GRUNDLAGEN DES FUNKTIONELLEN TRAININGS
Bevor du in tiefere Trainingsinhalte abtauchst, solltest du dir folgende Frage beantworten: Welches Ziel und welchen Sinn hat für mich Training? Die Antwort findet sich nicht in harten Fakten, sondern in einem fast philosophischen Gedankengang. Training ist grundsätzlich ein Prozess, der mit einem ganz bestimmten Verlauf etwas bewirken soll. Trainieren wir eine Sportart wie Laufen, Fußball oder Klettern, so ziehen wir Motivation aus der Vorstellung, schneller, ausdauernder oder stärker zu werden. Der Überbegriff für dieses Ziel nennt sich Funktion. Wir trainieren, um in unserer Sportart mit all dem, was uns körperlich zur Verfügung steht, besser zu funktionieren. Der Begriff der Funktion ist der Sport- und Trainingswissenschaft nicht fremd. Man hat sich seit jeher damit auseinandergesetzt, welche Verbesserung der körperlichen und sportlichen Funktion notwendig ist. Ein Training braucht sinnvolle Entwicklungsstufen, die den Körper stetig verbessern, ohne ihn abzunutzen.
Deine Antwort auf die Frage nach dem Ziel und Sinn eines Trainings sollte daher zwei Schlagwörter beinhalten: Gesunderhaltung und Leistungsverbesserung – wohl wissend, dass Letzteres ohne Ersteres in der Praxis nicht funktioniert. Wer sein Training allein auf das inhaltliche Fundament der Leistungssteigerung stellt und den präventiven Gedanken vernachlässigt oder gar komplett streicht, läuft Gefahr, sein körperliches Leistungssystem zu degenerieren und somit abzubauen. Dieser grundlegenden sportlichen Einstellung zum Training fügen wir nun inhaltliche Punkte bei. Ein unverzichtbarer Begriff ist hierbei die sogenannte motorische Einheit.
Funktion entwickelt sich nur innerhalb der motorischen Einheit
Um sinnvolle Entwicklungsstufen mit entsprechenden gesundheitlichen und leistungssteigernden Inhalten füllen zu können, müssen wir erst verstehen, wie unser Körper bei Bewegung und Belastung funktioniert und welche Teilbereiche ineinandergreifen. Die Leistungsfähigkeit unserer körperlichen Funktionen wird dabei von vier Faktoren bestimmt.
1. Die Muskeln Jedem Sportler ist klar, dass es ohne Muskulatur keine Bewegung und keine Leistung gibt. Unsere Muskeln sind jedoch lediglich die ausführenden Organe von Bewegung und haben keinerlei Eigendynamik. Woher wissen nun unsere etwa 640 Muskeln, ob, wann, wie stark und wie schnell sie an- und entspannen müssen? Die Antwort ist relativ simpel: Unsere Muskeln wissen, was sie tun müssen, weil sie die entsprechenden Informationen von unserem Gehirn erhalten. Dort sitzt mit dem sogenannten motorischen Kortex ein Bereich, der sich hauptsächlich mit der Organisation von Bewegungen beschäftigt. Alle Bewegungen werden in diesem Areal vorher sorgfältig geplant und nachher qualitativ bewertet. Somit ist klar: keine Muskelarbeit ohne Gehirnarbeit.
2. Die Nerven Weiter stellt sich die Frage, wie nun die Bewegungsidee aus dem motorischen Kortex im Gehirn die passenden Muskeln erreicht. Unser Nervensystem dient hier als Datenautobahn. Ein gesunder Nerv übermittelt mit einer Geschwindigkeit von etwa 100 Meter pro Sekunde Informationen vom Gehirn zum Muskel und auch wieder zurück. Daher ist es logisch, dass ohne Gehirnarbeit und Nervenbeteiligung keine Muskelaktion stattfindet. Die drei Einheiten Gehirn, Nerven- und Muskelsystem fasst die Sportwissenschaft als motorische Einheit zusammen.
3. Das Gehirn Gehen wir nun die Sache von der anderen Seite an. Du willst einen schwungvollen, weiten Kletterzug von einem Griff zum anderen machen, schaffst ihn jedoch einfach nicht. Was kann in der motorischen Einheit schiefgelaufen sein? Was uns wohl als Erstes in den Sinn kommt, ist ein muskuläres Defizit – eine Schwäche der Muskulatur. Das könnte durchaus sein. Es könnte aber auch sein, dass deine Muskeln eigentlich kräftig genug sind, aber dein Gehirn beim Schnappen des Griffes zu spät die richtigen Muskeln anspannen lässt. Dies sind koordinative Organisationsprobleme, die im Gehirn ihren Ursprung haben. Auch die dritte Komponente könnte dafür verantwortlich sein, dass du den Kletterzug nicht zielgerecht ausführen kannst. Wenn das Gehirn mit den richtigen Muskeln in der richtigen Reihenfolge die Bewegung plant und diese Muskeln auch genügend Power besitzen, um diese Kletterbewegung umzusetzen, dann könnte das Problem der Informationsverteilung in den Nervenbahnen liegen. Das Fehlen von Funktion kann also drei unterschiedliche Ursachen haben. Damit wir im Training keinen Faktor unberücksichtigt lassen, müssen alle in den Entwicklungsprozess passend eingebracht werden.
Vier Bestandteile unseres Körper sind für die Funktion entscheidend: Muskel, Nerven, Gehirn und Gewebe.
© Bernd Bachfischer
4. Das Gewebe Neben den drei Bereichen der motorischen Einheit gibt es jedoch mit dem Bindegewebe, das um den Muskel herum liegt, noch einen vierten Faktor, der sich leistungsentscheidend verhält. Die Leistungsfähigkeit der motorischen Einheit kommt nur in einem System zum Tragen, in dem die Spannungszustände unseres Bindegewebes in Muskelhüllen, Sehnen und Gelenkkapseln diese Funktion mittragen. Ein Beispiel: Niemand würde mit einem Neoprenanzug zum Joggen gehen, denn es kostet zu viel Kraft, gegen den Widerstand des Anzugs einen Laufschritt zu machen. Der Gummianzug fordert von uns pro Schritt deutlich mehr Kraft, da er die Gelenke steifer und unbeweglicher macht. Den gleichen Effekt kann Bindegewebe haben, das die Gelenke oder Muskeln umschließt.
DIE VIER HAUPTFAKTOREN FÜR FUNKTION
Ein Training, das den Schwerpunkt auf Funktion und somit auf eine Leistungsentwicklung legt, ist dann optimal und gesundheitsorientiert aufgestellt, wenn es Trainingsreize an Gehirn, Nerven und Muskeln richtet. Des Weiteren müssen passive Strukturen und Gewebe so vorbereitet werden, dass diese drei Bereiche störungsfrei arbeiten können. Ein effektives funktionelles Training berücksichtigt alle vier Punkte, da sich diese gegenseitig bedingen. Um mit dem Athletiktraining eine Verbesserung für das Klettern zu erzielen, müssen alle beschriebenen Faktoren angesprochen werden.
Trainingsinhalte – Kraft, Koordination und Beweglichkeit
Unsere motorische Leistungsfähigkeit besteht aus den fünf Basisfähigkeiten Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Koordination. Unabhängig von ihrer Gewichtung bestehen sie nicht parallel nebeneinander, sondern bedingen sich motorisch gegenseitig, und je nach Sportart werden einzelne Fähigkeiten mehr oder weniger benötigt. Die Leistungsprofile eines ausdauerentwickelten Marathonläufers und eines kraftfähigen Turners gegenüberzustellen, verdeutlicht die sportartspezifischen Unterschiede. Von den fünf Basisfähigkeiten sind für das Klettern und Bouldern vor allem die Kraft-, Koordinations- und Beweglichkeitsfähigkeit von großer Bedeutung, daher werden diese im Folgenden näher beschrieben.
Kraft
Die Kraft ist definiert über die Fähigkeit, Gewicht zu überwinden, zu halten oder zu bremsen. Bleiben wir in einer typischen Kletterbewegung, so können wir uns mit der Kraftfähigkeit im Klimmzug nach oben ziehen, oben statisch blockieren und langsam wieder nach unten ablassen. In dieser einen Bewegung finden sich alle drei Komponenten. Man kann jedoch die Kraft nicht nur hinsichtlich ihrer Richtung, sondern auch ihrer Bewegungsart unterscheiden. Die Literatur spricht hier von einer dynamischen und einer statischen Kraftfähigkeit. Wir können mit Kraft etwas bewegen oder etwas stabilisieren und daraus sogar eine Mischform machen und uns stabilisiert bewegen. Man spricht hier von einer geführten Bewegung. Sie ist die am weitesten verbreitete Art, Kraft zu kombinieren und einzusetzen. Nimmt man noch den Begriff der Intensität dazu, so lassen sich verschiedene Kraftbereiche definieren.
Die Kraftpyramide ist eine schematische Darstellung dieser intensitätsabhängigen Kraftbereiche. Je höher ein Widerstand ist, desto weniger Wiederholungen einer Bewegung schaffe ich. Die Maximalkraft, in der die Last so hoch ist, dass nur eine einzige vollständige Wiederholung umgesetzt werden kann, stellt die Pyramidenspitze dar. Den Gegenpol beschreibt die Pyramidenbasis. Dort liegen geringe Intensitäten, bei denen viele Bewegungswiederholungen möglich sind. Dies wird als Kraftausdauer definiert. Derjenige, der bei gleicher Routen- und Griffschwierigkeit mehr Kletterzüge schafft, besitzt hinsichtlich der Ermüdungsfähigkeit den besseren Trainingszustand. Er weist eine hohe Kraftausdauerfähigkeit auf. Zwischen Maximalkraft und Kraftausdauer liegen jedoch noch andere Kraftarten, die wir nach absteigender Intensität auflisten.
Die Reaktivkraft, die aus einer abbremsenden Bewegung heraus in kürzester Zeit einen stark beschleunigten Kraftstoß generieren kann, kommt hinsichtlich des Intensitätsanspruchs kurz unterhalb der Maximalkraft. Die Reaktivsprünge aus dem Beintraining sind ein Beispiel hierfür. Stell dich auf einen Kasten oder eine Stufe, lass dich beidbeinig nach unten fallen und versuche, mit einer Bodenkontaktzeit von nur einem Bruchteil einer Sekunde so hoch wie möglich abzuspringen. Du wirst sehen, dass hierbei sehr viel Kraft und Spannung notwendig sind. Eine Stufe tiefer auf der Kraftpyramide und damit etwas langsamer als die Reaktivkraft befindet sich die Explosivkraft. Bei einem dynamischen weiten Kletterzug oder auch einem Sprung musst du dich von der Startposition wegbeschleunigen. Auf diesem kurzen Beschleunigungsweg versuchst du dich...