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E-Book

Aufklärung

Das europäische Projekt

AutorManfred Geier
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783644016118
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Seit nunmehr dreihundert Jahren findet der Kampf um Aufklärung und Menschenrechte statt. Als Epochenbegriff im engeren Sinne umfasst die europäische Aufklärung nicht zufällig das Jahrhundert zwischen der Glorreichen Revolution in England und der großen Französischen Revolution. Sie ist eine philosophische und politische Programmidee, die bis heute nichts von ihrer kämpferischen Energie verloren hat. In diesem Buch spannt Manfred Geier den Bogen von den Begründern der Aufklärung - John Locke, Immanuel Kant, Moses Mendelssohn, Jean-Jacques Rousseau und Denis Diderot - zu den Vertretern aufgeklärten Denkens in unserer Zeit wie Hannah Arendt und Karl Popper, Jürgen Habermas und Jacques Derrida. Die ungebrochene Aktualität der Aufklärung dokumentieren nicht nur die grauenvollen totalitären Rückfälle, die vor allem im 20. Jahrhundert stattgefunden haben. Auch gegenwärtig hat das Projekt Aufklärung auf dramatische Weise an globaler Relevanz gewonnen - man denke nur an die fortdauernden Konflikte mit neuen Formen des religiös-politischen Fundamentalismus. Eine dramatische Geschichte des aufklärenden Denkens - und ein Plädoyer für Toleranz und Vernunft in unserer Zeit.

Manfred Geier, geboren 1943 in Troppau, studierte Germanistik, Philosophie und Politik in Frankfurt/Main, Berlin und Marburg. Er lehrte viele Jahre Sprach- und Literaturwissenschaften an den Universitäten Marburg und Hannover. Jetzt lebt Manfred Geier als freier Publizist in Hamburg.       Buchpublikationen, u.a.: Das Sprachspiel der Philosophen. Reinbek 1989; Der Wiener Kreis. Reinbek 1992; Karl Popper. Reinbek 1994; Das Glück der Gleichgültigen. Reinbek 1997; Orientierung Linguistik. Reinbek 1998; Fake. Leben in künstlichen Welten. Reinbek 1999; Kants Welt. Reinbek 2003; Martin Heidegger. Reinbek 2005; Worüber kluge Menschen lachen. Reinbek 2006; Was konnte Kant, was ich nicht kann? Reinbek 2006; Die Brüder Humboldt. Reinbek 2009; Aufklärung. Das europäische Projekt. Reinbek 2012; Geistesblitze. Eine andere Geschichte der Philosophie. Reinbek 2013; Leibniz oder Die beste der möglichen Welten. Reinbek 2016 (als E-Book); Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Reinbek 2017.  

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Leseprobe

Die Wahrheit kann jedes Licht vertragen


Warum der humorvolle Gentleman Shaftesbury sich über religiöse Fanatiker lustig machte

John Locke vertraute darauf, dass jeder Mensch selbst denken kann. Wer es noch nicht vermag, kann dazu angeleitet werden. Das war das Angebot des englischen Aufklärers, der auf den eigenständigen Verstandesgebrauch den größten Wert legte. Seine Gedanken über Erziehung entwickelten ein pädagogisches Programm, wie der junge Mensch so geleitet werden kann, dass er schließlich, seiner eigenen Führung anvertraut, als mündiger Bürger seine geistige und politische Freiheit sinnvoll zu gebrauchen weiß. Er kann ja nicht immer unter Obhut oder Vormundschaft bleiben.

Doch was soll man mit denjenigen machen, die nicht selbst denken oder autonom handeln wollen, sondern es vorziehen, das nachzumachen und nachzusprechen, was ihnen vorgegeben worden ist? Vormächte lassen sich nicht gern auf offene Gespräche ein, Vorbeter mögen keine Widerrede, und fundamentalistisch stabilisierte Vorurteile haben meist ein stärkeres Beharrungsvermögen als der stets auch riskante Gebrauch des eigenen Verstandes, dessen Urteilsfähigkeit angesichts vielfältiger Problemsituationen immer wieder aufs Neue herausgefordert wird. Wie soll man mit Menschen argumentieren, die nicht bereit sind, sich durch die Kraft eines besseren Arguments überzeugen zu lassen, sondern hartnäckig auf ihren vorfabrizierten Urteilen beharren? Wer sich als Aufklärer versteht, kann sie ja nicht überreden und auch nicht gewaltsam gegen sie vorgehen. Was tun?

Eine Möglichkeit bietet das befreiende Lachen. Es richtet sich gegen die geistigen, religiösen und staatlichen Vormünder, die sich der freien Diskussion und vernünftigen Argumentation entziehen. Es entschärft die Gewalt, die von ihnen ausgeht, und demonstriert, dass man ihnen die geforderte Achtung versagt. Wer über eine Sache lacht, verweigert ihr den nötigen Respekt. Zugleich zeigt dieses Lachen den Nachbetern und unselbständigen Nachfolgern, dass ihr Verhalten lächerlich ist, gemessen an den Möglichkeiten des eigenen Verstandesgebrauchs, der ihnen als Menschenrecht zusteht.

Das Lachen hat in der Philosophie keinen guten Ruf, und in der Regel lachen Philosophen nicht, sondern leisten ihre gedankliche Arbeit mit großer Ernsthaftigkeit und moralischer Strenge. Sie haben sich von den Lachtraditionen des satirischen Wissens abgekoppelt. Zwar hat seit Platons Ideenlehre das Lächerliche («geloia») seinen Platz in der Philosophie, aber darüber sollte nicht gelacht werden, war es doch auf einer der untersten Stufen in seiner Ideen-Hierarchie angesiedelt, sehr weit entfernt von der höchsten Idee des Guten. Das Lächerliche bereitet Unlust und sollte gemieden werden. Auch der Humor gehört nicht zu den typischen Eigenarten eines Philosophen. Doch es gibt Ausnahmen. Sie tauchten zuerst in der englischen Aufklärung auf. Nicht zufällig beginnt die moderne Wortgeschichte von «Humor» im 17. Jahrhundert in England, wo sich die liebenswürdige Heiterkeit («good humour») eng mit den vernünftigen Anlagen («good nature») des Menschen verbindet. Ein Zögling und Schüler John Lockes hat es zuerst praktiziert: der humorvolle Gentleman-Philosoph Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, der mit aufgeklärtem Verstand, geistreichem Witz und guter Laune die Vormächte seiner Zeit attackierte und sie einer «Probe des Lächerlichen» unterzog. Wer sie bestand, fand seine Anerkennung. Über die anderen durfte gelacht werden.

1. Eine Erziehung zum Gentleman

Schon während ihrer ersten Begegnung im Juli 1666 sprachen Anthony Ashley Cooper und John Locke über Ashleys fünfzehnjährigen Sohn, sein einziges Kind, das ihm große Sorgen bereitete. Es war ein schwächlicher Knabe, äußerst mager und durch eine schwere Krankheit körperlich entstellt. Nur ein kurzes qualvolles Leben schien ihm bevorzustehen. An eine politische Laufbahn war nicht zu denken. Ashley fürchtete, dass es mit seiner Familie zu Ende ging.

Als Locke ein Jahr später zu Ashley zog, sollte er nicht nur als dessen Sekretär, philosophischer Berater und ärztlicher Betreuer tätig sein. Er musste sich auch um die Erziehung dieses Jungen kümmern und schließlich noch ein besonders heikles Problem lösen. Der junge Ashley sollte möglichst schnell heiraten und für den gewünschten Nachwuchs sorgen. Er selbst war noch zu jung und unerfahren, um sich allein eine Frau zu suchen; und sein Vater hatte als Politiker und Schatzkanzler zu viel zu tun, um sich darum kümmern zu können. So wurde Locke damit betraut, eine passende Ehefrau zu finden, die vor allem gesund, gut erzogen und nicht durch das großstädtische und höfische Leben in London verdorben sein sollte. Er machte sich auf die Suche und stieß schließlich auf Lady Dorothy Manners, eine Tochter des Grafen von Rutland. Erfolgreich kümmerte er sich um das gewünschte Arrangement. Ende September 1669 fand im Belvoir Castle, dem Sitz der Rutlands im mittelenglischen Leicestershire, die Hochzeit statt.

Die junge Lady Dorothy Ashley war mit ihrem Schicksal nicht unzufrieden. Das Leben im Londoner Exeter House bot mehr angenehme Reize als der Aufenthalt auf dem Lande, fern der Hauptstadt. Auch über ihren Mann konnte sie sich nicht beklagen. Fürsorglich kümmerte er sich um seine Frau, die schon bald schwanger wurde. Sie freute sich auf das Kind. Doch dann erkrankte sie schwer. John Locke, der im Winter 1669/70 wegen der rußigen und feuchten Londoner Luft selbst unter fürchterlichen Hustenanfällen litt, konnte ihr zwar das Leben retten, aber eine Fehlgeburt nicht verhindern. Ein Jahr später war Lady Ashley wieder schwanger, und Locke fürchtete, dass ihre Angst vor einer erneuten Fehlgeburt gerade das provozierte, wovor sie sich ängstigte. Doch diesmal ging es gut.

Am 26. Februar 1671 kommt ein gesunder Junge zur Welt (dem später noch sechs Geschwister folgen werden). Endlich hat der alte Lord Ashley einen Enkel, den er schon bald statt seines Sohnes als künftigen Erben seines Vermögens einsetzt. John Locke ist nicht nur der Geburtshelfer des neuen Anthony Ashley Cooper. Er ist auch sein Erzieher, der vom ersten Tag an sich um seine körperliche und geistige Entwicklung kümmert. Wie er dabei vorgeht, lässt sich in den Educational Writings von Locke nachlesen, vor allem in seinen Gedanken über Erziehung (Some Thoughts concerning Education)[59]. Er hat sie zwar einige Jahre später aufgeschrieben, und sie wurden erst 1693 veröffentlicht. Doch Lord Ashley wird selbst daran erinnern, dass seine Erziehung, ebenso wie die seiner sechs Geschwister, von frühester Kindheit an durch Locke geleitet worden ist «according to his own principles (since published by him), and with such success that we all of us came to full years with strong and healthy constitutions»[60], was angesichts der degenerativen Gebrechlichkeit seines Vaters keine Selbstverständlichkeit gewesen ist.

Lockes Gedanken sind keine abstrakten Überlegungen zur Erziehung von jedermann. Sie bieten keine systematische Philosophie der Erziehung, sondern verfolgen ein praktisches Ziel, das mit der konkreten Problemsituation zusammenhängt, in der sich Locke mit seinem Zögling befindet: Wie soll die Bildung dieses jungen Menschen zu einem körperlich gesunden und geistig regen Gentleman stattfinden, der in der staatlichen Ordnung eine nützliche Stellung einnehmen kann?

Wiederholt weist Locke darauf hin, dass seine «Hauptsorge dem Stande des Gentleman» gelte. Doch sie ist nicht darauf beschränkt. «Denn wenn dieser Stand erst einmal durch Erziehung in Ordnung gebracht worden ist, wird er auch alle übrigen sehr schnell in Ordnung bringen.»[61] Der Gentleman ist für Locke die Modellperson für ein glückliches Leben in einem liberalen Staat vernünftiger Menschen. An sie richtet sich Lockes Anspruch: «Die gute Erziehung der Kinder ist so sehr eine Sorgepflicht der Eltern, Wohlfahrt und Gedeihen der Nation hängen so sehr davon ab, dass ich sie jedermann ernstlich ans Herz legen möchte.»[62] Bereits der erste Satz seiner Gedanken, mit dem Locke den römischen Moralisten und Satiriker Juvenal zitiert, spricht jeden an: «Ein gesunder Geist in einem gesunden Leib, das ist eine kurze, aber vollständige Beschreibung eines glücklichen Zustandes in dieser Welt.»[63] Mens sana in corpore sano[64], statt all der ausschweifenden Laster und verstockten Dummheiten, politischen Übel und moralischen Katastrophen, die das gesellige Leben vergiften!

Der kleine Ashley wird es am eigenen Leib erfahren haben. Um einen gesunden Körper ausbilden zu können, achtet Locke zunächst sorgfältig auf Maßnahmen, die er für vernünftig und leicht zu befolgen hält: Das Kind soll nicht zu warm angezogen sein, jeden Tag seine Füße mit kaltem Wasser waschen, ausreichend schlafen, weite Kinderkleider tragen, die es nicht einengen, sich viel in frischer Luft aufhalten und körperlich bewegen, eine naturgemäße einfache Nahrung mit wenig Fleisch zu sich nehmen und auf alkoholische Getränke, auch unnötige Medikamente, möglichst verzichten.

Neben der körperlichen Ertüchtigung gilt es auch den Geist (mind) «in die richtige Verfassung zu bringen, so daß er bei allen Anlässen geneigt ist, nur dem zuzustimmen, was der Würde und dem hohen Rang eines vernunftbegabten Wesens angemessen ist».[65] Locke kann dabei direkt beobachten und verwirklichen, was er zur gleichen Zeit als mentales Entwicklungsmodell entwirft. Seine philosophische Skizze vom Sommer 1671 über das, «was ich über den menschlichen Verstand...

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