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E-Book

Aus Asklepios' Werkstatt

Vollständige Ausgabe

AutorKarl Ludwig Schleich
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl193 Seiten
ISBN9783849635343
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Carl Ludwig Schleich war ein deutscher Chirurg und Schriftsteller. In diesem Werk veröffentlichte er eine Anzahl von Plaudereien über Gesundheit und Krankheit: Die medizinische Wissenschaft und was sie leistet Professor Carrel und die Zelle Freunde und Feinde des Lebens Was ist Krankheit? Was ist Neurasthenie? Vom Rhythmus der Epidemien Ernährung Von den Reparatur- und Flickanstalten der Natur Vom Herzen Kriege und Siege im Innern des Leibes Der 'Andere' im Ich Vom Schmerze Der Ätherwellen dunkles Licht und ihre Segel Von unsichtbaren Strahlen Von den Drüsen Überempfindlichkeiten Toleranz Genüsse Selbstvergiftung Die Seekrankheiten u.v.a.

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Leseprobe

Von den Drüsen


 


Wenn wir Mediziner in Anbetracht unserer Überzeugung, daß ein nach menschlichem Sinne gerechtes oder moralisches Walten der Naturgesetze sich schwer nachweisen läßt, den alten Menschheitsfluch, »daß die Sünden der Väter sich fortpflanzen bis ins dritte und vierte Glied«, etwas modifizieren dürften, so müßte er lauten: »Es gibt krankhafte Anlagen, die oft erst in der dritten oder vierten Generation erlöschen!« Zu den unseren Familienmüttern und Großmüttern geläufigsten Erbübeln, die sie mit einer gewissen Beruhigung bei Kind, Kindeskind und Urenkeln in gleicher Weise auftreten und später gänzlich schwinden sehen, gehören die berüchtigten »Drüsen«. »Mein Kind hat dieselben Drüsen wie alle seine Geschwister in dem Alter, dieselben, wie ich selbst sie und meine Geschwister als Kinder auch gehabt haben, das sind echt Xsche Drüsen« (unter Nennung des Geburtsnamens) – so haben viele Mütter mir ihre kleinen, blassen Sprößlinge mit der schwächlichen Konstitution, der leicht gedunsenen Haut und den meist großen, wehmütigen Augen, deren Weißes leicht bläulich schimmert, vorgestellt. Da so eine besorgte Mutter die ehrliche Frage daranknüpfte: »Was sind eigentlich Drüsen?« ehrlich, weil zwar viele die Drüsenkrankheit im Munde führen, wenige aber damit irgendwelche stichhaltigen Begriffe verbinden, will ich an dieser Stelle die etwas ausführlichere Antwort geben. Wir haben zweierlei Drüsen im Leibe: solche, die einen Ausführungsgang für die in ihnen produzierten Säfte besitzen – denn alle Drüsen sind Heinzelmannwerkstätten für allerhand lebenswichtige Betriebsmaterialien der Körperfunktionen – und solche Drüsen, die ihre Produkte direkt in das Blut überführen. Erstere, wie die Leber, die Nieren, die Haut, die Speichel- und Pankreas- und Milchdrüsen, fabrizieren Säfte, die auf Höhlen und Flächen des Leibes, also eigentlich aus ihm hinausgelangen, die anderen, die Lymphdrüsen, die Milz, die Schilddrüse, die Zirbeldrüse, die Nebennieren hingegen bilden Betriebsstoffe, die dem Körper einzuverleiben sind. Man kann also die Drüsen in zwei Gruppen teilen: die ihre Säfte ausscheidenden und die ihre Produkte einverleibenden. Zu den letzteren gehören die meist dem Laien allein bekannten Drüsen, z. B. des Halses, des Rachens, der Achselhöhle, der Schenkelfalten. Sie sind Lymphe produzierende Knötchen, die an bestimmten, anatomisch konstanten Stellen dem großen weißen Blutkanalsystem eingelagert sind. Neben dem allen bekannten Blutadersystem durchsetzen nämlich den Körper auch ebenso zahlreiche kleinere Adern von helleren Lymphsträngen, die dem Laien erst durch ihre Entzündung, z. B. am Vorderarm, als lange rote Streifen (Lymphstrangentzündung) bemerkbar werden. Lymphdrüsen sind Sammelstellen und Produktionsstätten der weißen Blutkörperchen, die als Bakterienfresser durch einen der hervorragendsten Mediziner, Professor Metschnikoff vom Pasteurinstitut in Paris, eine ungeheure Bedeutung erlangt haben. Diese weißen Blutkörperchen bilden recht eigentlich eine Kampfarmee des Leibes, eine mikroliliputanische Art von Strompolizei, die überall erscheint in ungezählten Regimentern, wo es im Leibe etwas zu verhaften, zu vernichten, unschädlich zu machen gibt, wie z. B. die verbrecherischen Bakterien, die aber auch kleine Baumeister, Reparaturbeamte, Verlöter, Risseflicker, Ritzstopfer und Heilgeisterchen, d. h. das eigentliche Sanitätskorps der Körperrepublik darstellen. Hat doch Metschnikoff die kühne Ansicht ausgesprochen, daß wir mit einem genügenden Nachschub und einer ununterbrochenen Mobilmachung dieser Armee von kleinen Gesundheitshelden eigentlich unsterblich sein müßten und daß das Sterben nur wegen unserer Vernachlässigung dieser Armeereorganisation nichts sei als eine schlechte Gewohnheit der Menschen. Werden nach ihm doch die Schildkröten im Vollbesitz einer unerschöpflichen Hilfsquelle von diesen Leucozyten genannten Lebenskämpfern bis zu 800 Jahre alt. In der Tat, in gewissem Sinne ist die Schlagfertigkeit, Angriffslust und numerische Stärke dieser winzigen Truppe das Element der Widerstandskraft und Genesung; und wenn wir nun sehen, daß im Kampfe gegen eine mitgeborene oder erworbene Schädlichkeit, wie z. B. gegen den Tuberkelbazillus, die Drüsenknoten anschwellen, d. h. eine ungeheure Überzahl von weißen Blutkörperchen produzieren, so ist das in vielen Fällen ein durchaus dem Schutze des Individuums dienender Faktor. Daraus müssen wir den frappierenden Schluß ziehen, daß also die berüchtigten Drüsen Schutzwälle sind gegen Gefahren und daß es also fehlerhaft wäre, jede Drüse als eine sofort mit dem Messer zu entfernende Schädlichkeit anzuschauen. Die sogenannte skrofulöse Schwellung der Halsdrüsen ist also der Ausdruck der abgefangenen Tuberkelbazillen, und die Skrofulose ist die Abwehrmaßregel des Körpers, mittels deren er im Kampfe mit der Tuberkulose siegreich bleiben kann. Sie ist eine sich in den Drüsen abspielende Tuberkulose, die meist auch in ihnen überwunden wird. Mit jeder Lymphdrüse also, die ich operativ entferne, reiße ich einen Schutzdamm ein, und der moderne Operateur muß es sich dreimal überlegen, einen solchen Filter für Krankheitsstoffe zu entfernen. Erst wenn er durch Überschwemmung mit feindlichem Material unbrauchbar geworden ist, muß er fallen, aber nicht einen Augenblick früher. Mir sind drei Fälle von Ärzten bekannt, die wegen Fingerinfektionen sich allzu eilig den ganzen Lymphapparat der betreffenden Achselhöhle entfernen ließen und die nach einer erneuten Infektion an demselben Arm ganz rapid an Blutvergiftung starben, weil ihnen der schützende Filter in der Achselhöhle fortgenommen war. In gewissem Sinne also sind Drüsenschwellungen heilende Vorgänge, ähnlich wie etwa das Fieber ein heilender Faktor ist und in vielen Fällen nicht ohne Schaden bekämpft wird. Die natürlichen Widerstände des Körpers zu heben und zu unterstützen ist ja die Hauptfunktion jedes denkenden Arztes, und wie bei den »Drüsen« ist das Symptom sehr häufig ein Beweis der regulären Selbsthilfe der Natur. Ein Kind, das an skrofulösen Drüsen leidet, muß also als ein Wesen betrachtet werden, das in der Bildung von weißen Blutzellen unterstützt werden muß. Metschnikoff hat hierzu selbst die Jogurtmilch empfohlen (ein durch eine spezifische Hefegärung gebildetes Präparat), welches nach meinen Erfahrungen ganz ausgezeichnet wirkt, weil es nach mikroskopischen Kontrolluntersuchungen die weißen Blutkörperchen vermehrt. Ich selbst habe gefunden, daß Jodkalium und gewisse Quecksilberpräparate in gleichem Sinne wirken, und es steht außer Frage, daß der berühmte Lebertran in dem Maße Skrofeln heilt, als er durch Inanspruchnahme von weißen Blutkörperchen zu seiner Einverleibung in den Körper zu einer vermehrten Produktion von weißen Schutzzellen führt. Die örtliche Applikation von Salben über den Drüsen dient dem gleichen Zweck, sie reizt die Bildungsstätten der Drüsenzellen zur vermehrten Ansammlung dieser kleinsten Vorposten der Gesundheit, die als Träger so vieler Wunder von uns Ärzten eigentlich wie kleine Heilige verehrt werden müßten.

 

Überempfindlichkeiten


 


Bei den von uns schon besprochenen Bestrebungen, mittels Einspritzungen von vorbehandeltem Serum verschiedener Tierindividuen (meist Pferdeserum) den erkrankten menschlichen Organismus zu retten oder ihn gegen bestimmte Bakteriengifte unempfindlich (immun) zu machen, ist man auf eine Erscheinung gestoßen, die sehr viel Ähnlichkeit hat mit dem, was man persönliche Empfindlichkeit gegen bestimmte Stoffe nennt. Idiosynkrasie heißt diese eigentümliche Wirkung von belebten und unbelebten Individuen aufeinander. Eine Art widerstandslosen, teils hypnotischen, teils rein körperlich-giftigen Verfallenseins an die rätselhafte Beherrschung durch Individuen oder Stoffe ist das Wesen der Idiosynkrasie. Sie ist durchaus nicht nur körperlich, wie z. B. die Empfindlichkeit einzelner Menschen gegen die Pollenkörner des Heues (Heufieber), sondern es gibt auch geistige Idiosynkrasien, die ebenso interessant sind wie die körperlichen Überempfindlichkeiten. Die märchenhafte, blitzartig auslösbare psychische Angst der Frauen vor Mäusen z. B., die Abneigung gewisser Menschen gegen andere, manchmal gegen ganz harmlose Tiere wie Schildkröten, junge Katzen, Eidechsen – ganz abgesehen von der berechtigten Scheu vor gefährlicheren Tierindividuen wie Schlangen, Wespen, Hunden usw. –, ferner jene erworbene Gleichgültigkeit, die sich bis zur Idiosynkrasie steigern kann, die in der Ehe so oft zu tragischen Konflikten führt, ist scheinbar unerklärbar, und doch wird sie verständlich, wenn wir annehmen, daß auch ihr eine vielleicht in den seelischen Testamenten der Vergangenheit aufbewahrte Erinnerung unserer Vorfahren an furchtbare Ereignisse zugrunde liegt. Gab es doch Zeiten, wo das Erscheinen einer ersten Maus oder Ratte mit Sicherheit Tod und Verderben bedeutete, weil sie das Herannahen von Tausenden von Nagerzügen ankündigte, deren zermahlendem Gebiß alles zum Opfer fiel, was den Frieden eines stillen Hofes ausmachte. Warum soll eine solche Erinnerung an die schrecklichen Einbrüche einer Millionenarmee von Wandermäusen und Wanderratten (Lemminge) nicht aufbewahrt sein als eine dunkle Ahnung von Gefahr, die eben den Instinkt der Abneigung, die Idiosynkrasie, als einen Mechanismus der Erinnerung lichtvoll erhellt? Kann mir jemand eine bessere Erklärung geben für das rätselhafte Entzücken des Spaniers bei den brutalen, jedem andersrassigen Menschen abscheulich dünkenden Massaker der Stierkämpfe als die Annahme, daß auch hier ein uralter, seelentestamentlich eingewurzelter Haß des geborenen Spaniers, ein nach Stierblut...

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