EINLEITUNG
An einem Vormittag Ende der 390er Jahre[1] versammelte sich die Einwohnerschaft des Stadtstaates Athḗnai[2] – Bürger und Nichtbürger, Männer, Frauen und Kinder –, um den Gefallenen eines Krieges die letzte Ehre zu geben, den Athen in diesen Jahren im Bund mit Kórinthos, Thḗbai (Theben) und anderen Gemeinwesen gegen Spárta führte. Die Gefallenen hatte man drei Tage lang in der Stadt aufgebahrt; jetzt geleitete sie die Trauergemeinde in feierlicher Prozession in ein von hohen Zedern und Pinien überschattetes Parkgelände vor den Toren der Stadt an der westlichen Ausfallstraße, wo neben vielen privaten auch die öffentlichen Grabmonumente standen. Dort, im Kerameikós, der «schönsten Vorstadt», wie ein Zeitgenosse schreibt, wurden die Leichname der Gefallenen in einem Staatsgrab beigesetzt, über dem man große Marmorstelen errichtet und diese mit den Namen der Toten versehen hatte. Im Anschluß an die Totenklage und die Bestattung richtete ein von der Stadt bestellter Redner das Wort an die versammelten Athener. Die Grabrede (griechisch epitáphios lógos) in diesem Jahr hatte der bekannte athenische Redenschreiber Lysías verfaßt. Ob er sie selbst gehalten hat, ist umstritten, da Lysias zwar lange schon in Athen ansässig war, aber kein Bürgerrecht besaß – die ehrenvolle Aufgabe des Grabredners wahrzunehmen war wohl Bürgern vorbehalten. Vielleicht ist die Rede, wie sie auf uns gekommen ist, sogar nur eine Musterrede für einen entsprechenden Anlaß. Doch wie auch immer: Sie bietet jedenfalls ein typisches Beispiel für diese Gattung von Staatsreden. Trost zu spenden und der Trauer der Hinterbliebenen gerecht zu werden spielten in ihnen nur eine untergeordnete Rolle. Ihr eigentlicher Zweck war es, die Gefallenen als vorbildliche Bürger zu rühmen, die sich kämpfend für ihre pólis, ihr Gemeinwesen, geopfert hatten, und die versammelten Athener auf dieses Vorbild zu verpflichten. Zu diesem Zweck rief man mit solchen Reden der Trauergemeinde all das in Erinnerung, was die gemeinsame Identität und den Stolz der Polis ausmachte: Athens führende Stellung in der griechischen Welt, seine freiheitlich-egalitäre innere Ordnung, seine Wehrhaftigkeit. Und fast immer taten die Redner dies, indem sie die glanzvollen Taten Athens seit der mythischen Vorzeit rühmten; die Kriegstaten der jetzt Betrauerten verschwammen so mit denen ihrer Vorväter in einem überzeitlichen heroischen Kontinuum, das auch die am Grab versammelten Athener einschloß und ihnen ein zur Nachahmung verpflichtendes Exempel vor Augen stellte.
Auch Lysias’ Grabrede ging so vor. Sie rief den versammelten Athenern zunächst den Sieg ihrer Vorfahren über die sagenhaften Amazonen in Erinnerung, ihren Kampf für das Bestattungsrecht der Sieben, die gegen Theben gezogen waren, und die Verteidigung der schutzsuchenden Kinder des Heraklḗs gegen ihren Verfolger Eurystheús – alles Begebenheiten einer zwar sagenhaften, von den Zeitgenossen aber historisch gedachten Vergangenheit, die zum kanonischen Wissen der Athener um ihre älteste Geschichte gehörten. Den Höhepunkt dieser heroischen Tatenfolge bildete eine lange, ein Drittel der Rede umfassende Schilderung der athenischen Leistungen in den Perserkriegen zu Beginn des 5. Jahrhunderts: Als das Heer des Perserkönigs im Jahr 490 in Márathon in Attika landete, da, so erzählte der Redner, «erwogen unsere Vorfahren die Gefahren des Krieges nicht lange; … sie fürchteten nicht die Menge der Gegner, sondern vertrauten ihrer eigenen Tapferkeit» und «errichteten so ein Siegesmal über die Barbaren zur Ehre von Hellás» (§ 21–6). Einige Jahre später (481), so die Rede weiter, griff der Großkönig selbst mit noch größerer Heeresmacht an. Doch wieder stellten sich die Athener «den Massen aus Asien» und erfochten in mehreren Schlachten den Sieg. Es folgten Taten aus dem innergriechischen Krieg um die Mitte des 5. Jahrhunderts, den wir den Ersten Peloponnesischen Krieg nennen, sowie ein Preis der segensreichen Hegemonialherrschaft der Athener im Attischen Seebund. Die Beschwörung der großen Vergangenheit endete damit, daß die Athener ihre Tüchtigkeit auch in der bitteren Niederlage am Ende des Peloponnesischen Krieges nicht verlassen habe, wie die jüngst wieder erworbene Freiheit von fremder – spartanischer – Bedrückung zeige. In diesem Geiste seien auch jene gefallen, die man soeben begraben habe: «Ich jedenfalls preise sie glücklich und beneide sie», schließt die Rede.
Die Geschichte der Polis Athen, die Lysias’ Rede erzählte, war eine Geschichte von Kriegen. Natürlich hatte das mit dem Anlaß der Rede zu tun, doch waren es auch anderswo Kriege – und zwar besonders der Perser- und der Peloponnesische Krieg –, die den Blick der Polis Athen auf ihre Vergangenheit strukturierten. Dies hängt nicht nur damit zusammen, daß beide Kriege tiefgreifende politische, soziale und kulturelle Folgen für die Polis zeitigten. Gerade der Perserkrieg bildete darüber hinaus, wie wir sehen werden, in mehr als einer Hinsicht einen zentralen Bezugspunkt für das Bild, das sich die Stadt von sich selbst und von ihrer Geschichte machte. In dieser Hinsicht war Athen kein Sonderfall. Gerade die Perserkriege formten und veränderten in grundlegender Weise Lebenswelt und Geschichtsbild fast aller Griechen. Sie markierten daher eine Zäsur in ihrer Wahrnehmung der Vergangenheit, die bis heute als Epochengrenze der klassischen Zeit fortwirkt – daher beginnt auch dieses Buch mit den Perserkriegen. Ähnlich prägende Wirkung hatte der ebenfalls als Zäsur wahrgenommene Peloponnesische Krieg. Bezeichnenderweise waren es diese beiden großen Kriege des 5. Jahrhunderts, die maßgebliche Anstöße für die Entstehung einer neuen Form der gedanklichen Durchdringung und Speicherung des Wissens um die Vergangenheit gaben: die kritisch-analytische Geschichtsschreibung, wie sie modellbildend Hēródotos aus Halikarnassós und Thukydídēs aus Athen entwickelten. Ähnliche Bedeutung konnten für einzelne griechische Gemeinwesen aber auch andere Kriege gewinnen: Prägend für das Geschichtsbild der sizilischen Griechen zum Beispiel sollte der Karthagerkrieg zu Beginn des 5. Jahrhunderts werden; für jenes des im 4. Jahrhundert entstehenden unabhängigen messenischen Staates der sogenannte Große Helotenaufstand der 460er Jahre. Kriege strukturierten maßgeblich das Wissen der Griechen um ihre Vergangenheit.
Die genannten Beispiele von Kriegen in klassischer Zeit waren Ausnahmen, hinsichtlich ihrer Größe ebenso wie mit Blick auf ihre politischen, sozialen und kulturellen Wirkungen. Kriege waren in der klassischen griechischen Geschichte aber allgegenwärtig: Die Klassik, die wir in erster Linie mit geistigem Aufbruch, kultureller Blüte und revolutionären politischen Ideen verbinden, war nicht zuletzt eine Zeit permanenter Kriege. Schon im 5. Jahrhundert verging kaum ein Jahr ohne gewaltsame Auseinandersetzung in irgendeinem Teil der griechischen Welt – gegen nichtgriechische Mächte wie die Perser, vor allem aber untereinander. Und die griechische Geschichte des 4. Jahrhunderts stellt sich über weite Strecken als eine verwirrende Folge endloser Kriege zwischen beständig wechselnden innergriechischen Koalitionen dar. Diese Kriege waren keine Kabinettskriege; sie wurden zu einem erheblichen Teil von Bürgersoldaten ausgefochten, sie forderten einen hohen Blutzoll auch unter Nichtkombattanten, sie führten immer wieder zu Gewaltexzessen und Massenversklavungen, und sie zogen die Entwurzelung Tausender nach sich. Es ist ein Signum gerade der klassischen Zeit, daß neue Kriegstechniken wie der professionalisierte Seekrieg oder großangelegte Städtebelagerungen sowie eine bislang ungekannte Länge und Weiträumigkeit der Kriege die gesamte Bevölkerung in hohem Maße involvierten. Bürgerkriege (stáseis) innerhalb der Poleis, auch sie ein Signum dieser Epoche, trugen ein Übriges zur Allgegenwart von Krieg und Gewalt bei. Sie spiegelt sich auch in der künstlerischen und intellektuellen Produktion der Zeit: In der Bildkunst waren Gewaltdarstellungen omnipräsent; die Dichter der attischen Tragödie oder der Geschichtsschreiber Thukydides konfrontierten ihr Publikum mit intensiven Reflexionen über das Leid, die sozialen Folgen, ethischen Dilemmata und anthropologischen Grundlagen des Krieges; und für Politiktheoretiker wie Plátōn, Isokrátēs oder Aristotélēs war die Suche nach Auswegen aus der endlosen Spirale des (Bürger-)Krieges ein wichtiger Antrieb ihres Denkens.
Als allgegenwärtiger Bestandteil menschlichen Daseins war der Krieg auch ein zentrales Identitätsmerkmal der Griechen und ihrer Gemeinwesen. Ihr Selbstbild und Wertekanon waren maßgeblich durch das Kriegertum geprägt: Was Lysias’ Grabrede für Athen bezeugt, galt für andere Poleis genauso, für manche wie Sparta in noch gesteigerter Weise. Für griechische Männer wenigstens der besitzenden Schichten war Krieger-Sein selbstverständlich, auf die Bewährung im Kampf gründeten sie wesentlich ihre Ehre. Und wenigstens der Ideologie nach war das Kriegertum Bedingung für die...