Einleitung
von Prof. Dr. Max Otte
Vom »Tulpenwahn« hörte ich zum ersten Mal 1986 als 21-jähriger Student, als Charles Kindleberger1 auf einer Konferenz im Institute for International Economics in Washington einige besonders amüsante Anekdoten aus Charles MacKays Klassiker zum Besten gab. Es faszinierte mich sofort, wie Menschen in der damals führenden Wirtschafts- und Handelsnation der Welt – Holland – Haus und Hof versetzten, um Tulpenzwiebeln zu erwerben, wie schon damals Terminbörsen entstanden und wie es kam wie es kommen musste, als die Tulpenblase platzte. Seitdem haben mich Finanzkrisen nicht mehr losgelassen.
Das Finanzmagazin Forbes nannte Charles MacKays Werk das »wichtigste Buch, das je über Investments geschrieben worden ist«.2 Lesen Sie die authentischen und äußerst unterhaltsamen Berichte über den Tulpenwahn in Holland von 1634 – 1637, John Laws großes Mississippi-Projekt von 1719 – 1720, das ganz Frankreich ruinierte und die englische Südseeblase von 1720, die durchaus Ähnlichkeiten mit der Technologieblase von 1997 – 2000 und der Emission der Aktie der Deutschen Telekom aufweist.
Bereits 1992 wurde eine deutsche Teilübersetzung veröffentlicht.3 Allerdings betonte die Ausgabe diejenigen Kapitel aus MacKays umfangreichem Werk, die sich mit Hexen- und Wunderglauben beschäftigten. Die Geschichte der Finanzblasen – knapp die Hälfte des Werks – wurde ausgeblendet. Spätestens nach dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 wurde es höchste Zeit, dieses Versäumnis zu korrigieren.
Zusammen mit Joseph de la Vegas Confusión de Confusiones – einem Buch über die Mechanismen des Handels an der Amsterdamer Börse im späten 17. Jahrhundert - liegen nun die beiden wichtigsten Klassiker zur Geschichte der Spekulation in der Neuzeit zum ersten Mal in einem Band in deutscher Sprache vor.4 Ein Herausgeber der Financial Times wählte sie auf Platz eins und zwei der besten Investmentbücher, die je geschrieben wurden.5
Charles MacKay setzte es sich zum Ziel, die massenhaften Selbsttäuschungen und das Herdenverhalten zu entlarven und zu zeigen, wie gelegentlich bei Massenphänomenen die Rationalität aussetzt. (Der französische Arzt Gustave le Bon lieferte 1895 mit seiner Psychologie der Massen die erste wissenschaftliche Abhandlung hierzu nach6) Demgegenüber steht bei Joseph de la Vega das Tagesgeschäft und die Manipulationen an der Amsterdamer Börse im Vordergrund. Nach de la Vega kämpfen verschiedene Gruppen – Bullen und Bären, Aktienbesitzer, Kaufleute und Spekulanten – miteinander und versuchen, durch List und Verwirrung Vorteile zu erlangen. Wenn man de la Vega liest, kommt man zu der Einsicht, dass sich das Verhalten an den Börsen schon zur Frühzeit unserer weltumspannenden Zivilisation nicht besonders von heutigen Zeiten unterschieden hat.
Faszinierend ist der Klassiker von de la Vega schon deshalb, weil im Amsterdam der Jahre um 1688 – der führenden Börse jener Zeit – schon alle Aspekte der Spekulation vorhanden waren, die wir eigentlich erst in einem viel späteren Zeitalter vermuten, zum Beispiel Leerverkäufe, Optionskontrakte (Calls und Puts, vielleicht sogar Straddles, wie es an einigen Stellen bei de la Vega angedeutet wird), Ersatzpapiere in geringerer Stückelung, Haussiers, Baissiers und Manipulation durch Insider.7 »Schon damals wurden Ausdrücke wie Marge, Prolongation, Liquidierung, Limit oder Courtage verwendet.«8 So viel hat sich also anscheinend nicht geändert seit den Anfängen des modernen Kapitalismus. »Spekulanten spekulieren immer noch, und die Risikoaversen wenden Absicherungsstrategien an…
Das wirft eine interessante Frage auf. Sind unsere heutigen Märkte weniger komplex als wir glauben? Oder waren die früheren Märkte komplexer als man uns glauben gemacht hat?«9 Lassen wir die Frage im Raum stehen.
Bis heute gibt es zur Funktionsweise der Börse drei sehr unterschiedliche Ansichten. Viele Ökonomen vertreten die erste Ansicht, dass nämlich Märkte prinzipiell effizient seien, und dass also Preise an den Märkten richtige und wichtige Signale darstellen. Zweitens vertritt eine Minderheit die Ansicht, dass Märkte oftmals ineffizient sind und dass gerade Finanzmärkte zu Übertreibungen und Manien neigen, wenn sie nicht reguliert werden. Dieser Minderheit unter den Ökonomen rechne ich mich zu. Drittens gibt es eine, insbesondere bei Laien weitverbreitete Auffassung, dass »bestimmte Kreise« die Finanzmärkte nach Gutdünken manipulieren und so hohe Gewinne abschöpfen.
Fundamental effiziente Märkte: Die Mehrheit der modernen Ökonomen geht davon aus, dass Märkte prinzipiell effizient sind und normalerweise die volkswirtschaftlich besten Ergebnisse erzielt werden, wenn man den Märkten freien Lauf lässt. Danach kann es eigentlich keine Manien, Paniken und Crashs geben, denn das was ist, ist effizient und gut. So versucht Peter Garber im Sinne des Theorems effizienter Märkte aufzuzeigen, dass es durchaus ökonomische Gründe für die exorbitanten Preisanstiege bei bestimmten holländischen Tulpenzwiebeln gab:10 diese Zwiebeln waren nicht beliebig vermehrbar, also ein knappes Gut. Die sehr hohe und unelastische Nachfrage musste also zu hohen Preisen führen. Dennoch kann man sich fragen, warum ganze Häuser und Landsitze für eine einzige Zwiebel ihren Besitzer wechselten und was an diesen Zwiebeln so wertvoll war.
Dieses »neoliberale Paradigma« hat die Diskussion seit den späten 70er Jahren geprägt, als in den USA und England mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher eine weitreichende Deregulierungs- und Liberalisierungswelle einsetzte, die bis 2007 andauerte. Mit dieser Liberalisierung wurden bezeichnenderweise gerade viele der Regelungen außer Kraft gesetzt, die während der Weltwirtschaftskrise nach 1929 als Reaktion auf Marktversagen in den USA durch Roosevelts »New Deal« und in Deutschland durch Hjalmar Schacht und später durch die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft eingeführt worden waren. Selbst nach dem Ausbruch der Finanzkrise dominiert das Paradigma effizienter Märkte unter Ökonomen. Alexander Rüstow, einer der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft, sprach diesbezüglich von der »Religion der Marktwirtschaft«.11 Deutlich wird dieser Glaube an effiziente Märkte auch in dem folgenden Witz, der über Ökonomen kursiert: Gehen zwei Ökonomen über die Straße. Sagt der eine: »Sie, da liegt eine 100-Euro-Note!« Sagt der andere: »Das kann gar nicht sein, denn wenn sie da läge, hätte sie schon längst jemand aufgehoben.«
Fundamental ineffiziente Märkte: Demgegenüber will MacKay zeigen, dass Finanzmärkte oftmals geradezu dem Wahnsinn verfallen und oft nichts mit Effizienz zu tun haben, eine Meinung, die ich teile. Durch seine plastischen Schilderungen illustriert MacKay, wie leicht es ist, dem Spekulationsfieber zu verfallen und wie schwer, einen kühlen und klaren Kopf zu behalten, wenn auf einmal das ganze Land spekuliert. In den letzten zwanzig Jahren hat die verhaltenwissenschaftliche Finanzforschung vielfach belegt, dass wir uns bei unseren Entscheidungen in Finanzdingen oft nicht von kühler Berechnung leiten lassen, sondern von Emotionen. Daniel Kahnemann bekam den Nobelpreis dafür, dass er mit Hilfe des Kernspintomographen zeigte, dass bei Finanzentscheidungen oftmals das Kleinhirn der aktivste Teil des Gehirns ist – und dieser Teil verbindet uns evolutionsgeschichtlich mit den Reptilien.12 Oftmals nimmt unser Gehirn auch Abkürzungen und kommt so zu Fehlentscheidungen. So ist nun wissenschaftlich belegt, dass Finanzmärkte gelegentlich »durchdrehen« können. Verwunderlich ist nur, dass die Ergebnisse der verhaltenwissenschaftlichen Finanzforschung die Religion der Marktwirtschaft noch nicht erschüttert haben.
Wenn Märkte, insbesondere Finanzmärkte, aber fundamental ineffizient sind, dann kann derjenige, der einen klaren Kopf bewahrt, die Schwankungen ausnutzen, um Geld zu verdienen. Was in der Theorie sehr einfach scheint, ist in der Praxis sehr schwer: Es erfordert eine extreme Unabhängigkeit des Urteils Aktien oder andere Vermögensgegenstände dann zu kaufen, wenn sie keiner will und dann zu meiden, wenn jeder sie haben will. Diese Investmentphilosophie, deren bekanntester Vertreter Warren Buffett ist und der ich ebenfalls anhänge, heißt »Value Investing«, wertorientiertes Investieren.13
Märkte als Spielball starker Akteure: In seinem mutigen und gut geschriebenen Buch Crashkurs spricht Börsenhändler Dirk Müller von einer »internationalen Finanz- und Machthydra«, die die Märkte manipuliert.14 Steigen die Ölpreise, treiben Hedgefonds und Spekulanten ihr Spiel. Fallen die Aktienkurse, werden diese durch superreiche Familien im...