oder aus der scheinbar sicheren Bastion unserer eigenen Gesinnungsgemeinschaft moralische Appelle an »die da draußen« in der Welt senden, uns über das Unzulängliche empören, entsprechend urteilen, verurteilen und dann selbstgenügsam, ja überheblich in unserer Binnenwelt bleiben. Immer wieder ist es dann die Schrittfolge: protestieren, anklagen, sich seiner überlegenen Moral rühmen – und dann zurücklehnen.
Einen neuen Aufbruch wagen – aber wohin?
Der dritte Weg im »Kreisverkehr Zukunft« heißt: »einen neuen Aufbruch wagen«. Das war das Motto des Katholikentags in Mannheim 2012. Eine recht vage Formulierung, die vieles offen lässt – insbesondere die Frage: Aufbruch wohin?
Zuallererst ist es ein Aufbruch aus der Selbstgenügsamkeit, aus dem Selbstmitleid. Es bedeutet den Abschied vom tiefen Kulturpessimismus, nach dem alles schlechter wird, es nur abwärts geht und die Gesellschaft sich in einer Abwärtsspirale befindet – was im Übrigen auch nicht stimmt. Wir können in den letzten Jahrzehnten nicht nur einen Zuwachs an Wohlstand verzeichnen, sondern trotz vieler Fehlentwicklungen insgesamt auch einen erheblichen Zuwachs an Gerechtigkeit und Humanität. Die Behindertenhilfe und die Hospizbewegung sind nur zwei Beispiele dafür. Der Schutz der Schöpfung ist ein anderes. Wenn auch nicht immer direkt christlich motiviert, haben hier dennoch die starken, über Jahrhunderte kulturprägenden Kräfte des Christentums eine...