Zwischen Arbeit und Ruhestand
Der Eintritt in den Ruhestand ist ein einschneidendes Ereignis. Unabhängig davon, ob Sie sich auf diesen Tag freuen oder ob Ihnen der Gedanke daran ein mulmiges Gefühl bereitet: Es wird sich vieles ändern.
Vielleicht träumen Sie schon lange davon, endlich auszuschlafen und keinen Chef mehr zu haben, der Ihnen eine Unzahl von Aufgaben mit hohem Termindruck aufbürdet. Vielleicht sehnen Sie sich danach, tun und lassen zu können, wonach Ihnen der Sinn steht. Am Anfang fühlt sich das meist auch gut an. Einmal durchatmen! In den Tag hinein leben! Die ersten Wochen als verlängerten Urlaub betrachten! Sich der Illusion hingeben, nach wie vor Teil der arbeitenden Bevölkerung zu sein. Die aufkeimende Befürchtung verdrängen, nun zum alten Eisen zu gehören, zur Gruppe derer, die man nicht mehr braucht.
Irgendwann aber kommt Unruhe auf. Eine neue Betriebsamkeit macht sich breit. In Haus und Garten muss getan werden, wofür bisher keine Muße war. Das füllt zunächst aus. Bald aber ist alles erledigt. Es gibt keine wackeligen Stühle mehr, nirgends mehr fehlt ein Nagel, die letzte Schublade ist aufgeräumt. Dann fragen Sie sich: Was fange ich mit meiner neu gewonnenen Zeit an? Und genau hier liegt Ihre neue Aufgabe. Herauszufinden, was Sie Ihnen wichtig ist. Zu entscheiden, wofür Sie Ihre Zeit investieren wollen. Zu planen, wie Ihre Tage in Zukunft aussehen werden.
Im Schwäbischen heißt Ruhestand „Dätsch-mer-Stand“. Übersetzt heißt das „Du könntest etwas für mich tun.“ und dabei klingt auch ein „Du hast doch jetzt Zeit.“ mit. Wenn Sie nicht festlegen, was Ihre Pläne sind, besteht die Gefahr, dass Sie von Ihren Mitmenschen vereinnahmt werden, weil Sie deren Wünschen nichts entgegenzusetzen haben. Dabei geht es nicht darum, jede Bitte abzuschlagen, sondern darum, dass Sie selbst entscheiden, wann Sie „Ja“ sagen und wann Ihnen etwas Anderes wichtiger ist.
Der richtige Zeitpunkt
Sie können natürlich auch einfach abwarten und denken: „Es wird sich schon finden.“ Doch dann besteht die Gefahr, allmählich einem Schlendrian zu verfallen und die Zeit totzuschlagen mit dem nachmittäglichen Fernsehprogramm, mit Sudoku oder Kreuzworträtseln. Wieder in Schwung zu kommen ist weitaus schwieriger, als den Schwung und die Struktur auszunutzen, die Sie aus dem Arbeitsleben mitbringen und sich für neue Pläne zu begeistern.
Noch besser ist es, sich schon ein Jahr vor Eintritt ins Rentenalter zu fragen, wie Sie den kommenden Lebensabschnitt gestalten möchten. Die Generation der Eltern und Großeltern kam selten in den Genuss, viele Jahre im Ruhestand zu verbringen; ihre Lebenserwartung war nach einem oft körperlich anstrengenden Arbeitsleben nicht hoch. Und so fehlt es im Umfeld an befriedigenden und lockenden Vorbildern für ein Leben als Rentner.
Seit ich mich mit dem Thema Ruhestand und Älterwerden beschäftige, sammle ich Berichte und Zeitungsartikel von Menschen, die auch in dieser Lebensphase noch voller Unternehmungslust und Eigeninitiative stecken. Besonders beeindruckt haben mich die Porträts hochbetagter Menschen, die Ursula Markus und Paula Lanfranconi in ihrem bebilderten Buch „Schöne Aussichten – Über Lebenskunst im hohen Alter“ vorstellen. Diese 80 bis 100-Jährigen gestalten trotz mancher Schwierigkeiten und oft auch gesundheitlicher Probleme ihr Leben. Sie haben etwas gefunden, das Sinn für sie macht.
Dank einer gesünderen Lebensweise und einer guten medizinischen Versorgung liegen heute statistisch gesehen vor den meisten Neurentnern noch rund 20 bis 25 Jahre. Es gilt, diese nicht ungenutzt vorbeiziehen zu lassen, sondern sie mit Leben zu füllen.
Den Übergang gestalten
Für Angestellte ist der Tag des Ausstiegs in der Regel vorgegeben, sei es, weil sie die reguläre Altersgrenze erreicht haben, sei es, weil ein Abfindungsangebot auf dem Tisch liegt.
Markus P. schreckt die Vorstellung, von heute auf morgen nicht mehr zum Betrieb zu gehören, die Kollegen und Mitarbeiter nicht mehr zu sehen. Er hat den Gedanken stets verdrängt, schon bald Rentner zu sein, denn er fühlt sich fit. Der Eindruck, gebraucht zu werden, hat ihn immer beflügelt. Gerne würde er weiter arbeiten, zumindest stundenweise.
Deshalb bittet er seinen Vorgesetzten um ein Gespräch, um zu prüfen, ob ein solcher Einsatz möglich ist. Er erklärt seine Bereitschaft, Vertretungen zu übernehmen oder in Projekten beratend zur Seite zu stehen. Mit seinem Fachwissen, seiner Erfahrung im Umgang mit langjährigen Kunden und den Entwicklungen im Unternehmen will er den Chef überzeugen.
Damit sein Vorschlag größere Chancen hat, bringt er unterschiedliche Zeitmodelle und Einsatzmöglichkeiten ins Spiel. Ihm ist bewusst, dass er dadurch zwar etwas weniger flexibel in seiner privaten Planung wird, doch die Vorstellung, sich nur schrittweise von den beruflichen Verpflichtungen lösen zu müssen, ist ihm das wert.
Ein geordnetes Haus hinterlassen
Berthold F. hat noch etwas Zeit, bis er die Altersgrenze erreicht und in den Ruhestand verabschiedet wird. Natürlich freut er sich auf diesen neuen Lebensabschnitt, doch empfindet er auch Verantwortung dem mittelständischen Unternehmen gegenüber, für das er lange Jahre tätig war. Er ist als Vertriebsleiter Experte auf seinem Gebiet und hat in seiner berufstätigen Zeit Erfahrung und viel Wissen gesammelt, das mit seinem Weggang nicht versanden soll. Er will es den jüngeren Kollegen und vor allem seinem Nachfolger zur Verfügung stellen.
Berthold F. weiß, dass selten ausreichend Zeit bleibt, einen Nachfolger einzuarbeiten. Auch gibt es noch keine speziellen firmeninternen Plattformen für solche Zwecke. Deshalb will er schriftliche Notizen anfertigen. Und natürlich alle Unterlagen ordnen und die Akten auf den neuesten Stand bringen. Bereits zwei Jahre vor dem Tag seiner Verabschiedung beginnt er damit zu sammeln, welche Themen für eine Weitergabe wichtig sind:
- Wie ist die Historie einer Kundenbeziehung?
- Welche Kontakte bestehen zu Lieferanten?
- Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen?
- Wie kam es zu einzelnen Entscheidungen?
- Welche Informationsquellen stehen zur Verfügung?
- Welche Vorgehensweisen haben sich bewährt?
- Warum ist ein Projekt gescheitert?
- Gibt es Checklisten für sich wiederholende Abläufe oder sollten sie erstellt werden?
Im Laufe der Zeit merkt er, dass viele Dinge, die er für selbstverständlich gehalten hatte, zu seinem persönlichen Erfahrungsschatz gehören und deshalb in die Notizen mit einfließen müssen. Doch es ist schwer, neben der regulären Arbeit Zeit dafür zu finden.
Er spricht deshalb mit den Verantwortlichen, überzeugt sie von der Wichtigkeit seines Vorhabens und handelt aus, die erste Zeit des Ruhestands bezahlt noch dafür nutzen zu können. Auch ist er bereit, bei Bedarf stundenweise in die Firma zurückzukehren, um im Team jüngere Kollegen zu unterstützen.
Diese Absprache ist für das Unternehmen von unschätzbarem Wert. Das Wissen bleibt erhalten; sie spart darüber hinaus Kosten und Zeit; die Übergabe kann effizient erfolgen. Für Berthold F. bedeutet sie die verdiente Wertschätzung seiner jahrelangen Arbeit im Unternehmen und vermittelt ihm gleichzeitig das befriedigende Gefühl, nach seinem Weggang ein „geordnetes Haus“ zu hinterlassen.
Im Gegensatz zu einem Angestellten kann mein Gesprächspartner Raimund D. als Selbständiger sein Arbeitspensum allmählich reduzieren und damit länger im Berufsleben aktiv bleiben. Er plant, in Zukunft nur noch für langjährige Kunden zu arbeiten und sich um Projekte zu kümmern, die ihn wirklich locken. So bleiben ihm freie Tage für private Vorhaben und mehr Muße, nicht zuletzt auch deshalb, weil er kein Marketing mehr macht. „Jetzt kann ich endlich mehr Zeit auf dem Wasser verbringen. In den letzten Jahren kam ich nur sporadisch zum Segeln.“ So wie Raimund D. ging ich auch vor: Als erstes habe ich meine bundesweiten Aufträge nicht mehr fortgeführt, weil das zu Folge hatte, viel Zeit auf der Straße, in der Bahn oder im Flugzeug zu verbringen und an den Abenden im Hotelzimmer zu sitzen. Dann übergab ich meine regionalen Tagesseminare an einen jüngeren Kollegen. Beibehalten habe ich das Coaching. Die Klienten kommen ins Haus und nach einem Gespräch kann ich mich wieder meinen anderen Interessen widmen.
Sollten Sie an diesem Modell Gefallen finden, dann ist es gut, sich zu fragen, wie viel Zeit in Ihre Arbeit fließen soll und welche Stunden und Tage Sie in Zukunft dem Privatvergnügen widmen werden. Wer hier keine Entscheidung trifft, wird bald merken, dass er ungewollt weiterarbeitet, weil nichts da ist, was in der Freizeit lockt.
Ruhestandsglück heißt, loslassen zu können.
INGRID M. ZIEGLER
Zum Glück hat Raimund D. eine...