Emil Schumacher
Der tägliche Weg vom Hagener Hauptbahnhof zu unserem Gymnasium durch die von Trümmern noch nicht völlig freigeräumten Straßen bot uns jungen Leuten Gelegenheit zu lebhaften Gesprächen über dies und das. Die Moderne, die wir 1949 entdeckten, wurde zu einem unserer Hauptthemen.
Einer meiner Weggenossen wusste, dass es in unserer Stadt einen bemerkenswerten Maler gäbe. Er werde seit Längerem von Dr. Fritz Breuer, einem angesehenen Chirurgen, geschätzt und gefördert. Meine Neugier auf einen Künstler von Rang ließ sich leicht befriedigen, bald war ich mit Fritz (Werner) Breuer, dem Sohn des Sammlers, bestens befreundet; wir besuchten, um zwei Jahrgänge getrennt, dieselbe Schule mit ihren kleinen Klassen, in denen Latein und Griechisch vor Englisch und Französisch unterrichtet wurde; alle Schüler der Oberklassen kannten sich mithin gut.
Die erste Begegnung mit einem Künstler war ein Besuch in dem Atelier von Emil Schumacher. Der Maler, der von der Mitte der fünfziger Jahre an einen stetig wachsenden internationalen Zuspruch erfahren und in vielen europäischen Ländern, in Südamerika wie auch in Japan mit zahlreichen Preisen geehrt werden sollte, war zu jener Zeit nur wenigen Kennern in Hagen und einigen Eingeweihten im Ruhrgebiet bekannt. Schumacher hatte als junger Künstler von vierundzwanzig Jahren noch den 87-jährigen Christian Rohlfs kennengelernt, der sich vor der Nazi-Barbarei in sein Atelier des ehemaligen Hagener Folkwang-Museums zurückgezogen hatte; heute steht in seiner unmittelbaren Nachbarschaft das Emil Schumacher Museum.
Eine Beeinträchtigung des Hörvermögens hatte Schumacher vor dem Einzug zum Militär bewahrt. Jetzt wohnte und malte er in einem von seinem Vater geerbten kleinen Haus eines tristen Hagener Vororts. Hier blieb er sein Leben lang, den Raum nur bescheiden um ein Schwimmbad in einem schöner gewordenen Garten erweiternd. Damals befanden sich in diesem Hinterhof ein Küchengarten und kleine Taubenställe, wie in vielen Arbeiterhäusern des Ruhrgebiets.
Hier hatte Schumacher, von der Entwicklung der Kunst in der Welt zwölf Jahre lang isoliert, seine dem Gegenstand verpflichteten Bilder gemalt, für die es allenfalls bei den Holz- und Linolschnitten gewisse Vorstufen in der Graphik des Expressionismus gab. Der Maler führte seinen eigenen Dialog mit dieser einfachen Welt. Aus seinen frühen Bildern sprechen eine herbe Poesie, abseits alles Literarischen, eine unbekümmerte Freiheit des Darstellungsmodus mit lebendigen Lineaturen und verhaltenen Farbklängen. Die Poesie als Flucht in die Freiheit aus der Einengung durch die Realität, die Poesie als Rettung des Ich – sie bestimmt das Selbstverständnis Ostasiens, wo Emil Schumacher Jahrzehnte später auf besonderes Verständnis treffen sollte. Doch den fernen Wahlverwandten war der junge Maler nicht begegnet, er hatte nur den alten Rohlfs kennengelernt. In dessen Zeichnungen der letzten Lebensjahre finden sich erstaunliche Vorgriffe über den Expressionismus hinaus, zukünftige Darstellungsmodalitäten vorwegnehmend. Mit heutigen Augen erkennt man manche Gemeinsamkeiten zwischen dem alten Rohlfs und dem jungen Schumacher. Die Kunstgeschichte behauptet ihre Kontinuität gelegentlich nur durch eine einzige Begegnung abseits des Mainstream, so auch im Fall von Rohlfs und Schumacher.
Ein alter Küchenherd, einige bunte Konservendosen, eine im Herbst verlassene Gartenbank, vor sich hin rostende Ackermaschinen wie ein Roder, solche einfachen Gegenstände aus dem Alltag genügten Emil Schumacher für Bilder, die außer seiner Frau Ulla und einer Handvoll Hagener Sammler sowie der spröden, ungemein verdienstvollen Hagener Museumsdirektorin Hertha Hesse-Frielinghaus kaum jemand sah. Schumacher malte sie wie ein Kalligraph, mit Farben, die den Koloristen mit Sinn für dunkle wie helle und heftige Klänge zu erkennen gaben. Gegenüber einer desolaten Gegenwart galt ihm eine zeitlose Welt als Parameter, die sich wenig verändernde Alltäglichkeit ebenso wie die Beschäftigung mit dem sumerisch-babylonischen Gilgamesch-Epos. Ohne Kenntnis von Baumeisters Zeichnungs-Zyklus zu Gilgamesch, der gegen Kriegsende entstanden und noch unbekannt war, schnitt Schumacher nur wenig später Illustrationen hierzu in Linoleum und Holz. Er malte einen Stausee der Ruhr wie ein Gewässer der Urzeit, verwandelte die nächtlichen Feuerreflexe der Hüttenwerke in Milchstraßenmagie. Als nach 1980 wieder eine an Höhlenmalereien erinnernde Zeichenwelt in Schumachers Bildern und Blättern auftauchte, als kurz vor seinem Tod die in Israel edierten Blätter zur Genesis entstanden, rückten manche der späten Arbeiten auf einer neuen Ebene in eine erkennbare Nähe zum Frühwerk; sie belegen, wie homogen das gesamte Œuvre über sechs Jahrzehnte hinweg blieb.
Als ich 1949 Emil Schumacher kennenlernte, stand dieser Prozess des Aufgebens von Erreichtem, von Neuanfang und Synthese noch bevor. Die Bilder spiegelten zeichenhaft, aber leicht ablesbar, einen Lebensraum, der dem eines Arbeiters glich und in den wenig von außen hereindrang.
Schumacher sprach lebendig und ohne erkennbare Scheu, sich mitzuteilen, aber er machte meist nur einfache Aussagen; so blieb es auch in der Zeit seines Weltruhms. Was ihn bewegte, schrieb er gelegentlich in Aphorismen nieder, auf eine poetische Weise die Quintessenz seines Selbstverständnisses in Worte fassend. Wenn er ein Interview gab, sprach er lieber über Handfestes als über eine simplifizierende Deutung seiner Bilder. Über die Werke anderer Künstler urteilte er zurückhaltend, es sei denn, ihre niedrige Qualität stellte sie außer Diskussion, und dann blieben sie für ihn ohne Interesse.
Zur Erinnerung an meinen Besuch erhielt ich von Emil Schumacher – als mein erstes Kunstwerk – eine Lithographie geschenkt; sie zeigt Tauben in einem Käfig, eine Hommage an jene Brieftauben, die mancher Kumpel und Hüttenarbeiter von seiner Dachluke aus als gefiederte Boten in die Welt schickte. Auf dem Blatt vom Oktober 1949 ist ihnen durch die Käfigstäbe dieser Flug in die Welt noch verwehrt – ein Gleichnis von Schumachers Situation in der Mitte seines Lebens.
Der Maler fand seine ersten Sammler in Hagen. Zu ihnen gehörte an vorderster Stelle der Vater meines Freundes, Dr. Fritz Breuer, Chirurg, ein bemerkenswerter, allseitig gebildeter, bei allem bürgerlichen Habitus völlig unkonventioneller Mann. Seine in ästhetischen, vor allem literarischen Fragen ungemein sichere Frau Maria verband Bestimmtheit mit bezauberndem Charme. Im Haus der Breuers begegnete man stets inspirierenden Zeitgenossen, die als Vortragsgäste nach Hagen kamen. Ich erinnere mich neben vielen anderen an Fedor Stepun, der als Mitglied der Kerensky-Regierung 1922 Lenin entkommen war und an der Münchner Universität russische Geistesgeschichte lehrte. Wie auch seine Frau von respektabler Körperfülle, beobachtete er einen anderen, schlanken Gast, der eine der damals schicken Zigarettenspitzen mit langem Mundstück und scheibenförmigem Halter für den senkrecht darin aufragenden Glimmstängel zwischen seinen Lippen balancierte. Stepun fragte mit seiner gedehnten russischen Intonation: »Herr Dooktor, was haben Sie da für eine Bettpfanne im Mund?« Auf die eloquente Erklärung hin, wie gesund gerade dieses Filtersystem sei, schaute der Fragesteller nachdenklich seine Frau an und sagte: »Natascha, Genuuss mit Soorge – was ist daas?«
Gäste im Breuer’schen Haus sahen meist neue Bilder und Blätter Schumachers, der mit seiner Frau Ulla regelmäßig zu Besuch kam. Nicht wenige davon wurden an die Gastgeber und deren Freunde verkauft, für den Maler eine wirksame Hilfe. Sobald es die Umstände erlaubten, bauten Fritz und Maria Breuer wieder eine private Sammlung auf; die erste war mitsamt dem Haus während eines Bombenangriffs verbrannt. Werke Emil Schumachers bildeten zunächst die weitaus wichtigste Gruppe, bald sollten Bilder von Baumeister, Bronzen und Zeichnungen von Moore und Marini, Druckgraphik von Picasso folgen. Der Hagener Maler, gerade vierzig Jahre alt, sah sich bald in bester Gesellschaft.
Mein Freund Fritz Werner und ich waren durch diese in einem Ort wie Hagen sonst kaum anzutreffende geistige Umgebung angeregt. Wir malten und zeichneten, was uns begeisterte – Blätter, in denen die uns bekannte Moderne sich spiegelte. An unserem Gymnasium wirkten diese Exerzitien wie eine Revolte gegen den obligaten Zeichenunterricht, sie machten Furore und wurden deshalb als Ausstellung an den Pinnwänden des Zeichensaals befestigt, von Schülern und einigen Lehrern bestaunt. Aber es gab auch einen Besucher von draußen. Wir durften uns – nicht ohne heimlichen Stolz – sagen, dass wir zwar außer Lehrern und Mitschülern nur einen Besucher hatten, aber dieser einzige Besucher war Emil Schumacher. Mit freundlichem Gleichmut sah er sich die dicht behängten Wände an. Allerdings war mir die Güte unserer Produktion schnell bewusst; ich verschenkte alle meine Blätter zum Abitur an Lehrer und Schulfreunde.
Schumacher gehörte zu der von ihm mitbegründeten Gruppe »Junger...