«Offener Brief an den Präsidenten der Republik und an die «Attilas» des Bildungswesens» – Lettre ouverte au président de la République et aux «Attila» de l’éducation.
So lautet die Überschrift eines Briefs, den der bekannte französische Schriftsteller Jean d’Ormesson am 9. Mai 2015 im Pariser Le Figaro veröffentlichte. Der Brief war ein flammender Protest gegen die Reform der gymnasialen Bildung, welche die französische Kultusministerin anstrebte. Mit wuchtigen Worten griff d’Ormesson sie an: «eine Art lächelnder Attila, hinter dem die Wiesen der historischen Erinnerung nie mehr aufblühen werden».
Jedem Franzosen war Attila aus dem Geschichtsunterricht vertraut: der Hunnenkönig, der Schrecken Europas, der mit seinen Barbarenhorden im Jahr 451 Frankreich überfallen hatte, der mordete, plünderte und die Städte niederbrannte, bis er noch im selben Jahr in der Champagne, auf den Katalaunischen Feldern, in einer Vielvölkerschlacht besiegt und aus dem Land gejagt wurde.
Die zahlreichen literarischen und historischen Anspielungen des Briefs lassen vermuten, dass sein Verfasser das Datum für die Veröffentlichung bewusst gewählt hat: Am Tag zuvor hatte ganz Europa des 8. Mai 1945 gedacht. Vor genau 70 Jahren hatte die deutsche Wehrmacht bedingungslos kapituliert, und am 9. Mai, am Tag des offenen Briefes, war Deutschlands Gesamtkapitulation inkraftgetreten. Die Deutschen, die Hunnen des zwanzigsten Jahrhunderts, die Frankreich 1914 und 1939 überfallen hatten wie einst Attila 451, erlebten ihre Katalaunischen Felder. Europa und die europäische Kultur waren vom Nationalsozialismus befreit. Und jetzt, 70 Jahre später, wollte eine französische Regierung die Axt an die Wurzeln eben dieser Kultur legen. Schon sechs Jahre zuvor hatte der italienische Schriftsteller und Latinist Luca Canali ein Buch mit dem plakativen Titel herausgebracht «Attila aufhalten». Das Buch bot einen Streifzug durch die lateinische Literatur, der zeigen sollte, welche Bedeutung antike Kultur und Geistesgeschichte auch heute noch haben und was ihr Verlust mit sich brachte. Dem Buchtitel, der zugleich ein Aufruf war, fügte Canali daher den Untertitel hinzu: «Die klassische Tradition als Gegenmittel gegen das Vordringen der Barbarei.»[1]
Jean d’Ormessons Brief hatte noch einen weiter zurückliegenden historischen Bezug, an den der gebildete Verfasser gedacht haben dürfte. Es war jener Offene Brief, den der französische Schriftsteller Romain Rolland am 29. August 1914 an Gerhart Hauptmann richtete, nachdem er erfahren hatte, dass die Deutschen nach dem Einmarsch in Belgien am 25. August begonnen hatten, die Stadt Löwen zu beschießen, und die berühmte Löwener Bibliothek in Flammen aufgegangen war. Hauptmann hatte kurz zuvor die deutsche Kriegführung verteidigt. Rolland, wie d’Ormesson ein Freund und Kenner der deutschen Kultur, arbeitete zu dieser Zeit beim Roten Kreuz in Genf und veröffentlichte seinen Brief im Journal de Genève. Empört richtete er an Hauptmann und die Deutschen die Frage: «Seid Ihr die Enkel Goethes oder Attilas?», und er forderte den Dichter auf, seine Stimme gegen die «Hunnen» zu erheben, die solche Verbrechen befahlen.[2]
Gerhart Hauptmann antwortete Rolland in der Vossischen Zeitung vom 10. September 1914. Er griff dessen alternative Frage «Goethe oder Attila» auf und beschied den Frager: «Lieber sollten die Deutschen sich Söhne Attilas nennen lassen als auf ihren Grabstein die Inschrift ‹Söhne Goethes› gesetzt bekommen.»[3] Aus der Feder des Goethe-Verehrers und -Nachahmers Hauptmann war dies eine erschreckende Aussage. Friedrich Gundolf, 1914 junger Privatdozent für Literaturgeschichte an der Universität Heidelberg, fühlte sich ebenfalls gedrängt, Rolland eine Ohrfeige zu verpassen. In einem Artikel in der Frankfurter Zeitung vom 11. Oktober 1914 verstieg er sich zu der Behauptung: «Attila hat mehr mit Kultur zu tun als alle Shaw, Maeterlinck, d’Annunzio und dergleichen zusammen.»[4]
Weltweites Aufsehen erregte dann das «Manifest der 93», das sich «An die Kulturwelt» richtete und am 4. Oktober 1914 in allen großen deutschen Tageszeitungen erschien, um anschließend in zehn Sprachen verbreitet zu werden. 93 bekannte Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller erhoben – so der Einleitungssatz – «vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen Daseinskampf zu beschmutzen trachten». In sechs Abschnitten, alle mit einem fettgedruckten «Es ist nicht wahr» beginnend, verwahrten sich die Unterzeichner des Aufrufs gegen die Vorwürfe, die gegen Deutschland erhoben wurden. Gleich der erste und folgenreichste betraf die Kriegsschuldfrage und die Rolle, die Kaiser Wilhelm II. dabei gespielt habe: «Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen; oft genug haben selbst unsere Gegner dies anerkannt. Ja, dieser nämliche Kaiser, den sie jetzt einen Attila zu nennen wagen, ist jahrzehntelang wegen seiner unerschütterlichen Friedensliebe von ihnen verspottet worden. Erst als eine schon lange an den Grenzen lauernde Übermacht von drei Seiten über unser Volk herfiel, hat er sich erhoben wie ein Mann.»[5] Im letzten Satz schien der Kaiser nun doch wieder ein Attila zu sein, und die Verfasser näherten sich dem trotzigen Stolz, mit dem Gerhart Hauptmann, einer der 93, den Hunnenkönig gegenüber Rolland für die Deutschen in Anspruch nahm. Wenn dagegen Deutschlands Feinde Wilhelm einen Attila nannten, war das in den Augen der 93 Majestätsbeleidigung.
Am selben Tag, an dem das «Manifest der 93» in die Welt hinausging, erschien in der italienischen Zeitung L’Asino eine Karikatur, in der Attila vor der zerstörten Kathedrale von Reims stand und deutschen Soldaten zu ihrem ‹Erfolg› gratulierte.[6] Schon im September 1914 hatte die belgische Tageszeitung L’Indépendance Belge an ihrem damaligen Erscheinungsort Paris geklagt, «dass die deutschen Soldaten des zwanzigsten Jahrhunderts Krieg führen, wie es die Hunnen getan hatten».[7]
Wilhelm II. hatte selbst den Anstoß dazu gegeben, dass man ihn im Guten wie im Bösen mit Attila verglich, dem Etzel des Nibelungenlieds. In einer Rede, mit der er am 27. Juli 1900 in Bremerhaven Soldaten verabschiedete, die den Boxeraufstand in China bekämpfen sollten, hatte er, wahrscheinlich aus dem Stegreif, einen seiner beliebten Ausflüge in die Geschichte unternommen: «Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.» Zuvor hatte der Kaiser die Soldaten aufgefordert: «Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand.»[8] Dieser Abschied nicht nur vom Völkerrecht, sondern auch von christlicher Moral, auf die Wilhelm sonst so große Stücke hielt, stieß vor allem bei der sozialdemokratischen Opposition im Reichstag auf Empörung, und Wilhelms Ansprache erhielt das Etikett «Hunnenrede». Echte oder fingierte Soldatenbriefe aus China, die im sozialdemokratischen Vorwärts abgedruckt wurden, hießen «Hunnenbriefe». Der einflussreiche Pfarrer und Sozialpolitiker Friedrich Naumann bekannte in der von ihm gegründeten Zeitschrift Die Hilfe, es wäre ihm lieber gewesen, «wenn der Hunnenkönig Etzel nicht aus seinem Schlaf geweckt worden wäre». Aber Deutschlands militärisches Eingreifen hielt er für gerechtfertigt, weshalb ihn Gegner als «Hunnenpastor» verunglimpften, das Gegenbild zu Wilhelm Raabes Hungerpastor.[9]
In der antideutschen Propaganda des Ersten Weltkrieges stand dann das Ethnikon «Hunne» schlechthin für den Deutschen. Der englische Schriftsteller Rudyard Kipling gab in einem Gedicht, das The Times in London am 2. September 1914 druckte, den Ton vor. Er rief zum Kampf gegen Deutschland auf und warnte: «Der Hunne steht am Tor!» – The Hun is at the gate!.[10] Für manchen Franzosen war Wilhelm II. nun erst recht der Hunnenkönig Attila. Dessen Niederlage auf den Katalaunischen Feldern 451 schien sich beim «Wunder an der Marne» zu wiederholen, als sich das deutsche Heer nach dem Vormarsch bis zur...