Stammsitz unserer Familie
Meine ersten 37 Jahre lebte ich in Lößnig, wo ich am 12. November 1947 zur Welt kam. Lößnig ist ein südlicher Stadtteil von Leipzig, dessen Bebauung durch die fortschrittlich konzipierten Mehrfamilienhäuser der Dreißigerjahre geprägt ist.
Unsere Wohnung in der ehemaligen Küstnerstraße 3, im ersten Stock links, war so etwas wie der Stammsitz unserer Familie. Vier Generationen haben hier von 1933 bis 1984 gelebt. Meine Großeltern zogen als Erstmieter in das in den Dreißigerjahren errichtete Haus. Für damalige Verhältnisse war die Vierzimmerwohnung mit Balkon, eigenem Bad und Innentoilette unheimlich modern. Selbst 1961 noch verfügten in der DDR nur 22% der Wohnungen über ein Bad oder eine Dusche, nur ein Drittel besaß eine Toilette innerhalb der Wohnung. So bot unsere Wohnung für DDR-Verhältnisse, im Angesicht von Plattenbauten und nicht modernisierten Altbauten, auch zu meiner Zeit noch gehobenen Wohnkomfort.
Mein Großvater Richard Daunke stammte aus Ostpreußen und zog als gelernter Buchdrucker auf Wanderschaft Richtung Leipzig. In Nossen, einem hübschen, an der Elbe gelegenen Ort zwischen Dresden und Leipzig, lernte er seine spätere Frau Hedwig kennen. Beide bekamen zwei Kinder: Rudolf, der später mit seiner Familie nach Laußnitz in die Nähe von Dresden zog, und Irmgard, meine Mutter, die 1947 Theodor Wagner, meinen Vater, heiratete.
In meinen Akten heißen die Großeltern übrigens nicht Daunke, sondern Saumka. Da die meisten Berichte der Stasimitarbeiter mit Hand geschrieben wurden, scheint es sich um einen Übertragungsfehler zu handeln.
Nach dem Auszug meines Onkels und der Hochzeit meiner Mutter wohnten meine Großeltern, meine Eltern und ich in dieser Vierzimmerwohnung. Das größte Zimmer verfügte über eine Fläche von 18 m2 und wurde als Schlafzimmer genutzt, das Wohnzimmer hatte 17,5 m2 und die beiden Kinderzimmer je 11 m2. Außerdem gab es eine kleine Küche, ein Bad und einen langen Korridor. Die Wohnung war mit 64 m2 nicht besonders groß, garantierte aber mit ihren vier abgeschlossenen Zimmern zwischen 11 und 18 m2 ein ziemlich unkompliziertes Zusammenleben der verschiedenen Generationen.
Weihnachten in unserer Wohnung, meine Großeltern rechts am Tisch
Meine Großeltern, Mutti und ihr Verlobter
Meine Großeltern, Mutti und ihr Verlobter (er fiel als Soldat in Russland)
Die Großeltern anläßlich ihrer Silberhochzeit
Als ich zwei Jahre alt war, ließen sich meine Eltern scheiden. Meine Mutter ging den ganzen Tag arbeiten, während ich von meinen Großeltern verwöhnt wurde. Sie gaben mir viele Freiheiten.
Mein Großvater nannte mich liebevoll „Guste“, was später unfreiwillig zu Problemen führte. Freunde und Kollegen benutzten diesen Namen ebenso und dadurch tauchte er natürlich auch in meinen Stasiakten auf. Bis zuletzt hat die Staatssicherheit vergeblich gegrübelt, welcher Geheimcode sich wohl hinter „Guste“ verbergen könne.
In unserem Wohnblock lebten zahlreiche Kinder in meinem Alter. Wir liefen Rollschuhe, bauten im Sandkasten hohe Burgen und ließen Murmeln kullern, spielten auf der Straße Himmelhuppe, im Hof Federball und Volleyball sowie Verstecken in den eigentlich abgesperrten Ruinen der zerbombten Häuser der Umgebung.
Wenn in unserem Hof der Leierkastenmann Musik machte, warfen meine Großeltern immer einen Groschen, 10 Pfennige, für ihn aus dem Fenster. Ebenso regelmäßig erschien der Scherenschleifer, dem ich dann unsere Messer und Scheren brachte und zusah, wie er diese auf seinem Wägelchen wieder scharf schliff. Er lötete auch die Töpfe, die durch das Kochen auf dem Gas ein Loch bekommen hatten.
Aus einem unserer Fenster Richtung Hof hängte mein Großvater zweimal in der Woche eine weiße Fahne und signalisierte damit den Bewohnern vom Sigebandweg, dass der Eismann in unserer Straße auf Kunden wartete. Bei ihm kaufte man für einen Groschen Kühleis, das in ein Fach des Eisschranks gelegt wurde, wo es langsam vor sich hin schmolz. Dabei musste regelmäßig kontrolliert werden, dass der Wasserauffangbehälter nicht überlief.
Mutti und Großvati mit mir
Meine Großeltern bei ihrer Goldenen Hochzeit
Jedes Zimmer wurde von einem Kohleofen geheizt. Da mein Großvater bis 1949 im Braunkohlekombinat Böhlen gearbeitet hatte, standen ihm kostenlose Deputatkohlen zu, die es für die Angestellten gab. Davon haben wir sogar noch einige Hausbewohner mitversorgt, denn wir bekamen solche Unmengen, dass wir sie wir gar nicht alle selbst verfeuern konnten. Wir mussten die Kohlen allerdings am Bayerischen Bahnhof abholen, der vier Kilometer von unserer Wohnung entfernt lag. Auf dem Hinweg zog mich mein Großvater in dem kleinen Leiterwagen, auf dem Rückweg schob ich den mit den Kohlesäcken beladenen Wagen. Diese Strecke sind wir mehrmals am Tag gelaufen.
Wasser konntest du so viel verbrauchen, wie du wolltest, deshalb wurde es auch regelrecht verschwendet. Es war in unbegrenzter Menge in der Miete enthalten, die um die 64 Mark betrug. Die ersten Häuser mit Zentralheizung in Grünau oder bei uns in Lößnig waren immer schön warm. Wenn das Heizkraftwerk „dachte“, es ist kalt genug, dann wurde geheizt und die Leute rissen die Fenster auf, wenn es ihnen zu warm wurde. Denn abstellen konnte man die Heizungen nicht, sie besaßen kein Ventil. Aus diesem Staat konnte einfach nichts werden.
Seit der Scheidung meiner Eltern lebten wir zu viert in unserer Vierzimmerwohnung: meine Großeltern, meine Mutter und ich.
Anfang der Fünfzigerjahre stand den DDR-Bürgern nur die halbe Menge an Fleisch und Fett verglichen mit der Vorkriegszeit zur Verfügung. Selbst Gemüse und Obst wurden nicht ausreichend produziert. Vor den Geschäften bildeten sich lange Schlangen. Oft hat Mutti erzählt, dass sie vor dem Krieg wirtschaftlich eine bessere Zeit erlebt hatte.
Butter und Milch wurden in meiner Kindheit noch lose verkauft wie auch Sauerkraut aus dem Fass, das in Zeitungspapier eingewickelt wurde. Ich kann mich noch erinnern, dass ich mit Lebensmittelmarken loszog. Die „Lebensmittelkarten” wurden erst dreizehn Jahre nach Kriegsende, am 29. Mai 1958, in der ganzen DDR abgeschafft. Die Versorgungslage blieb lange Jahre angespannt. Die für 1950 angestrebten 2600 kcal pro Tag und Kopf wurden mit 2000 kcal deutlich unterschritten. Das Angebot an Fisch und Fleisch lag unter dem Vorkriegsniveau.
Die Generation meiner Mutter hat wirklich gelitten. Alle zwischen 1900 und 1920 Geborenen sind wirklich arg dran gewesen. Auch nach der Wende. Denn da waren sie bereits so alt, dass sie kaum noch etwas von der neuen Freiheit hatten. Die hat’s wirklich hart getroffen. Dieses ganze Leid spiegelte sich im Gesichtsausdruck vieler wieder – dem Spiegel der Seele. Es hieß zwar immer, der Westen beute aus. Aber richtig ausgebeutet wurden die Leute in der DDR.
Nach dem Tod meiner Großmutter lebten wir nur noch zu dritt in unserer Wohnung, bevor wir durch meine Heirat und die Geburt unserer beiden Kinder wieder auf sechs Personen anwuchsen. In der DDR war es völlig normal, dass die verschiedenen Generationen auf engstem Raum zusammenwohnten.
Als ich Anfang März 1969 von einem sechswöchigen Seminar aus Berlin zurückkam und unser Haus betreten wollte, hatte sich die erleuchtete Hausnummer geändert: Nicht mehr die Nummer 3 hängte dort, sondern die 35. Ich ging zwei Hauseingänge zurück bis zum Anfang unseres Blocks, schaute auf das Straßenschild und las in weißer Schrift auf blauer Emaille „Liechtensteinstraße”! Zunächst dachte ich: Jetzt bist du ganz verrückt! Tausendmal läuft man denselben Weg – und dann steht da ein anderer Straßenname. Ich näherte mich wieder dem Hauseingang, mein Name hing noch an der Tür, also wohnte ich noch dort. Während der kurzen Zeit, die ich in Berlin gewesen war, hatte man die Straße umbenannt und die Häuser neu nummeriert. Eine Begründung für diese am 21. Januar 1969 durchgeführte Aktion gab es ebenso wenig wie eine Ankündigung. Vielleicht waren der Post die Irrläufer zwischen der Kästner-Straße, in der sich das Untersuchungsgefängnis für Kriminelle befand, und unserer Küstnerstraße, einfach zu viele gewesen.
Küstnerstraße 3 in den Dreißigerjahren
Heutige Bilder der Liechtensteinstraße 35
Es war übrigens keine finanzielle Frage, dass wir alle zusammen in einer Wohnung lebten – der herrschende Wohnungsmangel ließ uns, wie vielen anderen DDR-Bürgern, keine andere Wahl. Du hast einfach keine Wohnungen bekommen. Im Durchschnitt dauerte es 10 bis 15 Jahre. Um eine eigene Wohnung zugewiesen zu bekommen, musste man sich beim Wohnungsamt anmelden und entweder verheiratet sein, Kinder haben oder in einer Wohnungsbaugesellschaft Mitglied sein und Aufbaustunden...