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DIE OFFENBARUNG DES JOHANNES
Kampf gegen Rom, das Reich des Bösen
Die Offenbarung des Johannes ist das merkwürdigste Buch der Bibel – und das umstrittenste. Es enthält keine Geschichten und moralischen Belehrungen, sondern nur Visionen: Träume und Albträume. Und obwohl nur wenige behaupten, seine machtvollen Bilder und Prophezeiungen zu verstehen, erfreut es sich seit zweitausend Jahren enormer Popularität. Bis heute suchen Menschen überall auf der Welt darin nach Sinn und Bedeutung, und viele christliche Gruppen sehen die Prophezeiung eines göttlichen Gerichts sich vor ihren Augen erfüllen. Millionen befürchten, «zurückgelassen zu werden», wenn das Ende naht, wie Tim LaHaye in seinen Bestsellern schreibt, und sind überzeugt, die in der Offenbarung vorhergesagten Schlachten seien in den Katastrophen der jüngeren Geschichte Wirklichkeit geworden. Die Visionen von Himmel und Hölle klingen in vielen Werken der Weltliteratur an, von John Miltons Verlorenem Paradies bis zu den Gedichten von William Butler Yeats und den Geschichten von James Baldwin, und auch musikalische Kompositionen wurden durch sie inspiriert: die patriotische amerikanische Battle Hymn of the Republic, die «Schlachthymne der Republik», und afroamerikanische Spirituals ebenso wie das Quartett für das Ende der Zeit, das der französische Komponist Olivier Messiaen 1941 in einem NS-Kriegsgefangenenlager schrieb und uraufführte. Zeitgenössische Filmregisseure und Künstler bebildern diese Visionen wie vor ihnen Michelangelo, Goya, Bosch, Blake und Picasso. Christen in Amerika identifizieren sich mit den Visionen eines kosmischen Kriegs, seitdem um 1600 viele Einwanderer in die Neue Welt glaubten, ein «neues Jerusalem» erreicht zu haben, wie es die Johannesoffenbarung versprochen hatte. Die einen betrachten Amerika als eine «Erlösernation» (redeemer nation), deren Mission es sei, das Tausendjährige Reich zu errichten, die anderen sehen das aktuelle militärische und wirtschaftliche System Amerikas als die Verkörperung Babylons und damit als Inbegriff des Bösen.[1] Bis heute beschwört die politische Rhetorik das Sendungsbewusstsein der amerikanischen Nation –oder verurteilt Amerika für seine Verfehlungen.
Warum sprach dieser Text die Menschen vor zweitausend Jahren an, als er geschrieben wurde, und warum spricht er sie noch heute an? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt des vorliegenden Buches, denn die Johannesoffenbarung rührt an etwas tief in der menschlichen Natur Verwurzeltes, ob es uns gefällt oder nicht. Die Arbeit an diesem Buch begann ich in der Zeit eines Krieges, dessen Befürworter auf die Johannesoffenbarung verwiesen, welche ihrerseits nach einem Krieg entstanden war. Die Erforschung der seit zweitausend Jahren anhaltenden Faszinationskraft dieses Textes gibt uns nicht zuletzt Aufschluss über uns selbst und darüber, warum die Religion bis zum heutigen Tag so extreme Reaktionen auslöst, im Guten wie im Bösen.
Die Kontroverse um die Johannesoffenbarung ist nicht neu. Seit ihrer Entstehung wurde sie von Christen entweder emphatisch verteidigt oder heftig kritisiert, besonders zwischen dem zweiten und dem vierten Jahrhundert, bevor sie als letztes Buch in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen wurde.[2] Dem Vorwurf, der Autor sei ein Häretiker, hielten seine frühesten Befürworter entgegen, es handle sich um den Jesusjünger Johannes, den Verfasser des Johannesevangeliums. Um 260 n. Chr. jedoch stellte der ägyptische Bischof Dionysius von Alexandria diese Ansicht in Frage. Er verwies auf die großen stilistischen Unterschiede zwischen beiden Texten, die es unmöglich erscheinen lassen, dass der rhetorisch geschulte Verfasser des Johannesevangeliums das unbeholfene Griechisch der Offenbarung geschrieben hat.[3] Dionysius fügte hinzu, niemand möge glauben, er habe seine Ansicht in spöttischer Absicht formuliert. Er habe vielmehr auf die Ungleichheit dieser beiden Bücher hinweisen wollen, denn die Offenbarung sei das Werk eines «heiligen und gotterleuchteten Mannes». Doch die Debatte über die Authentizität des Buches – und seinen Platz im Neuen Testament –ging weiter. Mehr als tausend Jahre später wollte Martin Luther die Offenbarung aus dem biblischen Kanon ausschließen, da «Christus darin weder gelehrt noch erkannt» werde,[4] bis ihm klar wurde, dass er die kraftvolle Bildsprache der Apokalypse gegen die katholische Kirche wenden konnte. Gleichzeitig führten katholische Apologeten das Offenbarungsbuch gegen ihn und andere «protestierende» Christen ins Feld.[5] Vielen Christen ist die Johannesoffenbarung keiner Erwähnung wert, andere lehnen es ab, sie im Rahmen des Gottesdienstes zu lesen, wieder andere sprechen unentwegt davon. Die Geschichte der Johannesoffenbarung und ihre Interpretation durch die Christen beginnt zu der Zeit, als Jesu Anhänger eine kleine und verfolgte Minderheit bildeten, und führt über die sich allmählich etablierende Bewegung bis zur Festsetzung des neutestamentlichen Kanons, nachdem Kaiser Konstantin Christus zu seinem Schutzherrn und das Christentum zur vorherrschenden Religion des Römischen Reichs erklärt hatte.
Wer hat dieses Buch geschrieben? Warum – und wie – wird es bis heute von so vielen gelesen? Und was bedeutet «Offenbarung»? Sind die sogenannten Offenbarungen das, was sie zu sein beanspruchen: Botschaften von Gott? Bekunden diese Visionen tatsächlich eine Wahrheit über unsere Wirklichkeit, oder sind sie nur individuelle Projektionen, die einer Enttäuschung über diese Wirklichkeit Ausdruck verleihen? Als ich mich mit diesen Fragen beschäftigte, wurde mir klar, dass sie in engem Zusammenhang mit den 1945 in Ägypten entdeckten frühchristlichen Schriften stehen – nicht nur mit den sogenannten gnostischen Evangelien, sondern mit rund zwanzig weiteren «Offenbarungsbüchern», von denen sich die meisten von dem neutestamentlichen Offenbarungsbuch grundlegend unterscheiden.[6] Viele von ihnen handeln weniger von einem Jüngsten Gericht am Ende der Zeit als von der Suche nach dem Göttlichen in dieser Welt. Doch bevor wir darauf näher eingehen, betrachten wir das neutestamentliche Buch der Offenbarung etwas genauer.
Es beginnt mit der Mitteilung seines Verfassers Johannes (oft Johannes von Patmos genannt, weil er angibt, er habe es auf der kleinen Insel Patmos vor der türkischen Küste geschrieben). Er habe, als er an einem Sonntag in ekstatischer Trance «vom Geist ergriffen» worden sei (Offb 1,10),[7] plötzlich eine «große Stimme» gehört, die zu ihm redete. Als er sich umdrehte, sah er ein göttliches Wesen, das ihm auftrug aufzuschreiben, was «in Kürze geschehen soll» (Offb 1,19), denn das Ende der Zeit sei nahe. Für Johannes, einen jüdischen Anhänger Jesu von Nazareth, war dieses göttliche Wesen, das zu ihm gesprochen hatte, der tote und wiederauferstandene Jesus – allerdings nicht in seiner menschlichen Gestalt, sondern in furchteinflößender Herrlichkeit: «Sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht.» (Offb 1,16) Gott, so habe Jesus ihm erklärt, werde einen Kampf gegen die Mächte des Bösen führen, die die Herrschaft über die Welt an sich gerissen hätten. Der bevorstehende kosmische Krieg werde zwar das gesamte Universum zerstören, letztlich aber werde Gott siegen, die Bösen in den Pfuhl des ewigen Feuers hinunterstoßen und die Gerechten in sein Reich führen.
Eine Stimme, sagt Johannes, habe ihm befohlen: «Steig herauf» –offenkundig die Aufforderung, durch eine offene Tür in den Himmel aufzusteigen (Offb 4,1). «Alsbald wurde ich vom Geist ergriffen», fährt Johannes fort (Offb 4,2), um einen Blick auf den himmlischen Thron Gottes zu tun, der der Beschreibung des Propheten Hesekiel sechshundert Jahre früher ähnelt: erstrahlend in gleißendem Feuer und unter Blitz und Donner, funkelnd wie Smaragde, Regenbogen und Saphire und in hellem Licht wie ein gläsernes Meer aus Kristall. Wie in einem Traum sieht Johannes neben dem Thron Gottes ein geschlachtetes Lamm, das ihm enthüllt, «was geschehen soll danach»(Offb 1,19).[8] Zum Klang von Posaunen sprengen die vier apokalyptischen Reiter heran. Der erste sitzt auf einem weißen Pferd und schwingt ein Schwert; der zweite, auf einem feuerroten Pferd, hält ein großes Schwert, damit die Menschen «sich untereinander umbrächten» (Offb 6,4);[9] der dritte, auf einem schwarzen Pferd, kündet von Hungersnöten; der vierte, auf einem fahlen Pferd, bringt den Tod durch das Schwert, durch die Pest und wilde Tiere. Doch bevor all das anhebt, so Johannes weiter, sieht er unter dem Altar «die Seelen derer, die umgebracht worden waren um des Wortes Gottes und um ihres Zeugnisses willen» (Offb 6,9). Sie rufen mit lauter Stimme: «Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?» (Offb 6,10)
Dann sieht Johannes vier Engel an den vier Enden der Erde stehen, die den Hundertvierundvierzigtausend (den Elitesoldaten im Volk Gottes) ein Siegel auf die Stirn drücken, zwölftausend aus jedem...