DIE SCHWEIZ ALS
WELTOFFENE HEIMAT
Metzgermeister im Veganerverein
Tim Guldimann, seit Jahren ist bekannt, dass Sie sich aktiv für den EU-Beitritt einsetzen. Als Botschafter und Diplomat haben Sie aber ein Land vertreten, in dem heute mindestens achtzig Prozent der Wähler gegen einen Beitritt sind. Arbeiteten Sie verdeckt, oder sind Sie schizophren?
Sie unterstellen mir, als Metzgermeister hätte ich keinen Veganerverein vertreten können. Nein, ich hatte nie ein Problem, in meiner Arbeit als Diplomat für die Position des Bundesrats einzustehen. In der zentralen Frage unserer Beziehungen zur EU geht es heute darum, die bilateralen Verträge zu sichern und auszubauen. Das ist auch mein unmittelbares Anliegen. Und das Beitrittsgesuch des Bundesrats liegt ja in Brüssel immer noch auf Eis.
Aber Sie sind doch immer wieder angeeckt mit Ihren Ansichten?
Ja, aber nur in der internen Diskussion in Bern. Das begann schon früh. 1986 hatte mich der damalige Staatssekretär Edouard Brunner nach dem Volksentscheid gegen den UNO-Beitritt in eine Arbeitsgruppe geholt. Wir sollten Ideen entwickeln, um in der Außenpolitik voranzukommen. Meine Position war, dass es um drei Grundsatzfragen gehen müsse: Um unsere Haltung zur (damaligen) EWG, um unsere Rolle im Herrschaftsverhältnis der Ersten zur Dritten Welt – so drückte ich mich aus als ehemaliger Drittwelt-Marxist – und vor allem um unseren Beitrag zur Wiedervereinigung Europas. Damit stieß ich auf blankes Unverständnis.
Natürlich habe ich den Zusammenbruch des Ostblocks nicht vorausgesehen, aber das deutsche Ziel der Wiedervereinigung habe ich immer als europäisches Anliegen verstanden. Europäische Politik war für mich eine Frage persönlicher Überzeugungen und nicht Gegenstand neutraler Beobachtung. Allein schon dieses Wort ärgerte mich. So hieß ja auch unsere Vertretung im Forum der Weltpolitik, bei der UNO in New York: «Beobachtermission».
Wie erlebten Sie dann den Umbruch 1989?
Der Fall der Mauer war für mich die historische Sternstunde. Ich bereute danach, nicht sofort nach Berlin gefahren zu sein. Ich erwartete auch für unser Land den großen Aufbruch und zettelte Diskussionsgruppen im Departement an. An einem Abendessen hielt unser Verteidigungsminister, Bundesrat Villiger, eine Rede – es war eine patriotische Lobeshymne auf unser Land, in dem doch alles besser sei als anderswo – kein Wort zum weltpolitischen Umbruch. Da überkam mich die Wut gegen diese Blindheit der Regierung, was ich an unserem Tisch lautstark zum Ausdruck brachte. Plötzlich stellte ich fest, dass es still wurde in der Runde, bis Staatssekretär Franz Blankart das Schweigen brach mit den Worten: «Ich hole mir Dessert.»
Am andern Tag warnte mich ein Freund und Kollege: «Du musst aufpassen, das sind die Leute, die über deine Zukunft entscheiden.» Ich habe dann selbst entschieden, einige Wochen später, und bin unter Absingen böser Lieder aus dem diplomatischen Dienst ausgetreten.
Aber das widersprach doch dem «Gang durch die Institutionen» Ihrer 68er Generation.
Ich hatte vergeblich versucht, als junger Diplomat die Obrigkeit im Departement aufzurütteln, natürlich in der arroganten Überzeugung, immer alles besser zu wissen. Damit bin ich gescheitert. Ich hatte Briefe an den Departementschef Felber übermittelt, wir müssten endlich etwas ändern, einmal mit einem Zitat aus Thomas Manns Königliche Hoheit, in dem erzählt wird, wie der Dorftrottel jeden Morgen zum Bahnhof pilgert, dort den abfahrenden Zügen nachwinkt und sich einbildet, sie fahren seinetwegen. Das war nicht so diplomatisch als Vergleich mit unserer Außenpolitik.
Sie haben sich dann aber weiter mit Außenpolitik beschäftigt.
Ja, ich ging ins Departement des Innern und war dort zuständig für die Außenbeziehungen im Wissenschafts- und Forschungsbereich. Ich hatte gleichzeitig einen Lehrauftrag an der Universität über Außenpolitik. Damals ging es um den europäischen Aufbruch nach der Wende und in der Schweiz um den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). In einem von mir organisierten Diskussionskreis höherer Bundesbeamten begrüßten wir euphorisch den Beschluss des Bundesrats, in Brüssel das Beitrittsgesuch einzureichen. Nur Bernhard Marfurt, damals persönlicher Mitarbeiter von Bundesrat Villiger, warnte vor der Stimmung im Land und der Gefahr für die bevorstehende EWR-Abstimmung. Er sollte recht bekommen.
Am 6. Dezember 1992 lehnte das Schweizervolk den Beitritt zum EWR mit 50,3 Prozent ab.
Ja, ich war enttäuscht, eigentlich erschüttert. Andere vergleichbare Staaten, Österreich, Schweden und Finnland, sind danach der Europäischen Gemeinschaft beigetreten. Wir huldigten unserer Unabhängigkeit. Symptomatisch für die nationale Unfähigkeit, die neuen Realitäten anzuerkennen, war für mich der Entscheid des Ständerats, der am Tag nach der Abstimmung hundertdreißig Millionen für die zweite Bautranche des Bundesratsbunkers in Kandersteg bewilligte! Stalin hatte 1942 einen ähnlichen Bunker in Kuibyschev, dem heutigen Samara, bauen lassen, damals standen aber die deutschen Truppen am Rande von Moskau.
Warum sind Sie dann doch wieder in den diplomatischen Dienst zurückgekehrt?
An einem Abend im Dezember 1995 kam Heidi Tagliavini mit der Ansage zu mir: «Du musst nach Tschetschenien, die brauchen jemanden, der Russisch kann.» Sie überzeugte mich sofort, dass ich für den schweizerischen OSZE-Vorsitz im folgenden Jahr die Leitung der OSZE-Mission in Grozny übernehmen sollte. Nach einem weiteren OSZE-Einsatz in Kroatien wurde ich dann 1999 Botschafter in Teheran und damit wieder ordentliches Mitglied des diplomatischen Dienstes.
Haben Sie sich mit Ihrem Land versöhnt?
Ja, und zwar so, dass ich die Auflehnung meiner 68er Generation gegen das schweizerische Selbstverständnis der Nachkriegszeit nicht mehr teile. Der Fehler dieser Haltung war, dass wir mit einer grundsätzlichen Kritik an der Schweiz die Felder Heimat und Patriotismus der populistischen Rechten überließen. Diese beiden Begriffe müssen wir von einem links-liberalen Standpunkt neu besetzen. Für mich ist die Schweiz die weltoffene Heimat, mit der ich mich identifiziere.
«… und übrigens, in der Schweiz ist alles besser» (Adolf Muschg)
Identifizieren Sie sich auch mit den besonderen Qualitäten der Schweiz, die sich von anderen Staaten unterscheidet durch ihre geschichtliche Entwicklung als Willensnation, durch ihre direkte Demokratie, die Neutralität, die vier Sprachen und die innere Stabilität …
… ja, ja, der Sonderfall. Nur bin ich strikt gegen zwei landläufige Folgerungen daraus. Erstens: Wenn wir in verschiedener Hinsicht anders sind als andere, sind wir deshalb noch nichts Besonderes, also implizit etwas Besseres. Ich verbinde den Begriff Sonderfall eher mit dem Wort «sich absondern», dann kommen wir der Sache schon näher.
Aber es gibt tatsächlich Merkmale unseres Landes, durch die wir uns von anderen Ländern unterscheiden. Auf die meisten dieser Merkmale bin ich auch stolz. Wir sind nicht nur in dem Sinne anders als die andern, wie eben alle sich voneinander unterscheiden und deshalb andersartig sind. Sondern unsere Andersartigkeit ist tatsächlich qualitativ anders. Nur eben deshalb noch nicht besser.
Zweitens können wir mit diesem Anderssein nicht rechtfertigen, dass wir uns am Aufbau Europas nicht beteiligen. Das Argument, die EU mag ja gut sein für die andern, aber nicht für uns, weil wir etwas Besonderes seien, ist überheblich. Mein Gegenargument ist, dass es gerade diese Merkmale sind, mit denen wir im europäischen Interesse einen wichtigen Beitrag zur europäischen Innenpolitik leisten könnten – abgesehen von unseren eigenen Interessen, die wir eigentlich nur dort erfolgreich verteidigen können.
Welches sind denn diese Merkmale der Schweiz, auf die Sie stolz sind?
Der Schwerpunkt dieser positiven Merkmale ist nicht das, was wir uns landläufig mit dem Sonderfall einbilden. Für mich steht die politische Kultur im Vordergrund, die bei uns von unten nach oben bestimmt wird. Zum Glück haben wir keine obrigkeitsstaatliche Tradition, einmal abgesehen von unserem Provinzadel, der sich fremden Königen andiente. Wir haben – auch im Vergleich zu Deutschland – flache Hierarchien mit tief angesetzter Entscheidungskompetenz. Ich erlebte das in offiziellen Treffen in deutschen Ministerien, wo ein subalterner Beamter in Anwesenheit des Chefs kaum wagt, sich zu äußern.
Anlässlich des Besuchs von Bundespräsident Gauck im April 2014 in Bern hatte ich eine Diskussion zur direkten Demokratie angeregt. Dort erklärte Ständerat Thomas Minder in erfrischender Direktheit dem hohen Gast unser System: «Herr Bundespräsident, Sie müssen halt verstehen, bei uns hat das Volk das letzte Wort», was ja im Subtext nur bedeuten konnte: «und nicht die Obrigkeit».
Aber Deutschland hat doch auch ein föderales System mit Ländern und Kommunen.
Ja, aber der Unterschied liegt vor allem im Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Am deutlichsten erlebe ich das beim Verhältnis zwischen Steuerzahler und Steuerbehörden. In der Schweiz habe ich die Steuerbehörde immer als Dienstleister erlebt, der mir hilft, wenn ich mit der Steuererklärung nicht weiterkomme. In Frankfurt habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich mit meiner Familie zwar gut ohne Hausarzt leben kann, nicht aber ohne Steuerberater. «Gehen Sie zu Ihrem Steuerberater» war die barsche Zurechtweisung einer deutschen Beamtin auf eine Verständnisfrage am Telefon.
Der Steuerberater ist...