Zweiter Teil
Nachrichten aus dem Norden – Caesars Commentarii
Abb. Seite 79: Denar (48 v. Chr.), Vorderseite der Münzabbildung auf S. 13: Kopf eines Galliers, Vercingetorix
Wir schreiben das Jahr 56 v. Chr.: Caesar führt, wie geplant, den dritten Sommer Krieg in Gallien. Er kann große Siege nach Rom melden, Kriege und Erfolge gegen die Helvetier, die Germanen, die Belger, gegen Völker der Hochalpen, gegen die Menapier an der Rheinmündung, gegen die Moriner am Ärmelkanal, gegen die Veneter in der heutigen Bretagne, gegen Völker in Aquitanien wie die Vocaten an der Garonne, die Biggerionen im Pyrenäenvorland und die Tarbeller am Golf von Biscaya.
Trotz der für die damalige Zeit entlegenen Kriegsschauplätze hielt der rastlose Oberbefehlshaber engen Kontakt mit Rom. Neben den jährlichen Berichten, die Caesar als Statthalter und Kriegsherr an den Senat zu senden hatte – sie bilden das Kernmaterial seiner Commentarii über den Gallischen Krieg – stand er in vielfältiger Korrespondenz mit zahllosen hochstehenden Persönlichkeiten, etwa mit Cornelius Balbus, die seine Interessen in Rom vertraten. Es heißt, er habe nebenher bis zu vier Schreibern zugleich Briefe diktieren können, und wenn er nichts anderes tat, sogar sieben (Plinius: Naturgeschichte 7,91; Plutarch: Caesar-Vita 17,4–7). Aber nicht nur Caesar schrieb in die Hauptstadt, sondern auch seine Generäle, die Legaten und andere Offiziere, und sicher auch viele einfache Soldaten. Die Eroberungen der kaum bekannten Stämme und Länder machten in Rom tiefen Eindruck. In einer Rede im Mai des Jahres 56 fing Cicero, vor kurzem erst mit Zustimmung Caesars aus seiner Verbannung zurückgekehrt, die erregte Stimmung ein: «Täglich melden die gallischen Briefe und Botschaften uns bisher unbekannte Namen von Völkern, Gauen und Landschaften.» (Cicero: Über die konsularischen Provinzen 22)
Caesar und seine Legionen eroberten nicht nur ein Land, sondern sie entdeckten es zugleich, und ihre Berichte, die sie über dieses Land nach Rom sandten, wurden zur Hauptquelle dessen, was man über Gallien und den Krieg, den Caesar dorthin brachte, wußte. Vor Caesars Kriegszügen waren Gallien, Germanien und Britannien in Rom weitgehend terra incognita, nur Händler und vielleicht einige der in den Grenzprovinzen stationierten Legionäre bekamen Land und Leute zu Gesicht. Landkarten existierten kaum und waren ungenau, vereinzelte ethnographische und geographische Traktate in griechischer Sprache berichteten von wundersamen Dingen. Besonders der Atlantik, der als Teil des die gesamte Welt umschließenden Oceanus verstanden wurde, faszinierte. Wir wissen gleich von zwei Griechen, die ein Werk über diesen Weltozean geschrieben haben: Der Seefahrer und Geograph Pytheas (4. Jahrhundert v. Chr.), von dessen Werk jedoch kaum etwas erhalten ist, beschreibt die keltische Atlantikküste einschließlich Britanniens. Auch der Philosoph und Historiker Poseidonios (135–50 v. Chr.), ein älterer Zeitgenosse Caesars, Lehrer Ciceros und Anhänger des Pompeius, berichtet über die Küsten und Völker des Nordens. Sein Werk ist jedoch bis auf wenige Fragmente nur indirekt bei dem Geographen Strabon überliefert, der eine Generation nach Caesar schrieb.
Geographie, Geschichte und Zeitgeschichte des Landes hinter den Alpen waren also nur schemenhaft und punktuell bekannt, und das wenige, was man wußte, war von mythischen Vorstellungen und märchenhaften Erzählungen durchwoben. Der Oceanus galt als ein geheimnisvolles Meer am Ende der Welt, dessen Wasser zäh, kaum schiffbar und voll von Meeresungeheuern war. Die Alpen wiederum wurden in der griechischen Dichtung noch im zweiten Jahrhundert v. Chr. bisweilen mit dem mythischen Gebirge der Rhipäen in Verbindung gebracht, hinter dem die sagenumwobenen Hyperboreer leben sollten und das so hoch sei, daß sich die Sonne jede Nacht hinter ihm verbergen könne. Griechische Dichtung und Fachschriftstellerei dieser Art beflügelten Phantasie und Vorurteile gegenüber der barbarischen Welt, in die Caesar vordrang, und vermengten sich mit den Nachrichten, die über römische Verwaltungsbeamte, Steuerpächter, Diplomaten, Händler und Legionäre von den Provinzen nach Rom gelangten. Die Provinz Gallia Transalpina existierte immerhin schon seit dem Jahr 121 v. Chr., und es bestanden diplomatische Beziehungen zu verschiedenen keltischen Fürsten und Völkern, unter anderem zu den Haeduern und in jüngster Zeit (seit 59 v. Chr.) auch zum Suebenkönig Ariovist. Doch die Flut an neuen Namen, die in jenen Tagen von Caesars Entdeckungen und Eroberungen kündeten, eröffnete jenseits der Alpen eine neue Welt, und Rom nahm rege daran Anteil. Es war, als würde, wie Mommsen meinte, ein neuer Erdteil entdeckt:
Die Erweiterung des geschichtlichen Horizontes durch Caesars Züge jenseits der Alpen war ein weltgeschichtliches Ereignis so gut wie die Erkundung Amerikas durch europäische Scharen. Zu dem engen Kreis der Mittelmeerstaaten traten die mittel- und nordeuropäischen Völker, die Anwohner der Ost- und Nordsee hinzu, zur alten Welt eine neue. (Mommsen, Bd. 3, 1854 ff., 273)
Das Jahr 56 war deshalb von herausragender Bedeutung, weil Caesar sich anschickte, die Grenze des damaligen Erdkreises zu überschreiten. Er machte sich nach Britannien auf, das am Rand der Welt im Oceanus lag. Im fernen Rom fieberte man mit dem kühnen Entdecker und seinen Soldaten mit. Aus dieser Zeit ist ein besorgter Brief Ciceros auf uns gekommen, den er seinem Bruder, der als Legat an der Britannienexpedition teilnehmen sollte, nach Gallien sandte. Vor allem die schroffen Steilküsten des Atlantiks beunruhigen Cicero, zugleich regen sie seine poetische Phantasie an. Er bittet seinen Bruder um mehr Informationen über Britannien, damit er darüber schreiben, ja sogar dem Dichterroß Pegasus die Sporen geben könne:
So … werde ich meine Pferde anschirren, ja sogar – du schreibst ja, meine Dichtung gefalle ihm [sc. Caesar] – das Viergespann des Dichters. Gebt mir nur Britannien; ich werde es in Deinen Farben mit meinem Pinsel malen. (Cicero: Briefe an den Bruder Quintus 2,14,2; vgl. auch 2,16,4)
Nicht nur für Cicero sind literarische Ambitionen bezeugt, Caesars Gallienfeldzug in Versen zu beschreiben. Varro Atacinus hat in seinem Epos Bellum Sequanicum – es ist nur der Titel überliefert – vermutlich Caesars Sieg über Ariovist dargestellt. Und Catull sagt von sich, daß er aus Liebeskummer bis ans Ende der Welt gehen will:
Mag er [sc. Catull] schreiten über die hohen Alpen,Caesars Siegesmale zu schauen, des Großen,Galliens Rhein, das grausige Meer, der BritenÄußerste Grenzmark. (Catull: Gedichte 11,9–12)
Die alte poetische Topik von den Grenzen der bewohnten Welt wird mit den aktuellen militärischen Expeditionen Caesars verknüpft, der sich so weit vorwagte wie bisher – abgesehen von dem fast vergessenen Pytheas – allenfalls mythische Helden: Dichter erzählen davon, daß Jason und die Argonauten mit ihrem göttlichen Schiff bis in den Atlantik vorgestoßen seien, ebenso hätten der Zeussohn Hercules auf seinem Weg zu den Hesperiden und Odysseus auf seinen Irrfahrten die heutige Straße von Gibraltar passiert und den Atlantik gesehen. Aber die meisten Mythen beschränkten sich auf Länder und Landschaften im Mittelmeerraum. Die Säulen des Herkules, die man an der Meerenge von Gibraltar lokalisierte, markierten in der Antike den äußersten Punkt der erschlossenen Welt. Das außerordentliche Kommando, das Pompeius für den Kampf gegen die Piraten zum unumschränkten Befehlshaber über alle Meere machte (67 v. Chr.), reichte bezeichnenderweise ‹nur› bis zu diesen Säulen. Jenseits davon stellten sich Geographen und Dichter mythische Lande vor, die den Menschen verwehrt waren: das legendäre Atlantis oder die paradiesische Insel der Seligen oder aber den immer wieder von Poeten und Philosophen imaginierten alter orbis, einen möglicherweise noch unentdeckten zweiten Erdkreis. Auf dem Weg dahin war nun, wie es schien, Caesar.
Die Erfindung einer Gattung
Caesars Kriegszüge und Expeditionen in den Norden waren innenpolitisch motiviert. Sie dienten der Demonstration seiner Macht und der dringend nötigen Propaganda, die seine durch das konfuse Konsulat beschädigte Reputation wiederherstellen sollte. Ihm mußte es darum gehen, seine großen Erfolge als Feldherr und Entdecker für alle sichtbar zu machen. Er suchte die Öffentlichkeit neben anderen Aktionen wie vieltägige Dankfeste, bei denen das römische Volk auf seine Kosten feiern konnte, auch über das Medium der ...